Von Dr. Rudolf Kutschera.
In den 2019 erschienenen Erinnerungen an ihre Kindheit („Unveiled“) im arabisch-muslimischen Milieu Kanadas beschreibt die Publizistin Yasmine Mohammed den „durchdringenden Hass auf das jüdische Volk – man lernt das von klein auf. In muslimischen Gemeinschaften wird das Wort für Jude nicht nur als Schimpfwort gebraucht, sondern als regelrechter Fluch. Es ist ein Hass, der so durchdringend ist, dass man ihn nicht erkennen kann: Er ist einfach allgegenwärtig. Als Muslimin habe ich niemals innegehalten, um darüber nachzudenken, warum wir das jüdische Volk so sehr hassen sollten … Es ist, wie wenn man ein Kind fragen würde, warum es keine Monster mag. Es ist einfach ein angelerntes Verhalten, das kaum infrage gestellt wird, und der Hass auf Israel ist seine Fortsetzung.“ (1)
Einer der zahlreichen Versuche, auch Christen dafür zu gewinnen, fand während des Besuches von Papst Benedikt XVI. am 11. Mai 2009 in Jerusalem statt. Der oberste islamische Richter der Palästinensischen Autonomiebehörde, Scheich Taysir Rajab, rief damals in Anwesenheit des Papstes die Christen dazu auf, sich mit den Muslimen gegen die, wie er sagte, „mörderischen“ Juden zusammenzuschließen. (2)
Sind das Einzelfälle, die gar nicht erwähnt werden sollten, weil es zahlreiche Momente friedlicher Koexistenz in Vergangenheit und Gegenwart durchaus gegeben hat? Wer wagt einen unverstellten Blick? Dieser muss danach fragen, in welcher Weise der real existierende muslimische Antijudaismus (3) auch mit dem zentralen Text des Islam, dem Koran, zu tun hat. Der reflexartig gebrachte Verweis auf den Nahostkonflikt greift eindeutig zu kurz.
„Und deshalb schrieben Wir den Kindern Israel dies vor“
Der häufig als Beweis für die Friedensliebe des Islam angeführte (4) Vers 32 aus der 5. Sure des Koran verweist exemplarisch auf das Problem, denn es heißt dort: „Wenn jemand einen Menschen tötet […], so ist’s, als töte er die Menschen allesamt. Wenn aber jemand einem Menschen das Leben bewahrt, so ist’s, als würde er das Leben aller Menschen bewahren.“ (5) Der Koran legt dieses fast wörtliche Zitat aus dem Talmud (6) Allah in den Mund, der diesen Surenvers in „Wir“-Form folgendermaßen einleitet: „Und deshalb schrieben Wir den Kindern Israel dies vor“.
Dieses Zitat, das in der Tat ein hohes ethisches Niveau widerspiegelt, ist also weder eine Aufforderung an die Muslime zum Gewaltverzicht noch eine Reverenz an Israel. Ganz im Gegenteil: Der Koranvers 5,32 steht im Kontext einer der zahlreichen Mahnreden an die „Kinder Israel“, also die Juden. Deswegen folgt unmittelbar danach in Vers 5,33 eine grimmige Ankündigung: „Doch die Vergeltung derer, die gegen Allah und seinen Gesandten kämpfen […] ist, dass sie getötet oder gekreuzigt werden oder ihnen ihre Hände und Füße abgehauen werden, wechselweise rechts und links.“
Wie kommt es zu derartigen Aussagen? Die arabische Halbinsel war zum Zeitpunkt der Koranentstehung (7), also im 7./8. Jahrhundert, von unterschiedlichsten Kulturen und Religionen geprägt. Muhammad selbst sowie die von ihm gesammelte Gemeinschaft hatten davon Kenntnis. Sie kannten auch die zahlreichen Verwerfungen innerhalb dieser religiös-kulturellen Gemengelage. Der Korantext spiegelt all das wider, denn er ist keineswegs das Ergebnis einsamer Visionen eines Sehers, sondern dokumentiert die etwa 20 Jahre dauernde Entstehung der ersten muslimischen Gemeinschaft samt deren sie umgebenden Auseinandersetzungen.
Historisch ist damit an den Zeitraum zwischen 610 – nach muslimischer Tradition der Beginn von Muhammads religiöser Tätigkeit – bis zu seinem Tod als Herrscher über Mekka im Jahr 632 zu denken. Die heutige Koranforschung gibt dabei den Diskussionen sowohl innerhalb der entstehenden muslimischen Gemeinschaft als auch mit ihren Kontrahenten ein viel stärkeres Gewicht als früher, wo nur auf die persönliche Entwicklung des Muhammad geblickt wurde.
Mit biblischer Autorität ausgestattet
Der Koran ist also ein Konglomerat, das von unterschiedlichsten Texten, mündlichen Traditionen und Diskussionen geprägt ist. Darunter gibt es besonders viele biblische Erzählungen und Motive. Den Koranautoren lagen die biblischen Texte aber normalerweise nicht schriftlich vor. Sie hielten das fest, was sie zumeist mündlich, häufig akzentuiert durch jüdische oder christliche Interpretationen, in Erfahrung gebracht hatten. Diese vorgefundenen biblischen Inhalte samt deren Interpretationen wurden von Muhammad und den Koranautoren mit einer bestimmten Intention transformiert: Der „Prophet“ und die ursprüngliche muslimische Gemeinde sollte mit biblischer Autorität ausgestattet werden. Dementsprechend tragen alle biblischen Figuren im Koran Züge des Muhammad und spiegeln gleichzeitig den Diskussionsstand der frühen muslimischen Gemeinschaft wider.
Biblische Figuren im Koran wurden dabei häufig in bewusster Absetzung von den theologischen Vorstellungen von Juden und Christen gezeichnet. Dabei ist immer genau zu prüfen, ob das, was Muhammad und die Koranautoren als typisch jüdisch oder christlich wahrgenommen haben, tatsächlich jüdisch oder christlich ist! Gerade biblische Figuren treten im Koran häufig innerhalb von polemischen Argumentationen auf, was deren Bild und Aussagen verzerrt. Das lässt sich exemplarisch an den Surenversen 9,30ff. zeigen, wo den Juden vorgeworfen wird, sie hielten Uzair, das ist der biblische Esra, für den Sohn Gottes. Dieser Vorwurf enthält gravierende Missverständnisse.
Muhammad lehnte ja generell jede Vorstellung von einem „Sohn Gottes“ ab, wobei er beim Wort „Sohn“ an ein real von „Gott“ mit einer Frau gezeugtes Wesen denkt. Das ist freilich weder das, was nach christlicher Vorstellung mit Jesus als „Sohn Gottes“ gemeint ist – und schon gar nicht eine reale theologische Kategorie im Judentum. Dieser auf Missverständnissen gründende Vorwurf bezichtigt die Juden also eines ähnlichen Irrtums wie derjenige, dem nach koranischer Optik die Christen angeblich gegenüber Jesus verfallen sind.
Der historische Hintergrund für diesen Vorwurf ist vielleicht eine jüdische oder jüdisch-christliche Sekte, die Esra in besonderer Weise verehrt hat und von der Muhammad Kenntnis erlangt hat. Wahrscheinlicher aber ist, so der Koranforscher Heribert Busse, „Muhammad habe in der Hitze des Gefechts die Juden einer Irrlehre bezichtigen wollen, die an Schwere der christlichen Irrlehre von der göttlichen Natur Jesu gleichkommt; dabei konnte er an die hohe Wertschätzung, deren Esra sich im Judentum erfreute, anknüpfen.“ (8) Die Frage nach dem Antijudaismus steht im größeren Kontext der Einstellung des Koran zu den Anhängern anderer Religionen, auf die im folgenden kurz einzugehen ist.
Kernaussagen im Koran zur Pluralität der Religionen
Die Religionen und deren Anhänger erfahren im Koran unterschiedliche Bewertungen. In den Suren 2 und 5 wird etwa Juden und Christen bescheinigt, „dass ihr Glaubensbekenntnis mit dem Islam identisch ist und sie, wie die Muslime, eine Anwartschaft auf das Heil haben. Anders verhält es sich bei der Liste in Sure 22. Der Tenor ist insgesamt negativ; über die Differenzen, die zwischen ihnen [d.h. zwischen Muslimen und den Anhängern aller anderen Religionen, also auch Juden und Christen] bestehen, ‚wird Gott am Tag der Auferstehung entscheiden‘.“ (9) Die koranische Beurteilung anderer Religionen richtet sich dabei vor allem danach, wie deren Vertreter während der jeweiligen Suren-Entstehung zu Muhammad und seiner Gemeinschaft und damit zu deren Aufruf eingestellt waren, sich ihnen anzuschließen.
Den Idealzustand für die Menschheit, den es wiederherzustellen gilt, repräsentiert Adam. Er wird im Koran zu einem der Bibel entlehnten Protagonisten einer angeblich einheitlichen Ur-Religion. Dabei repräsentiert er nicht wie im biblischen Original den vom Ackerboden, auf Hebräisch adamah, genommenen Menschen. Er ist also nicht der Mensch an sich mit seinen Möglichkeiten und Gefährdungen. Im Koran wird er zum Gründer einer Gemeinschaft (umma – ein aus dem Hebräischen entlehntes Wort), die im Glauben eins war. Da diese anschließend zerbrach, sandte Gott immer wieder Propheten (unter anderem Noah, Mose, Jesus, Muhammad selbst), die diese Einheit wiederherstellen sollten.
Die Spaltung der ursprünglichen Einheitsreligion Adams, ja der Einheit des Menschengeschlechts (10) ist aus koranischer Perspektive sündhaft. Sie wird erst im islamisch dominierten „Haus des Friedens“ aufgehoben. Darunter ist eine Welt zu verstehen, die sich im Sinne Muhammads Allah unterworfen hat.
Eine weitere Erklärung für die religiöse Vielfalt liefert der Surenvers 5,48: „Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht, doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch gab. Wetteifert darum um das Gute! Euer aller Rückkehr ist zu Allah, er wird euch dann kundtun, worin ihr immer wieder uneins wart.“ Gelegentlich begründet der Koran den religiösen Pluralismus auch schlicht mit der ethnischen Vielfalt: den vielen Völkern entsprechen viele Religionen. Allerdings war diese Sicht innerislamisch offenbar umstritten. Freilich können im Koran gegensätzliche Aussagen unvermittelt nebeneinander stehen bleiben, indem auf die Allmacht Allahs verwiesen wird, so etwa im Surenvers 25,54: „Dein Herr ist voller Macht.“
Kinder Israels und Juden
Juden und Christen betrachtet der Koran als die „Leute der Schrift“, sie haben Teil an den Offenbarungen aus der himmlischen Urschrift, der „wohlbewahrten Tafel“ (Surenvers 85,22), andernorts auch „Mutter des Buches“ (Surenverse 13,39 und 43,4) genannt.
Die Anhänger der mosaischen Religion erscheinen im Koran – vor allem ab der medinischen Phase, also nach der Flucht Muhammads nach Medina – unter zwei Namen: Kinder Israels und Juden. Diese Unterscheidung wird vor allem an der Einstellung zu Jesus festgemacht. Die Spaltung zwischen Judentum und Christentum hat also die koranische Einstellung zu den Juden mitgeprägt. Somit ist auch christlicher Antijudaismus in den Koran eingeflossen. „Nach koranischer Auffassung waren die Juden nichts anderes als ungläubige Israeliten: Jesus wandte sich mit seiner Botschaft an die Kinder Israels; diese teilten sich daraufhin in zwei Gruppen, die Christen (naṣārā), die an Jesus glaubten, und andere, die nicht glaubten. Letztere hießen fortan Juden.“ (11)
Innerhalb der Lebenszeit Muhammads gab es eine Entwicklung bezüglich der Art und Weise, wie mit den Anhängern anderer Religionen zu verfahren ist. Wie im Blick auf die Phasen im Verhältnis zu den Juden noch genauer zu zeigen sein wird, werden gegen Ende seines Lebens Juden und Christen unter bestimmten Bedingungen toleriert. Polytheisten hingegen, häufig „Beigeseller“ genannt – wobei sich diese Bezeichnung auch gegen Christen und deren Trinitätslehre richten kann –, haben sich grundsätzlich zum Islam zu bekehren, denn „der rechte Weg ist klar geworden gegenüber dem Trug“ (Surenvers 2,256). Dazu ist ihnen eine Frist zu gewähren, an deren Ende der Koran die Muslime auffordert: „Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie, und lauert ihnen auf aus jedem Hinterhalt! Doch wenn sie sich bekehren, das Gebet verrichten und die Armensteuer geben, dann lasst sie laufen! Siehe, Allah ist bereit zu vergeben, barmherzig“ (Surenvers 9,5).
Die theologischen Motive für die Einstellung des Koran zu den Juden zeigen sich besonders deutlich an zwei zentralen Figuren der biblischen Heilsgeschichte: Abraham und Mose.
Dies ist der erste Teil einer vierteiligen Serie.
Teil 2 finden Sie hier.
Teil 3 finden Sie hier.
Lesen Sie morgen: Wie Abraham und Moses im Koran antijüdisch interpretiert werden.
Dr. Rudolf Kutschera (*1960), Promotion im Fach Dogmatik an der Universität Innsbruck, Tutor des Fernstudiums am Lehrstuhl für die Theologie des Volkes Gottes an der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom, Dozent an der Loyola University Chicago – Rome Center, Oberer der Gemeinschaft der Priester im Dienst an Katholischen Integrierten Gemeinden.
Quellen
(1) Aus der Online-Ausgabe der Jerusalem Post vom 18.08.2018: https://www.jpost.com/Middle-East/Ex-Muslim-to-Post-Trying-to-teach-naive-West-about-true-nature-of-Islam-598946 (Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor, letzter Zugriff am 20.08.2019).
(2) Mehr zu dieser Rede, deren Augenzeuge der Autor selbst war, unter: https://www.catholic.org/lent/story.php?id=33531 (letzter Zugriff am 20.8.2019)
(3) Es geht also um die Frage nach Antijudaismus. „Antisemitisch“ wäre als Bezeichnung unpassend, da Noachs Sohn Sem nach biblischer Genealogie Stammvater auch der Araber ist.
(4) So etwa in Erklärungen islamischer Verbände nach den Anschlägen von Paris im Jahr 2015.
(5) Da selbst in der muslimischen Welt – und in zahlreichen Online-Versionen – die unterschiedlichsten Koranübersetzungen Verwendung finden, wird auch im Folgenden aus unterschiedlichen Übersetzungen zitiert, zumeist jedoch aus den deutschen Übersetzungen von Rudi Paret oder Hartmut Bobzin.
(6) Vgl. Synhedrin 37a-37b, in: Der babylonische Talmud. Übersetzung durch Lazarus Goldsmidt (Berlin: 1903), 149f.
(7) Diverse kontrovers diskutierte Fragen zur Entstehungsgeschichte, literarischen Eigenart oder Autorenschaft des Korans können hier übergangen werden. Relevant als Quelle sunnitisch-muslimischen Glaubens – also für etwa 90 Prozent aller Muslime – ist der Endtext mit seinen 114 Suren (= Kapiteln). Das arabische Wort „Koran“ heißt übersetzt „Verlesung“ und verweist auf einen liturgischen, also gottesdienstlichen Entstehungskontext. Der Einfachheit halber wird im Folgenden zumeist Muhammad als Autor des Korans genannt, obwohl bis zur Herstellung des Endtextes eine Reihe weiterer Autoren und Redaktoren aus dem Kreis der entstehenden muslimischen Gemeinschaft beteiligt waren. Auch die zahlreichen kontroversen Fragen rund um die Biographie Muhammads können hier übergangen werden. Eine alles umstürzende Biographie Muhammads oder der Koranentstehung, wie sie in den letzten Jahrzehnten gelegentlich versucht wurde, kann nicht als gesichert gelten. Sie ist für die Frage nach dem Antijudaismus im Koran letztlich irrelevant. Eine anschauliche Einführung in die Geschichte Muhammads und die Frühgeschichte des Islam findet sich hier (letzter Zugriff am 28.7.2018).
(8) Heribert Busse, Die theologischen Beziehungen des Islams zu Judentum und Christentum (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991), 61.
(9) Busse (in: Die theologischen Beziehungen, 31f.) bezieht sich hier auf den Surenvers 22,17, in dem „diejenigen, die glauben“ den Juden, Sabiern, Christen, Zoroastriern und Polytheisten gegenübergestellt werden.
(10) Vgl. Surenvers 2,213: „Die Menschen waren eine einzige Gemeinde“.
(11) Busse, Die theologischen Beziehungen, 33.