Unsere Südosteuropa-Beauftragte ist zur Zeit in Rumänien unterwegs. Wir bringen ihre Berichte in loser Folge. Das hier dient der Einstimmung.
„Die Deutschen haben uns freundlicher Weise einen Teil ihres Friedhofes abgetreten“, erklärt mir Ilona am nächsten Tag. „Da werde ich hoffentlich auch bald liegen.“ Ich habe die 90Jährige beim Dorfkrämer getroffen und bin zu ihr nach Hause eingeladen worden. Jetzt sitzen wir mit einem Glas Schnaps in der Hand in ihrem kleinen Gärtchen, ein paar Hühner gackern im Hintergrund, während Hoppraje es sich auf Ilonas Schoß bequem gemacht hat. Der Yorkshire Terrier mit den ein wenig schräg gestutzten Barthaaren streckt beim Gekraultwerden genüsslich die Beine von sich. „Vor 17 Jahren ist mein Mann gestorben, seither lebe ich allein mit Hund und Katze.“ Und ohne Hilfe.
Ilona macht nach wie vor Garten und Hausarbeit selbst, vom Marmelade einkochen bis zum Holz hacken. Einsam steht ein letzter silberfarbener Zahn in ihrem Mund. Die ehemalige Zugehfrau muss mit einer überschaubaren Rente auskommen, seit sie vor drei Jahren mit der Arbeit für Fremde aufgehört hat. Und das waren meist Sachsen, weshalb Ilona neben Rumänisch und Ungarisch auch Deutsch spricht. Mit 17 Jahren trat sie ihren Dienst an, barfuss. „Ich bin hinüber bis ins zehn Kilometer entfernte Reps gelaufen. Ohne Schuhe, denn da ich nur ein Paar hatte, wollte ich die schonen und habe sie erst im Haus wieder angezogen.“
Das einzige Paar Füße, das ihr zur Verfügung stand, musste derweil viele Wege machen. Einer führte ins Gefängnis. „Sie haben mich eingesperrt, weil ich 2,5 Kilogramm Hefe hatte. Das war ja verboten damals unter den Kommunisten, damit Handel zu treiben, und dann hat man mir das vorgeworfen, ich hätte genau das gemacht, und nach Schässburg ins Gefängnis verbracht.“ Ilona wurde dort zu einer Arbeit eingeteilt, über deren Verlauf ich mich nicht nachzufragen traue. „Wir Frauen wurden zum Putzen ins Männergefängnis geschickt.“ Ohne Bewachung, was in diesem Falle eher Schutz entsprochen hätte. Als sie nach acht Monaten wieder nach Hause kam, hatte ihr eigener Mann die Zeit überbrückt, indem er sich scheiden ließ und mit einer anderen Frau zusammen zog.
„Aber er konnte mich dann doch nicht vergessen und kam immer wieder an. Ich sei doch seine erste und wahre Frau gewesen. Da habe ich ihm gesagt, er muss sich entscheiden. Und noch mal probieren würde ich es nur, wenn wir uns nie fragen, was der andere in den vier Jahren gemacht hat, in denen wir getrennt lebten.“ Moshes stimmte ein, hielt erneut bei ihrem Vater um die Hand an und bekam den Zuschlag. „Dann hatten wir noch 49 gemeinsame Jahre.“ Jetzt würde Ilona gerne zu ihm, wenn nur diese schlechten Träume nicht wären. „Ich sehe ihn immer noch im Arm dieser anderen Frau. Dann sage ich immer ‚Nimm doch mich, Moshes, nimm doch mich zu Dir!’“
Beim Abschied gibt mir Ilona noch ein paar selbst gestrickte Socken und hausgemachte Stachelbeermarmelade mit. Es ist Mittag, Zeit für die Siesta unter dem großen Wandteppich im Schlafraum. Ein Türke sprengt mit seinem Pferd durch die Landschaft, den Säbel in der erhobenen Hand und über den Schoß ein entführtes Fräulein in wallendem Kleid gelegt. Ilona muss heiße Träume haben. Ich frage sie, ob ihr Männer an sich schon ganz gut gefielen, sie kichert, wird sogar ein wenig rot und nickt lächelnd. Was für eine Freude, die Sinnlichkeit wärmt bis zum Schluss!
Am kommenden Morgen packe ich meine Sachen und fahre mit dem Mietwagen nach Sighisoara zum Zug. Inzwischen ist der Direktflug zwischen Berlin und Bukarest zwar wieder aufgenommen, aber mit dem einmal gekauften Ticket in der Tasche entscheide ich mich für die erneute 24 Stunden Tour.
Obschon hier fast jedes Haus ein Holzbänkchen vor der Tür hat, auf der die Dorfbewohner gerne sitzen, in den Tag schauen und warten, dass etwas passiert, haben sie es auf einmal eilig, sobald sie ein Auto besteigen. Fahre ich in geschlossener Ortschaft weniger als 80 Stundenkilometer, fährt der Hintermann so dicht auf, dass sein Kennzeichen nicht mehr im Rückspiegel zu erkennen ist. Wenn die Straßenbreite es irgend zulässt, wird überholt. Auf freier Landsstraße das gleiche in schneller. Egal ob Kurve oder nicht, wer bremst, verliert. Statistisch ist die Chance, hierzulande bei einem Verkehrsunfall zu sterben, zweieinhalb mal größer als in Deutschland. Und auch EU-weit liegt Rumänien weit vorne, Platz zwei, nur knapp hinter Griechenland. Ich bin froh, das Auto am Stück vor dem Bahnhof abstellen zu können.
Der Zug kommt pünktlich und ohne Eile. Bis hinter der rumänisch-ungarischen Grenze halten wir an jeder Milchkanne und manchmal auch dazwischen. Ich stehe im letzten Waggon, den Rücken angelehnt und schaue durch das offene Rückfenster. Langsam ziehen die Gleise dahin. Siebenbürgen bleibt zurück.