Der Geburtenrückgang treibt die zuerst marxistische und später auch kokainistische FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) aus den Urwäldern Kolumbiens. Der legendäre Guerilla-Gründer Manuel Marulanda (1928-2008) wächst als Ältester von fünf Söhnen eines Bauern heran. Seine Talente als sicherer Töter verschaffen ihm den Ehrennamen Blattschuss (Tirofijo).
Vom Beginn der Kämpfe im Jahre 1964 bis heute springt Kolumbiens Bevölkerung von 18 auf 48 Millionen Einwohner, weil selbst zwischen 1950 und 1970 immer noch sechs bis sieben Kinder pro Frauenleben aufwachsen. Sie werden zwischen 1970 und 1990 zwanzig Jahre alt und sehen wenig Chancen. Da jeder Vater nur eine Position freimacht, aber drei bis vier Söhne hinterlässt, haben Dschungelkämpfer, ihre regierungstreuen Milizgegner und Drogenbanden keine Rekrutierungsprobleme.
Schon 1980 jedoch fällt die Geburtenzahl unter vier. Momentan nähert sie sich einer demographisch neutralen Zwei. Viele der Zwanzigjährigen von 2000 sind bereits einzige Söhne, die mehr zu gewinnen als zu verlieren haben. Es ist deshalb fast nur noch der Idealismus der gerade Pubertierenden, der noch frische Kräfte beschert. Schon 2000 bestehen die Farcisten zu fast einem Drittel aus Bienchen (Abejitas), also Kindersoldaten unter 18 Jahren.
Niemand in Kolumbien will mehr für die Guerillia sterben
„Leicht trennt nur die Jugend sich vom Leben“, ermuntert 1883 auch Preußens berühmter Infanterielehrer Colmar von der Goltz (1843-1916) die Truppenkommandeure. Sie sollen deshalb Siebzehnjährige in die Feuerlinie stellen. Die denken noch nicht an eine Braut und stehen seinerzeit so reichlich zur Verfügung wie in Kolumbien noch bis in die 1990er Jahre.
Bei den jungen Kolumbianern von 2000 – und erst recht von heute – mag gelegentlich das Herz noch für die Guerilla schlagen, aber sterben will für die grau gewordenen Befehlshaber fast niemand mehr. Als ihnen die Regierung im August 2016 nicht nur weitgehende Straffreiheit, sondern auch noch feste Quoten für gut dotierte Parlamentssitze zusagt, ist – 220.000 Tote hin oder her – das revolutionäre Gehabe und Gerede vorbei.
Obwohl in Kolumbien westliche oder realsozialistische Armeen niemals intervenieren – anders steht es um die Geheimdienste –, schweigen im Land die Waffen, weil kaum noch jemand nachwächst, der als Scharfschütze nach oben kommen will oder muss. Ganz anders sieht es in Afghanistan aus. Dort dauert der Krieg seit dem kommunistischen Staatsstreich von 1978 bisher zwar nur 38 Jahre, aber von Beginn an hat er ein ganz anderes Kaliber. Zehn Jahre (1979-1989) geht es gegen die Sowjetunion als zweitgrößter Militärmacht der Geschichte. 1,5 Millionen Afghanen sterben. Dann geht es mit internen Metzeleien weiter, bis ab 2001 der Taliban-Krieg gegen die Weltmacht USA und ihre 46 Bündnispartner in der ISAF (International Security Assistance Force) einsetzt. Bis heute kommen noch einmal rund 1,5 Millionen Afghanen zu Tode.
In Afghanistan mangelt es nicht an Nachschub für den Bürgerkrieg
Wie kann ein Ministaat mit – bei Kriegsbeginn – nicht einmal 15 Millionen Einwohnern es wagen, gegen die halbe Welt anzutreten? Man stelle sich die Aufgeregtheiten vor, wenn aktuell 14 Millionen Hessen und Niedersachsen auch nur Venezuela zu erobern hätten. Für Afghanistan dagegen sollen Wiesbaden und Hannover – so die Entscheidung des Verteidigungsministeriums vom 16. September – auch weiterhin Landeskinder schussbereit halten.Ob jemand über den Unterschied zwischen den Lateinamerikanern und den Zentralasiaten nachdenkt? Afghanistan kann militärisch immer weitermachen, weil es trotz der ungeheuren Verluste aktuell über 36 Millionen Einwohner mit einem Durchschnittsalter von 19 Jahren (D: 47) verfügt und 2050 sogar mit 72 Millionen prunken will. Das wäre seit 1950 ein Aufstieg vom 44. auf den 23. Platz global.
Die Afghanen sind von 7,7 Kindern pro Frauenleben im Jahre 1950 zwar auf 5,3 im Jahre 2015 herunter (D: 1,4). Weil das Land – ein Nebenergebnis der westlichen Einmischung – aber endlich passable Geburtskliniken besitzt, liegt die Zahl der gesund aufwachsenden Kinder kaum niedriger als zuvor.
Mit einem Kriegsindex (Verhältnis der 15-19-Jährigen zu den 55-59-Jährigen) von 6,4 liegt der Fünfzehnvölker-Staat beinahe um den Faktor 10 über dem deutschen Indexwert von 0.66. Hier kommen auf 1,000 Alte, die eine Position freimachen, 660 Junge, während in Afghanistan 6,400 in den Lebenskampf eintreten.
Pro Jahr – und das mit steigender Tendenz – erreichen 475,000 afghanische Knaben das traditionelle Kriegeralter von 15 Jahren. Solange Armee und Polizei durch Berlin, Washington und andere finanziert werden, kann man einen Teil der jungen Männer für die Fortsetzung des Bürgerkriegs gegen die überschüssigen Gleichaltrigen auf der Gegenseite bezahlen. Versiegen die Milliarden der längst überschuldeten Geber und ziehen am Ende auch Amerikaner und Deutsche ab – jeder gegen dritte oder vierte Brüder Gefallene beendet hier eine Familienlinie –, geht es auf eigene Faust weiter. Eine Friedensdividende durch Geburtenrückgang, die Bogota gerade einfährt, wird am Hindukusch noch lange ausbleiben.
Gunnar Heinsohn (*1943) lehrt Militärdemographie am NATO Defense College (NDC) in Rom.