Gastautor / 17.03.2016 / 05:25 / Foto: Tim Maxeiner / 1 / Seite ausdrucken

Wenn sich verändert, was normal ist

Von Hans-Martin Esser.

Wer sich ansieht, mit welchem Argument Ralf Stegner kürzlich in der Talkshow "Anne Will" Beatrix von Storch anging, wird sehen, dass Normalität nicht irgendwie eine langweilige Sache ist, sondern Waffe, die Argumente zu ersetzen vermag. Die AfD, man mag über sie denken, was man will, ist nichts für Leute, die normal sind, wie Stegner es sieht. Nun ist Stegner promoviert, war in Harvard, nutzt aber eine Redensart, die keiner Argumente bedarf: „das ist nicht normal“.

Es ist dies ein rhetorischer Trick. Jeder versteht es, was gemeint ist. Tust Du dies oder lässt Du jenes, bist Du keiner mehr von uns, Du wirst unnormal. Das will doch wohl hoffentlich keiner, oder. So funktioniert Erziehung in weiten Teilen, nicht durch Argumente, sondern durch Anbinden an einen Referenzwert, das Normale. Eine Pflanze erzieht man ja auch nicht, indem man ihr sagt: „Bitte wachse nicht nach links und rechts, sondern schön gerade nach oben“ – dann bindet man sie lieber stattdessen an. Ist das zulässig, ohne Argumente, sondern durch Gruppendruck diszipliniert zu werden nach dem Motto: „Kein normaler Mensch wählt diese Partei“?

Zeiten ändern sich und die alten Definitionsmächte altern mit – und das war immer so. Wer merkt, dass er selbst nicht mehr ganz normal ist, muss sich seiner vergewissern. Das trifft auf Stegner als Politiker und Repräsentanten einer Partei zu, die in  zwei von drei Wahlen hinter dieser vorgeblich unnormalen anderen Partei lag. Und es trifft auch die Anhänger der AfD zu, die ebenso definieren, was normal ist, wenn sie sich die deutsche Politik der Gegenwart oder Migranten ansehen.

Der Normalität ist wie die Matrix, der man nicht entkommt, weil man Teil von ihr ist. Vor dem Film mit Namen Matrix hieß das Ganze übrigens Apparatur, ein häufiger Begriff der philosophischen Argumentationslinien der Frankfurter Schule. Das Wort Matrix ist also im normalen Sprachgebrauch normaler als Apparatur geworden. Jeder weiß nicht aus dem Mathe-Unterricht, sondern aus dem Kino, was damit gemeint ist. Die neue Normalität löst also die alte ab, was die Hüter der alten Normalität normalerweise nervös werden lässt.

Die Antwort von Beatrix von Storch am Ende der Sendung auf Stegner war: „Wer rechts der CDU ist, liegt noch immer in der Mitte“. Die Mitte ist also der Referenzpunkt des Normalen. Sie muss sich also genauso wie Stegner ihrer Normalität vergewissern. Die Torte, die sie ins Gesicht bekam, kam von einem Unnormalen, so denkt sie. Der Tortenwerfer selbst hielt hingegen von Storch für derart unnormal, dass er sie mit Torte bewarf.

Wer unnormal ist, wurde ja lange nicht nur ausgegrenzt, sondern hierfür auch bestraft. Die Selbstvergewisserung, normal zu sein, ist wichtig für das Selbstbild - was immer auch mit Normalität im Einzelnen gemeint ist. Normalität ist die Klammer, die die Grenzen absteckt, was legitim ist und was nicht. Das gilt nicht nur für die normalen einfachen Menschen, sondern auch für die scheinbar abgehobenen wie Politiker oder Wissenschaftler. Kongresse oder Parteitage sind nichts Anderes als Definitionsinstrumente, was erlaubt ist und was nicht, was anerkannt wird und was nicht – letztendlich, was normal ist und was nicht.

 

Foto: Tim Maxeiner

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Thea Wilk / 17.03.2016

Aussagen des Artikels: Die Zeiten ändern sich - “und das war immer so”. Das, was Normalität ist, ändert sich also auch immer. Das, was normal ist, ist relativ und liegt im subjektiven Auge des jeweiligen Betrachters. Individuen müssen “Selbstvergewisserung” betreiben, was aktuell normal ist, denn “normal zu sein, ist wichtig für das Selbstbild - was immer auch mit Normalität im Einzelnen gemeint ist.” Das klingt nach Selbsterfahrungsgruppe und schön harmlos philosophisch nach “man kann niemals zweimal in denselben Fluss steigen”. Leider fehlt in dem Artikel aber der wesentliche Faktor und das ist der Zwang. Bundespräsident Gauck hat zum Tag der deutschen Einheit 2015 diesen Zwang mit folgenden Satz sehr treffend zusammengefasst hat: “Jetzt muss zusammenwachsen, was nicht zusammengehört”.  Und wenn auf einem Parteitag 10 Minuten applaudiert wird, hat ein “Definitionsinstrument” offensichtlich versagt. Andere Definitionsinstrumente (die Medien als 4. Gewalt, gesellschaftlicher Diskurs oder gar Streitkultur?): Fehlanzeige bzw. abgewürgt und im Keim erstickt. Die Zeiten ändern sich derzeit nicht einfach so, sie werden mit Zwang verändert. Daher meine Bitte: alle Faktoren nennen und die gegenwärtige schlimme Situation nicht verharmlosen, nicht wegpsychologisieren und nicht wegphilosophieren. Vielen Dank.

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