Gastautor / 02.12.2010 / 22:58 / 0 / Seite ausdrucken

Weshalb wir alle Leibeigene sind

Von Eva Ziessler

Durch die unbemerkte Außerkraftsetzung fundamentaler Rechtsprinzipien ist der Bürger im modernen Schuldenstaat in den „Stand“ eingerückt, den der Leibeigene im Feudalismus innehatte. Oder, kurz gesagt:

Wir alle sind Leibeigene!

Was meine ich damit?—Natürlich ist diese Analogie zwischen Bürger und Leibeigenem wie alle Analogien keine hundertprozentige. Ich werde aber strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Beiden herausarbeiten, die zeigen, dass hier verborgene und deshalb überraschende Parallelen bestehen, die noch über Hayeks These in The Road to Serfdom (dtsch., Der Weg zur Knechtschaft, eigentlich besser „Leibeigenschaft“) hinausgehen; dass nämlich die Ausuferung des Sozialstaates im 20. Jahrhundert die Menschen schleichend in dieselbe Knechtschaft zwingen wird, die im Sozialismus und im Nationalsozialismus herrscht(e).

Zunächst zu den besonderen strukturellen Merkmalen der Institution der Leibeigenschaft. Es gibt drei Merkmale, die den Leibeigenen kennzeichnen:

1. Er ist rechtlich, also nach dem Gesetz, dazu verpflichtet, einen bestimmten Teil der Erzeugnisse seiner Arbeit dem Feudalherrn abzuliefern, und zwar während seiner gesamten Lebenszeit. Dabei sind ihm sowohl die Art der Arbeit als auch der Ort, an dem er zu leben hat, vorgeschrieben.
2. In diese Rechtsbeziehung zu seinem Feudalherrn tritt der Leibeigene nicht durch Vertrag ein –indem er sich etwa freiwillig dazu verpflichten würde, sondern durch seine Geburt, genauer gesagt dadurch, dass er von einer Mutter geboren wurde, die selbst schon Leibeigene ist. Dass der Leibeigene Leibeigener ist, ist also unmittelbare Rechtsfolge seiner Geburt.
3. Der Leibeigene hat nicht die Option –und zwar weder praktisch noch rechtlich-, durch autonomes Handeln seinerseits aus dem Stand der Leibeigenschaft auszutreten. Er kann nicht kündigen—weil man eben nur Verträge kündigen kann. Es gibt eine Ausnahme von der praktischen Unmöglichkeit: Er kann die riskante und unter Umständen lebensgefährliche Flucht aus dem Territorium des Lehensherrn versuchen. Da aber die angrenzenden Territorien in der Regel ebenfalls Feudalherren gehören, nützt ihm das wenig; denn er wird von allen gejagt und ggf. ausgeliefert. Nur dann, wenn er es schafft, in eine Stadt zu gelangen, wird er frei: denn das mittelalterliche Stadtrecht in Deutschland gewährte dem Leibeigenen Schutz vor Auslieferung, indem es ihn zum Bürger der Stadt erklärte. Daher stammt übrigens die schöne Redensart „Stadtluft macht frei!“. In England erlangten geflohene Serfs (von Lateinisch, Servus, Sklave) die Freiheit, wenn es ihnen gelang „Ein Jahr und einen Tag“ –a year and a day- nicht wieder eingefangen zu werden.

Jetzt werde ich erklären, wie die wiedergewonnene Einsicht in fundamentale Rechtsprinzipien der Institution der Leibeigenschaft den Garaus machte (Ich lasse hier außer Betracht, dass –praktisch gesehen-, das Ende der Leibeigenschaft, genauso wie der Sklaverei, wohl eher direkten ökonomischen Zwängen ohne unmittelbare Einsicht zu verdanken ist, da irgendwann auch der dümmste Sklavenhalter merken musste, dass die Produktivität seines Unternehmens durch die unfreie Arbeit umfassend gehemmt wird). Im Anschluß daran wird dann deutlich werden, inwiefern diese Einsicht in fundamentale Rechtsprinzipien wieder verloren gegangen ist, mit der Folge, dass wir heute die alte Leibeigenschaft in neuem Gewand haben:

Es war die Wiederentdeckung der aus der vorchristlichen griechischen und römischen Antike stammenden Idee der Gleichheit vor dem Gesetz im 17. und 18. Jahrhundert, die dazu führte, dass die Legitimationsbasis für die Institution der Leibeigenschaft allmählich wegbrach. Diese Idee, die ein wesentlicher, wenn nicht sogar der wesentliche Aspekt des Rechtsstaatsgedankens ist, geht davon aus, dass die Gleichheit jedes einzelnen Menschen vor dem Gesetz und damit auch die Gleichbehandlung jedes Einzelnen durch die staatliche Macht das unabdingbare Fundament einer freien Gesellschaft ist. Daraus folgt direkt die Unzulässigkeit, irgendwelche Rechtsfolgen an die bloßen Umstände der Geburt eines Menschen zu knüpfen, weil sich Rechtsfolgen nämlich immer nur aus –rechtlich relevanten- Handlungen eines konkreten Menschen ergeben können. Dies (also die Komponente der Handlung) ist ein ganz wichtiger Punkt—und übrigens auch der Gedanke bei der Augenbinde der Justitia: Sie urteilt ohne Ansehen der Person, und das Urteil ist immer das Resultat der konkreten Handlung irgendeines Menschen, egal ob Mann oder Frau, alt oder jung, reich oder arm. Es gibt keine Privilegien, also Vorrechte, mehr. Wenn man dieses Prinzip anerkennt, dann kommt man nicht umhin, die restlose Unvereinbarkeit des Rechtsstaates mit der Institution der Leibeigenschaft zu erkennen: Das Gleichheitsgebot verbietet es, einen Menschen qua Geburt in irgendwelche Rechtsverhältnisse und Verpflichtungen zu zwingen, sie ihm sozusagen „anzuhängen“ ohne dass er sie wieder abschütteln kann. Und dieser Punkt markiert systematisch den Übergang zum Rechtsstaat. Im Rechtsstaat, wo natürlich auch das Prinzip der Vertragsfreiheit Geltung hat, wäre es nämlich durchaus im Einklang mit dem Gleichheitsgebot, wenn ein –geschäftsfähiger- Mensch sich vertraglich einem anderen gegenüber zu einem Arbeits- und Lebensverhältnis verpflichtet, das in unseren Augen wohlmöglich große Ähnlichkeit mit der Leibeigenschaft hätte (ich denke hier an das Hauspersonal von Prominenten, die sich regelmäßig in den Medien fürchterlich beklagen, dass sie ausgebeutet würden, kein Privatleben mehr hätten, keine Beziehungen eingehen dürften, Sklavenarbeit leisten müssten, ständig den Launen ihrer Arbeitgeber ausgesetzt seien). Der entscheidende Unterschied zum Leibeigenen liegt hier (ganz abgesehen von der Kündigungsmöglichkeit) eben nicht in der inhaltlichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses, sondern in der formalen Abweichung, dass die Arbeitspflicht im einen Fall aus der –darauf gerichteten- Handlung des Menschen resultiert, im anderen aus seiner Geburt.

Also kurz gesagt:

In einem Gemeinwesen, das den Namen Rechtsstaat verdient, sind alle Rechtsfolgen ausschließlich als Folgen von Handlungen eines Menschen denkbar.

Nun zum Thema Staatsverschuldung und dem Zusammenhang mit der Leibeigenschaft:

Wenn der Staat, d.h. entweder die Bundesrepublik Deutschland direkt oder sonst irgendeine staatliche Stelle –unabhängig von deren Rechtsform- (z.B. kommunale Wasserwerke, HSH Nordbank, Airbus, Deutsche Bahn) Kredite aufnimmt oder Staatsanleihen ausgibt, also Schulden macht, dann werden alle Staatsbürger dadurch de facto zu Kreditschuldnern über die Kreditsumme plus Zinsen, die sie in den folgenden Jahren mit Anteilen der Erträge ihrer Arbeitskraft zurückzahlen müssen, und zwar in Form von Steuern und Abgaben, die der Staat mit Gewalt eintreibt. Der Eintritt in diesen Status oder „Stand“ des Schuldners ist nun aber, wie ich vorhin gezeigt haben, nicht die Folge irgendeines Handelns des Bürgers, sondern Folge eines bloßen Zufalls, nämlich des Umstandes seiner Geburt als Deutscher (Ausnahme: Erwerb der Staatsangehörigkeit, Wohnsitz in Deutschland als Ausländer). Und in genau dieser Hinsicht zeigt sich die strukturelle Analogie zwischen Bürger und Leibeigenem. Damit haben wir schon eine Übereinstimmung in zwei von drei wesentlichen Merkmalen des Leibeigenen: Genauso wie diesem wird dem Bürger durch Geburt und ohne Handlung eine rechtswirksame Leistungspflicht auferlegt. Rechtswirksam heißt hier: Die Leistung wird notfalls mit Gewalt eingefordert.

Hinsichtlich des dritten Merkmals der Leibeigenschaft, der Unmöglichkeit nämlich, sich der Situation zu entziehen, scheint der Bürger im Schuldenstaat auf den ersten Blick bessergestellt zu sein. Guckt man sich die Sache allerdings genauer an, sieht man, dass das nicht der Fall ist: Zwar kann der Bürger auswandern; da es aber wohl keinen einzigen Staat mehr gibt, der nicht in uferlosen Ausmaß Verschuldung betreibt, verbessert er sich allenfalls quantitativ gesehen, nicht aber qualitativ oder prinzipiell gesehen. Der Leibeigene wurde dagegen durch die gelungene Flucht in die Stadt wirklich frei. In dieser Hinsicht steht der Bürger im Vergleich zum Leibeigenen also nicht bloß genauso schlecht da, sondern sogar noch schlechter.

Angesichts dieses Ergebnisses könnte man natürlich auf die Idee kommen zu sagen, dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz sei doch nun wieder Geltung verschafft: Da ja im Schuldenstaat jeder Staatsbürger zum Schuldner wird, also alle quasi Leibeigene sind, sind ja auch alle vor dem Gesetz wieder gleich. Allerdings sieht es so aus. Tatsächlich aber ist nicht jeder Staatsbürger gleichermaßen Schuldner. Um das zu zeigen, werde ich den Zusammenhang zwischen Verschuldung und Pleite beschreiben. Dadurch schließt sich dann auch die bisherige Lücke in meiner Analogie: Denn das Aufzeigen struktureller Ähnlichkeiten zwischen Staatsbürger und Leibeigenem wirft ja, da alle Einwohner Staatsbürger sind, die naheliegende Frage auf, wer denn in diesem Szenario des Schuldenstaates eigentlich die Position des Feudalherrn einnimmt.

Staatsverschuldung und Staatspleite

Von allen möglichen Leuten wird uns immer wieder versichert, dass Staaten nicht pleite gehen können. Was soll das heißen? Ist das mehr als ein bloßes Postulat? Fragen wir doch erst einmal umgekehrt, warum private Unternehmer denn sehr wohl pleite gehen können:

Solange ein Unternehmer am Markt Kredite bekommen kann, wird er nicht zahlungsunfähig. Kredite bekommt er genau so lange, wie seine Kreditgeber sicher sind, dass ihre Kredite im Konkursfall in voller Höhe durch ausreichende Sachwerte im Eigentum des Unternehmers abgesichert sind (Betriebsvermögen/Anlagen; Mittel: Eigentumsvorbehalt, Sicherungsübereignung, Hypotheken etc.). Nur dann, so weiß der Kreditgeber, wird er sich im Falle des Konkurses aus der Konkursmasse befriedigen können und keinen Verlust erleiden. Ist das aus Sicht des Kreditgebers nicht mehr der Fall, gibt er keinen Kredit mehr. Der Unternehmer wird zahlungsunfähig, d.h. er ist pleite.

Was ist beim Staat anders? Weshalb sind die Kreditgeber immer bereit, ihm weiterhin Geld zur Verfügung zu stellen? Und das, obwohl der Staat ja über keinerlei Sachwerte verfügt, abgesehen vielleicht von Immobilien und Grundeigentum, das aber angesichts der Überschuldung ohnehin schon wertlos ist? (Verkauf griechischer Inseln im Staatseigentum; Jose Pinera, der ehemalige chilenische Finanzminister, schlug Mitte der 1990er Jahre vor, dass die amerikanische Bundesregierung das Grundeigentum im Westen, ca. 70% jenseits des Mississippi, verkaufen solle, um so die Umstellung auf ein kapitalgedecktes Rentensystem zu finanzieren.). Der Grund für dieses scheinbar irrationale Verhalten der Kreditgeber ist folgender: Aus ihrer Sicht sind die Bürger des Landes, bzw. deren zukünftige Arbeitserträge, eine Art Konkursmasse,  aus der sie sich für alle Zukunft werden befriedigen können. Denn sie wissen ja sehr gut, dass der Pleitestaat durch die gewaltsame Zwangsbesteuerung der Bürger die Kreditzinsen immer wird bedienen können. Es spielt also für den Kreditgeber keine Rolle, ob der Pleitestaat von Juristen als solcher bezeichnet wird oder nicht. Insofern ist die Behauptung, Staaten könnten nicht pleite gehen, -wenn sie denn stimmt- überhaupt kein Anlaß zum Jubel für die Bürger, sondern ganz im Gegenteil, die bittere Einsicht, dass sie und ihre Nachkommen in alle Ewigkeit haften müssen—und zwar für immer wieder neue und noch höher aufgetürmte Schuldenberge.

Und hierin zeigt sich noch eine weitere Parallele zwischen Leibeigenem und Staatsbürger: Sklaven und grundsätzlich auch Leibeigene galten aus juristischer Sicht als Zubehör zum Grundstück des Halters. Sie waren genau wie, sagen wir, landwirtschaftliche Gerätschaften und Milchkühe zu beurteilen, also wie Sachen. Der Feudalherr konnte sie also jederzeit mit seinem Grundstück und den anderen Sachen an einen Kreditgeber verpfänden. Der Geldwert eines Leibeigenen wurde genauso berechnet wie der einer Milchkuh: durchschnittliche Arbeitsleistung plus Arbeitsleistung seiner Nachkommen. Aus diesem Grund haben es heute diejenigen Schuldenstaaten noch leichter, Kredit zu bekommen, die über eine zahlenmäßig große, gut ausgebildete und deshalb produktive Bevölkerung verfügen. Kleine, arme und sogenannte failed states finden am Markt keine Kreditgeber; sie müssen auf den IWF und die Weltbank zurückgreifen—die selbstredend von den angeblich „reichen“ Staaten finanziert werden.

So, und wo sind nun die Feudalherren in unserem Schuldenstaatszenario?—Oder gibt es sie gar nicht—so dass wir als Bürger doch alle vor dem Gesetz gleich wären?

Nun, ich denke, die Feudalherren sind diejenigen, die in unserem Namen –also als Beauftragte des angeblichen Souveräns- die Schulden machen: die Parlamentarier. Aber, so könnte man einwenden: Auch sie zahlen doch Steuern und Abgaben! Das stimmt zwar; da die Abgeordneten aber für sich selbst die Höhe der Bruttodiäten festsetzen, bleiben die von ihnen zu zahlenden Steuern ein reiner Buchhaltungsposten. Außerdem findet natürlich die eigentlich finanziell lukrative Karriere von Abgeordneten im Etatismus neben und im Anschluß an ihre politische Tätigkeit statt: Mit den Schulden, die sie in unserem Namen und auf unsere Rechnung gemacht haben, finanzieren sie staatliche und private Unternehmen im In- und Ausland, in denen sie dann hochdotierte Posten bekommen.

Ein besonders gutes Beispiel für mein Leibeigenschaftsszenario ist der Fall Island. Es ist deshalb ein so gutes Beispiel, weil es ein so kleines Land mit nur 330.000 Einwohnern und deshalb strukturell leicht überschaubar ist. Es ist außerdem sehr interessant, weil nämlich der isländische Staat bis zum Sommer 2008 überhaupt nicht oder jedenfalls nicht signifikant verschuldet war. Verschuldet waren nur viele Privathaushalte, die in der Boom-Phase auf ständig steigende Einkommen vertrauten und sich deshalb in Konsumentenkredite gestürzt hatten—für neue Häuser, Autos und andere schöne Sachen. Was also passierte 2008? Die isländischen Privatbanken, alle in der Hand einer Clique von nicht mehr als 50 Leuten, waren zahlungsunfähig. Warum wurden sie dann nicht als Konkursfälle abgewickelt? (Das niemals begründete, aber zur Zeit von allen Politikern weltweit beschworene Mantra des systemischen Risikos, lasse ich hier mal außer Betracht).—Sie wurden deshalb nicht als Konkursfälle abgewickelt, weil die Gläubiger der Banken, die Sparguthabeninhaber, sauer waren. Und diese Gläubiger waren Ausländer –(die Isländer selbst hatten ja fast alle keine Guthaben, sondern nur Schulden bei den Banken): Es waren niederländische, britische und deutsche Bürger und auch viele Kommunen aus diesen Ländern, deren Kämmerer sich jahrelang hatten loben lassen für die exorbitant hohen Zinsen, die sie für die von ihren Bürgern gezahlten Steuern von den isländischen Banken bekommen hatten( wie viele deutsche Kommunen betroffen waren, wissen wir nicht; letztes Jahr war ein kleiner Artikel darüber auf Spiegel-Online, der drei mittelgroße Städte in Deutschland nannte—deren Kämmerer übrigens alle auch Lehmann-Zertifikate gekauft hatten). Im Konkursfall hätte keiner der Gläubiger auch nur einen Cent seiner Einlagen jemals wiedergesehen. Und was macht der Mensch als erstes, wenn er sauer ist, weil ihm ein riskantes Geschäft in die Hose gegangen ist?—Er sucht nach einem Schuldigen, d.h. nach jemanden, auf den er den selbstverschuldeten Verlust abwälzen kann—so dass der Verlust eben nicht mehr seiner ist, sondern der eines Anderen. Was lag da näher, als den, oder vielmehr die, Bürger Islands heranzuziehen? Und durch massiven Druck der Regierungen der Gläubiger auf die isländische Regierung wurde genau das erreicht: Die isländische Regierung erklärte –im Namen ihrer Bürger-, dass sie für die Schulden der isländischen Privatbanken aufkommen würde. Was bedeutet das? Ich hab’s ausgerechnet. Deshalb kann ich mir die Zahl merken: Jeder der 330.000 Isländer –vom Baby bis zum Tattergreis- ist nun Schuldner über eine Summe von 11.800 Euro—und das sind nur die Schulden von einer der isländischen Banken, der Icesave-Bank. Insgesamt sind die Schulden, die auf jedem lasten, um ein Vielfaches höher.

Und hier haben wir wieder dasselbe Muster: Die isländischen Bürger sind zum Schuldner geworden durch einen deklaratorischen Akt ihrer Regierung, nicht als Rechtsfolge ihr eigenen Handelns, sondern qua ihrer Staatsangehörigkeit. Wenn das keine Kollektivschuld ist, — die es ja angeblich nicht geben kann—, dann weiß ich nicht, was Kollektivschuld sein soll.

Und dieses schöne Prinzip findet natürlich auch bei dem sogenannten Griechenland-Bail-Out Anwendung: Damit die Gläubiger –in diesem Fall hauptsächlich französische und deutsche Staatsbanken— keine Verluste erleiden müssen, wurde der Konkurs Griechenlands von deutschen und französischen Politikern auf alle europäischen Bürger umgewälzt. Es ging auch dabei niemals um die Rettung Griechenlands—das mit einer Staatspleite wunderbar hätte leben können—sondern um die Rettung der Gläubiger.

Stellen Sie sich mal vor, ein Nachbar in Ihrer Straße hätte jahrelang für alle sichtbar ein sehr gutes Leben geführt: Großes Haus, viele Autos, Partys, Auslandsreisen. Und das alles hat er auf Pump betrieben, indem er immer Willige gefunden hat, die ihm Geld geliehen haben. Jetzt kann er seine Schulden nicht zurückzahlen. Die Kreditgeber sind empört und verlangen nun von Ihnen allen, den Nachbarn des Partyveranstalters, die Rückzahlung der Kredite. Wer würde sich auf so etwas einlassen? Keiner. „Was haben wir denn damit zu tun?“ würden sie fragen. „Ihr habt doch unserem Nachbarn Geld geliehen und nicht uns. Nur, weil wir nebenan wohnen, sollen wir seine Schulden zurückzahlen? Bei Euch piept’s wohl!“—Ja, so würden wir alle reagieren. Wo bleibt unsere Empörung beim Griechenland-Bailout? Glauben wir wirklich, der Fall sei anders gelagert?—Weil angeblich der Euro in Gefahr ist?

Seit zwei Jahren lese ich den Blog von Alda Sigurdsdottir aus Rejkjavik, einer klugen und witzigen Journalistin, die in Kanada aufgewachsen ist—und deswegen auf Englisch schreibt. In drei oder vier emails habe ich ihr erklärt, was passiert ist. Aber sie kapiert es einfach nicht. Immer wieder schimpft sie –zugegebenermaßen sehr eloquent- über kriminelle Privatbanker und sieht nicht, dass die Banker weder ihr noch den anderen Isländern irgend etwas hätten anhaben können—wenn nicht die isländische Regierung sie alle zu Schuldnern gemacht hätte—und das war der eigentlich kriminelle und rechtsstaatswidrige Akt.

Damit wäre also meine –zugegebenermaßen düstere- Analogie komplett.

Ob ich nun noch einen positiven Ausblick zu bieten habe?

Nun ja, wir müssen ein Ende machen mit unserer kollektiven Mystifizierung der Begriffe STAAT, RECHT und SOUVERÄN. Nur wenn wir das schaffen, kann es uns gelingen, unsere Abgeordneten zu ZWINGEN, mit dem Schuldenmachen aufzuhören. Die grundlegenden Strukturen unserer Gesellschaften sind nämlich weder besonders kompliziert, noch sonst schwer durchschaubar. Sie sind nur –wohl hauptsächlich durch den Erfolg unserer staatlichen Bildungssysteme— dermaßen begrifflich vernebelt worden, dass wir alle tendentiell glauben, nur Experten verstünden noch, was hier abgeht. Solange wir das glauben, sind wir nicht zu retten: Und auch insofern war der Leibeigene im Feudalismus eigentlich besser dran als wir: Ihm war wenigstens klar, dass er zu den Machtlosen und Ausgebeuteten gehört: Er hat niemals geglaubt, er sei der „Souverän“ und war deshalb im Gegensatz zu uns auch niemals Teil des „universellen Verblendungszusammenhangs“—um hier mal –ganz ausnahmsweise- bei Adorno zu borgen.

Wenn wir aufgehört haben, uns selbst als Souverän zu sehen, und erst dann, können wir andere aufklären:

Jedem, dem wir begegnen, und der sich über irgendetwas in diesem Land beschwert, können wir seinen Leibeigenenstatus vor Augen führen. Wenn er das begriffen hat, wird er auch verstehen, dass es im Rechtsstaat unzulässig ist, den Bürger durch Geburt zum Schuldner zu machen. Dann kann er sein Recht bei Wahlen einfordern. Wie David Hume schon bemerkt hat, beruht die Macht jeder Regierung ausschließlich auf den Überzeugungen der Mehrheit. Wenn es uns also gelingt, uns selbst und andere aus der Verblendung zu reißen, dann können wir auch in der Demokratie aus dem Stand der Leibeigenschaft heraustreten und echter Souverän werden.

(Leicht gekürzte Version eines Vortrags, gehalten in Hamburg am 11. Juni 2010 auf dem Libertären Kongress „Grosse Freiheit 01“) (http://grossefreiheit.info/index.php)

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