Fred Viebahn / 24.07.2012 / 05:20 / 0 / Seite ausdrucken

Wenn es von allen Seiten knallt

In der Nacht vom vergangenen Donnerstag zum Freitag, kurz nach Mitternacht, gab’s mal wieder einen Massenmord in den USA, diesmal in Aurora, einem Vorort von Denver, Colorado durch einen bis an die Zähne bewaffneten Studenten der Neurowissenschaften. Der Schreck über die Tat fuhr mir gleich in die Glieder, als ich kurz danach, da war es bei mir in Virginia, wo wir Colorado um zwei Stunden voraus sind, etwa vier Uhr morgens, meinen üblichen Nachtblick in die Nachrichten warf. Meine Tochter lebt nicht weit von Denver entfernt und verbringt einen Teil ihres sozialen Lebens in der Großstadt. Ich wußte, daß sie und ihre Partnerin sich an dem Abend mit einer zu einer Konferenz in der “Mile High City” weilenden früheren Kommilitonin treffen wollten, und es war nicht auszuschließen, daß sie sich—alle drei promoviert in Film- bzw. Medienwissenschaften und Kulturstudien—die Erstaufführung des letzten Akts der Batman-Trilogie, The Dark Knight Rises, reinziehen würden. (Freitag war der von Warner Brothers geplante Eröffnungstag, und für die Kinos und Filmfans fing dieser Freitag Schlag Mitternacht an.) Während mir das Herz in der Kehle pochte, widerstand ich der spontanen Versuchung, sie gleich auf ihrem Handy anzurufen, und schaute erstmal rasch auf ihre Facebook-Seite. Einmal tief durchatmen: um 1 Uhr 49 Ostküstenzeit, also elf Minuten vor Mitternacht in Colorado, hatte sie von zuhause, eine Stunde von Aurora entfernt, etwas gepostet.

Politiker, Journalisten, Blogger und was sonst so durch die Medienlandschaft kreucht und fleucht sind mittlerweile, nach dem ersten Schock, dazu übergegangen, nach Motiven zu schürfen und auch bereits mit Schuldzuweisungen um sich zu werfen, daß es von allen politischen Seiten nur so knallt. Wie üblich haut man sich Schußwaffenargumente um die Ohren, was garantiert mal wieder wie das Hornberger Schießen ausgehen wird. Denn gegen die Waffenvernarrtheit in diesem Land ist bisher noch kein Kraut gewachsen; es ist eine selbstgerechte Müßigkeit, dort nach Verboten zu rufen, wo selbst führerscheinmäßige Regulierung der Waffenscheine sowie die zentrale Registrierung aller Knarren auf massiven Widerstand stoßen—einen Widerstand, der die meisten Politiker immer wieder das Fürchten um ihre Ämter lehrt. Da muß man schon der populäre republikanische New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg und gleichzeitig Milliardär sein, um gegen die mächtige Waffenlobby der National Rifle Association als unbewaffneter Ritter ohne Furcht und Tadel anzureiten. Selbst eine Diskussion um Schnellfeuergewehre und -magazine, die weder zum Jagen noch zur Selbstverteidigung, sondern nur für Kriegseinsatz oder Massenmord geeignet sind, wird von der von reaktionären Machtstrategen dirigierte NRA immer wieder für tabu erklärt.

Vor über sieben Jahren habe ich in meiner “Forsicht Freddy”-Kolumne auf Henryk Broders Website einen Artikel zum Thema veröffentlicht, hinter dem ich weiterhin stehe. Da diese Website nicht mehr existiert und sich infolgedessen mein Artikel nicht mehr googlen läßt, veröffentliche ich ihn im Folgenden nochmal unverändert an dieser Stelle—O-Ton Mai 2005:

Die Glock im Hosenbund: Freiheit auf Amerikanisch

Fuchs, du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her, sonst muss dich der Jäger holen mit dem Schießgewehr…

Wenn ich durch die Städte und Landschaften von Virginia fahre, fühle ich mich ziemlich sicher. Nicht nur, weil ich mit meinem großen SUV eine Menge Metall um mich habe, sondern auch, weil in Reichweite, doch von außen dem Auge entzogen meine zuverlässige österreichische Begleiterin auf meinen Zugriff im hoffentlich nie eintretenden Notfall wartet. Und wenn ich aus dem Wagen steige, kann ich sie blitzschnell hinter meinem Hosenbund verschwinden lassen. Ich hab Übung darin; trotz fehlender manueller Entsicherung, wo man einen kleinen Haken umlegt, ist meine Liebste aus Austria sehr zuverlässig, denn ein Doppelabzug verhindert unabsichtliches Feuern, und im Fall der Fälle gehen keine wertvollen Sekunden beim nervösen Fummeln verloren. Ein beherzter Zug des Zeigefingers am Hahn, und schon schickt meine Glock ihre Neunmillimeter-Geschosse auf den Weg.

»Ich nehm euch mal mit zum Schießstand,« versprach unser Nachbar Ben meiner Frau und mir bei einer Weihnachtsparty. Das ist einige Jahre her; Ben hatte sich kürzlich von der Army als Oberst pensionieren lassen, weil seine bevorstehende Beförderung in den Generalsstand mit einer Standortversetzung verbunden gewesen wäre, die er nicht mochte. Er mauserte sich nun zum Privatdetektiv, und ich hatte ihn halb scherzhaft gefragt, ob er immer eine Pistole bei sich trüge. Er grinste nur. Als ein anderer Gast in der Partyrunde ihn fragte, wie er denn das »Second Amendment« interpretiere, holte Ben zu einer langen Verteidigung des allgemeinen Bürgerrechts auf Waffenbesitz aus.

In dem 1791 ratifizierten zweiten Zusatz zur US-Verfassung, der Constitution, heißt es: »Eine gut regulierte Miliz, so sie notwendig ist für die Sicherheit eines freien Staates, das Recht des Volkes auf Waffenbesitz und das Tragen von Waffen, darf nicht eingeschränkt werden.« Bei diesem Satz schütteln selbst Englischlehrer den Kopf: Na was denn — fehlt da vielleicht ein »und«, also dass sowohl die Volksmiliz als auch das Recht des Volkes auf Waffen garantiert sind? Oder hat sich nach den Waffen ein überflüssiges Komma in die Sprache geschlichen? Oder bürgt eine staatlich regulierte Miliz schlichtweg fürs Volksrecht auf Waffenbesitz? Oder ist sie Repräsentant des allgemeinen völkischen Waffenbesitzes, so dass die Bewaffnung einzelner Bürger hier gar nicht gemeint ist? Über solch verwirrende semantische Vieldeutigkeit der »Founding Fathers« haben sich seit über zweihundert Jahren — und vor allem in den letzten Jahrzehnten — so manche Streithähne die Schädel zerbrochen und gelegentlich auch eingeschlagen.

Die mächtige amerikanische Ballerlobby, allen voran die vier Millionen Mitglieder starke National Rifle Association (NRA), legt das Second Amendment praktisch grenzenlos aus. Es gehöre zur amerikanischen Freiheit, Feuerwaffen jeder Art rumzuschleppen, egal ob offen oder versteckt, ob öffentlich oder auf Privatbesitz, vom winzigen Derringer in der Westentasche bis zur AK-47 über der Schulter oder gar, so die fanatischsten Befürworter, Maschinengewehre und Granatwerfer im Pick-up Truck. Samtherzige Flowerpower-Doktrinäre interpretieren den Gesetzestext natürlich radikal andersherum — nämlich dass nur staatlich organisierte Milizen (in den frühen Jahren der amerikanischen Republik ausgestattet mit eigenen Waffen, in moderner Zeit die paramilitärischen professionellen Nationalgarden der einzelnen Bundestaaten) dazu befugt sind — als potentielle Verteidiger der Demokratie an der Heimatfront. Leider gibt es keine Tonbandaufnahmen von Thomas Jefferson oder James Madison oder George Washington, sodass man aus Wortbetonungen bei der Diskussion über die genaue Abfassung eines so ungenauen Paragraphen nähere Schlüsse ziehen könnte; wollten sie uns etwa absichtlich im Dunkeln halten (unwahrscheinlich), oder waren sie alle Sprachkrüppel (zweifelhaft), oder konnten sich die Politiker schon damals nicht einigen und verfielen auf diesen grammatikalischen Verwirrungskompromiss (fragwürdig)? Durchaus denkbar ist, dass es sich nur um eine kleine Schreibunsauberkeit handelte, bei der sich im achtzehnten Jahrhundert keiner was dachte, weil alle wussten, wie’s gemeint war — schließlich schleppte sich damals jedermann, der was auf sich hielt, an einer Muskete ab und experimentierte auch mal mit dem Bleirezept für seinen Vorderlader.

Wie dem auch sei, auf der Basis dieses sprachlichen Pulverqualms gibt es heutzutage im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine Melangerie an Gesetzen für privaten Waffenbesitz, da die fünfzig Bundesstaaten über eine im zehnten Verfassungszusatz von 1791 (»Tenth Amendment«) festgeschriebene weitreichende Autonomie verfügen und es ihnen daher im großen und ganzen freisteht, Waffenbesitz nach eigener Lust und Laune zu regulieren. (Ausnahmen davon sind schwere Geschütze, automatische Schnellfeuerwaffen und komischerweise auch einige weniger wichtige Kleinigkeiten wie das Fassungsvermögen der Pistolenmagazine; sie unterliegen Bundesgesetz.) So ist zum Beispiel privater Waffenbesitz in Washington, D.C., der Bundeshauptstadt, total verboten und in Maryland, dem Washington nördlich angrenzenden Staat, nur begrenzt erlaubt (mit ähnlichen Auflagen wie in Deutschland), während im an Washington und Maryland südlich angrenzenden Staat Virginia, seit sechzehn Jahren unser Wohnsitz, Jagdflinten im Kofferraum und Pistolen im Handschuhfach von schätzungsweise jedem dritten oder vierten Automobil spazierengefahren werden. (Vor dem Umzug nach Virginia lebten wir acht Jahre in Arizona, einem ebenfalls waffenfreudigen Staat, aber mit einer exhibitionistischeren Kultur, wo man über Pick-ups mit stolz präsentierten Gewehren im Rückfenster und gelegentlich sogar urbane Cowboys mit offen im Gürtelholster getragenen Colts staunen kann.)

Mein Verhältnis zur Ballerkunst war lange Zeit nicht gerade intim; während meiner radikalpazifistischen Zeit Mitte der sechziger Jahre hatte ich mit Verachtung und Hochmut auf alle Waffenträger geblickt: von den Kölner Bullen, die auf Schülerdemonstranten gegen die Fahrpreiserhöhungen der Verkehrsbetriebe eindroschen, über die dummen Schnösel, die sich tatsächlich von der Bundeswehr einziehen und in Nagold bis in den Tod schikanieren ließen, bis zu der irrwitzigen Schießwüterei in Vietnam, egal ob auf Seiten der Amis oder der Vietcong. Damals bereitete ich mich auf blöde Fragen vorm Prüfungsausschuss für Wehrdienstverweigerer vor, etwa: »Was würden Sie machen, würden Sie im Wald mit Ihrer Freundin beim Spaziergang angegriffen und hätten die Chance, den Angreifern, die es auf die Vergewaltigung Ihrer Freundin abgesehen haben, eine Pistole zu entwenden?«

Obwohl ich einen poppigen Wehrdienstverweigererroman mit dem bezeichnenden Untertitel »Gitarren schießen nicht« schrieb, der 1969 erschien, schaffte ich es, dem »Bund« zu entkommen, ohne zwei Jahre lang Pisspötte schwenken zu müssen. Heute denke ich da zwar etwas anders, zynischer oder, wie es so schön erwachsen heißt, »differenzierter«, will mich aber keinesfalls von dem naiv-radikalen Pazifismus meiner Jugend distanzieren — angesichts dessen, worauf die Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert so alles gehorsamst geknallt haben, scheint mir pazifistischer Idealismus ein Luxus, den ich vor allem jungen Menschen gönne, solange er nicht selektiv ist, sondern sich eher an den Idealen von Mahatma Ghandi und Martin Luther King orientiert.

Als Kind spielte ich gern Cowboy & Indianer und knallte tagsüber begeistert mit Pulverplättchen im silberfarbenen Spielzeugrevolver rum, während ich nachts von Old Shatterhands Henrystutzen träumte. Mein Großvater auf dem Dorf im Oberbergischen besaß eine Walther sieben-fünfundsechzig, die er aus dem Ersten Weltkrieg mitgebracht hatte und in den Zwanzigern für alle Fälle bei sich trug, wenn er bei KP-Aufmärschen als Ordner eingesetzt wurde (meine Großmutter war Schriftführerin des Ortsverbandes); mein Vater erinnerte sich später, wie er als Hosenmatz »Roter Wedding, grüß euch, Genossen« singend mitmarschiert war und wie die Braunhemden mit Steinen auf sie schmissen und mein Opa wütend nach der Pistole griff, während meine Oma ihm in den Arm fiel: »Eugen, biste verrückt geworden«?

Nachdem die Nazis an die Macht kamen, vergrub er die Walther in einer Kiste in Öllappen gewickelt im Garten und buddelte sie erst wieder aus, als er sie in der Hungerzeit nach Fünfundvierzig zum Wildern brauchte. Ich hab einmal, da war ich vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, ihn und meinen Vater damit schießen sehen, auf eine handgemalte Zielscheibe, die sie draußen neben dem Haus an die Plumpsklotür gepinnt hatten; »halt dir die Ohren zu«, rief mein Vater, aber es knallte doch gehörig, und ich musste weinen, weil mir das Trommelfell wehtat. »Wie könnt ihr nur«, sagte meine Mutter, und von da an kriegte ich die Walther nur noch an den seltenen Tagen zu Gesicht, wenn außer Opa und mir niemand im Haus war; dann holte er sie aus ihrem Versteck auf dem Kleiderschrank, um sie zu ölen und zu polieren. Nach seinem Tod tauschte mein Vater sie gegen eine Gaspistole ein, ein reichlich ungleiches Geschäft.

Mein Opa besaß auch eine Luftbüchse, mit der er Spatzen schoss, die machte aber nur: Pitsch!; da brauchte ich mir nicht die Ohren zuzuhalten. Er ließ mich damit auf Zeitungsfotos von Adenauer und Konsorten abdrücken, die er mit Heftzwecken an der Plumpsklotür befestigt hatte; langsam vergrößerte er dabei meinen Abstand. »Der Fredi holt später bestimmt mal den Vogel runter«, sagten die grünwamsigen Vereinsmeier vom Schützenverein.

Eines Wintertages, kurz bevor ich von der Volksschule aufs Gymnasium wechselte, drückte mir mein Opa die Flinte in die Hand, deutete auf einen Spatzen, der von Zaunpfahl zu Zaunpfahl hüpfte, und kommandierte: »Der gehört dir!« Ich legte an, zog durch, da war der Spatz verschwunden. Ich fand ihn unter dem Pfahl, die Krallen in die Luft gestreckt, und ein paar braune Federn lagen etwas unordentlich herum. Im Schnee glitzerte ein bisschen Blut. Das war das erste- und letztemal, dass ich auf ein Lebewesen schoss. Heutzutage knalle ich gelegentlich Tontauben ab, ein reuloses Vergnügen, außer dass meine Frau dabei meistens mehr Punkte einheimst als ich.

Ben machte sein Versprechen wahr. Eines grauen Morgens fanden wir uns mit dezibelreduzierenden Ohrenschützern über die Köpfe gestülpt ein paar Meilen südlich unserer Stadt auf dem Gelände des Schützenclubs. Ben hatte seine sieben Kanonen mitgebracht, und in den folgenden Stunden probierten wir sie alle aus — von einem billigen, trotz oder wegen gewaltigen Rückschlags krummschießenden »Saturday Night Special« über eine klobige Militärpistole bis zum langläufigen superpräzisen Kleinkalibersportgerät. Meiner Frau war’s zunächst recht ungemütlich, während es mir von Treffer zu Treffer mehr Spaß machte. Sie wollte schon aufgeben, die Hand tat ihr von den Rückschlägen weh, da reichte ihr Ben einen Smith & Wesson-Revolver, ein solides Stahlmodell. »Die ist mir zu schwer«, sagte sie, doch schon leerte sie alle sechs Patronen ins Schwarze. »Liegt gut in der Faust«, sagte sie nun frohgemut, »aber ein bisschen schwer ist das Ding.« Sie ließ sich von Ben zeigen, wie man die Trommel nachfüllt, und prompt wiederholte sie ihren Erfolg, diesmal mit größerem Abstand.

Nicht lange danach rief uns Ben an: Ein örtlicher Schießsportladen habe gerade vom Sheriff mehrere gebrauchte Dienstrevolver zum Verkauf reinbekommen, genau das Modell mit dem fünfzolligen Lauf, das meiner Frau so perfekt in die Faust passte. Eine Stunde später nahm ich mit der ungeladenen Smith & Wesson .357 Magnum spielerisch hinter der Verkaufstheke in Reih und Glied aufgehängte Flinten und Gewehre aufs Korn, während der Händler meine »Vitaldaten« telefonisch an die Polizei durchgab, um meine staatsbürgerliche Rechtschaffenheit festzustellen (»criminal background check«) und die Waffe auf meinen Namen zu registrieren. Ich erstand Patronen und steckte sie zuhause in die Trommel, und dann verschwand das gute Stück zunächst mal in einer Nachttischschublade.

Nachdem wir auf den Geschmack gekommen waren, wurde unser Appetit größer. Ein Bekannter lud zu einem Schießnachmittag auf seine Farm ein, wo wir nach Herzenslust auf Plastikbehälter und Dosen ballerten. Als wir unser neuerworbenes Know-how forsch bei Party-Smalltalk zur Sprache brachten, handelten wir uns in den überwiegend akademischen Kreisen, in denen wir verkehrten, meist ungläubige Blicke oder missbilligende Kommentare ein. Schließlich gestand uns hinter vorgehaltener Hand ein Freund, Professor an der Staatsuniversität wie meine Frau und wie wir politisch liberal, dass er mehr oder minder heimlich Waffen sammelte, von Uzis über Schnellfeuer- und Snipergewehre bis zu exotischen Pistolen. (Ich nenne ihn hier John, denn er möchte wegen seiner Sammlung, die er bei sich zuhause in einem riesigen Tresor verwahrt, nicht öffentlich in Erscheinung treten.) Ein weiterer liberaler Freund — geben wir ihm das Pseudonym Bill, ein Bauunternehmer — beichtete mir nach meinem »Bekenntnis« die Beretta, die er »für alle Fälle« geladen in der Schreibtischschublade seines Büros verwahrte. Kurz darauf bot uns Bills Freund Mike, Reviervorsteher bei der Stadtpolizei und Boss des regionalen SWAT-Teams, einen aufregenden Trainingsmorgen im Schützenklub, wobei wir ein Feuergefecht mit Kriminellen simulierten und auf schwankende Pappkameraden schossen. Mike lieh mir dafür seine Glock, die mir so elegant und leicht in der Hand lag, dass ich mir bald selbst eine zulegte.

In Virginia darf jeder unbescholtene Bürger über 21 ein »CCP« (Concealed Carry Permit, Erlaubnis zum versteckten Tragen) erwerben; diese Bescheinigung verleiht das Recht, Handfeuerwaffen geladen unterm Hemd oder in der Tasche zu verbergen und sich damit bei einem Überfall, bei dem man »begründet um Leib und Leben« fürchten muss, zu verteidigen oder mit geladenem Colt im Handschuhfach auf alle Eventualitäten gefasst zu sein. Mike ermutigte uns, den Waffenschein zu beantragen, schon weil sein Besitz den legalen Waffentransport auf öffentlichen Straßen erleichtert und man nicht mehr darauf achten muss, Schusswaffen nur in verschlossenen, während der Fahrt unzugänglichen Behältern zu transportieren. So meldeten wir drei frischbackenen Musketiere, John, Bill und ich, uns zum CCP-Kurs ein, neben einer Unbescholtenheitsbestätigung des FBI und der Abnahme von Fingerabdrücken beim Sheriff eine der Voraussetzungen für den Waffenschein, und meine Frau und meine Tochter kamen auch gleich mit.

Im Vergleich zu anderen Staaten, wo ein wochenlanger Lehrgang mit anschließender Prüfung absolviert werden muss, verlangt Virginia nur die Teilnahme an einer Art Micky Maus-Seminar. Zunächst saßen wir mit einem Dutzend weiteren Anwärtern zwei Stunden um einen Tisch, wo wir übten, unsere Waffen auseinanderzulegen und sorgfältig wieder zusammenzusetzen. Anschließend ging es eine Stunde lang auf den Schießstand, um nach kurzer Einführung in die Für und Wider verschiedener Stand- und Haltungspositionen unser Geschick im Umgang mit den guten Stücken unter Beweis zu stellen. Die Männer zogen bald lange Gesichter, denn die drei Frauen — darunter meine Frau und meine Tochter — erwiesen sich als wesentlich zielsicherer; zum Abschluss malte meine Frau mit der Smith & Wesson aus acht Meter Entfernung ein Fragezeichen auf die Schießscheibe.

In unserem konservativen, doch manchmal für Überraschungen guten Bundesstaat gilt manchen Leuten Privatbewaffnung schon fast als Bürgerpflicht. So wurde John einmal wegen Geschwindigkeitsübertretung angehalten. Wie üblich, hatte der Cop gleich auf seinem Bordcomputer das Nummernschild des Rasers eingegeben und sich die Daten des Besitzers angeschaut, bevor er bedächtig zu Johns Wagen schritt; wie in den USA in solchen Fällen ratsam, war John in seinem Ford hockengeblieben, ohne sich zu mucksen. »Führerschein und Fahrzeugzulassung bitte.« Und dann: »Haben Sie mir noch was zu sagen?« John wollte schon, während er sein Strafticket auf etwa hundertfünfzig Dollar veranschlagte, duckmäuserisch stottern, er habe halt nicht auf den Tacho geachtet, da erinnerte er sich an die Ermahnung unseres Instrukteurs beim Schießkurs: »Wenn ihr von der Polizei angehalten werdet, gebt sofort die Waffe im Wagen an.« Also erwiderte John: »Ach, Sie meinen sicher mein CCP — hab aber heute meine Pistole zuhause gelassen.« Der Mann in Uniform sah ihn vorwurfsvoll an: »Warum denn das?« — »Na, weil ich gerade aus Washington zurückkomme und mich da nicht strafbar machen wollte.« — »Ach so«, sagte der Cop. »Alles klar. Na, nehmen Sie in Zukunft den Fuß ein bisschen vom Gas. Vielleicht sehen wir uns mal auf dem Schießstand.«

Unmittelbar vor dem Waffenscheinunterricht stellten John, Bill und ich Mitgliedsanträge beim Schützenklub; er bietet mit seinen automatischen Zielscheibenvorrichtungen in der Schießhalle und mehreren Freiluftanlagen weit und breit die einzige Gelegenheit, nach eigener Lust und Laune Schießübungen zu veranstalten, sei es mit Pistolen und Gewehren oder zum Tontaubensport, und an allen möglichen Schießkunstwettbewerben teilzunehmen. Mike und Ben empfahlen uns dem Vorstand, also segelten wir unangefochten durch die Aufnahmeprozedur. Bevor uns jedoch Schlüssel für das abgezäunte Gelände des Klubs und das Klubhaus mit der Schießhalle überreicht wurden, mussten wir einen weiteren Lehrgang absolvieren, wesentlich stringenter als der staatlich sanktionierte Kursus für den Waffenschein und sogar mit einer Abschlußprüfung, bei der einige Klubkandidaten durchfielen. Von den Instrukteuren wurde uns durch stundenlanges Repetieren aller möglichen Vorsichtsmaßregeln eingebläut, dass beim Schießsport Sicherheit an erster Stelle steht; so müssen selbst Waffenscheininhaber die Patronen aus ihren Waffen entfernen, bevor sie sie vom Auto zum Schießstand schleppen, und dürfen sie erst wieder unmittelbar vor der Schießübung laden. In den fünfundfünfzig Jahren, die der Klub hier sein Heim hat, hat es nur einmal einen Unfall gegeben, wobei sich ein Trottel den Daumen abschoss. Trotzdem ist der Klub gegen alle Eventualitäten versichert, was für eine weitere, schwerer zu akzeptierende Aufnahmebedingung sorgte: Man muss gleichzeitig auch der NRA beitreten, denn der reiche Verband kommt hier wie bei vielen anderen amerikanischen Schützenvereinen unter der Bedingung dieser Doppelmitgliedschaft für den Versicherungsschutz auf. Ich zögerte — konnte ich es wirklich mit meinem Gewissen vereinbaren, dieser von einer rechtslastigen Clique geführten Organisation anzugehören? Aber Vorwitz und selektiver Opportunismus siegten; so flattert mir seitdem jeden Monat der »American Rifleman« ins Haus, den ich sogar mit Interesse lese, weil er meine Neugierde mit einer Welt bedient, von der ich früher nie und nimmer auch nur Kenntnis nehmen wollte, von den politisch extremen Abstrusitäten der NRA-Führung über unterhaltsame Selbstverteidigungsstories in der Rubrik »armed citizen« bis zu guten Waffentips. Wir lernten schnell, dass die Leute im Schützenklub, sozusagen an der Basis, meist keineswegs zu den dogmatischen Eiferern gehören; sie sind eher motiviert von der Faszination, die präzise Technologie auf sie ausübt, von der Ästhetik der Instrumente, von schlichter Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Kameradschaft (die Hilfsbereitschaft von Sportschützen ist legendär), oft auch — vor allem die Jäger — von der Nostalgie ihrer Familientradition, und, last but not least, vom spielerisch-sportlichen Zeitvertreib der Schießkünste. Wir sind doch alle nur erwachsene Kinder oder kindische Erwachsene, wenn wir das auch laufend zu maskieren suchen.

Halb im Ernst habe ich mir seit geraumem mit meinen nichtrepublikanischen Schießfreunden überlegt, ob wir nicht eine Organisation — oder wenigstens eine Website — mit dem Titel »Liberals for the Second Amendment« gründen sollten. Vielleicht würde Michael Moore mitmachen. Moore ist seit seiner Meisterschützenjugend Mitglied (sogar »lifetime member«) der National Rifle Association; zwar wurde sein Film Bowling for Columbine weitgehend als »anti-gun« missverstanden, dabei wandte er sich eher gegen die mörderischen Trends in unserer Kultur, wo auf Fernsehbildschirmen und Kinoleinwänden hinter den durchsichtigen Fassaden unseres Abscheus das Böse in so schillernden Farben gezeigt wird, dass es in ansonsten dumpfen Gemütern die Sehnsucht nach Gewalt als Sinn des Lebens zündet. Vor anderthalb Jahren [Anmerkung: also 2004], als Howard Dean noch gute Chancen hatte, demokratischer Präsidentschaftskandidat zu werden, waren wir ekstatisch, hatten die verbohrten Ideologen vom Vorstand der National Rifle Association doch nicht umhin gekonnt, ihm zähneknirschend ihre höchste Bewertung zu verleihen, da er im Gegensatz zu regulierwütigen, wirklichkeitsfremden und elitären Idealisten in der Partei privaten Waffenbesitz befürwortete. Leider gewann John Kerry, ein eigentlich rechtschaffener und kluger Mann, die demokratischen Vorwahlen; im Kontrast zu Howard Dean bewies Kerry das unglückliche Talent, sich durch Kompromisse auf eine Art zu kompromittieren, die die ruchlose Bush-Maschine einer einfältigen Wählermehrheit als Prinzipienlosigkeit verkaufen konnte (wenn es denn eine Mehrheit war — auf die nicht unwahrscheinlichen Wahlbetrügereien der Republikaner will ich hier nicht weiter eingehen). Nun, da die kleinlauten Großkopferten der Democratic Party Howard Dean zum Parteivorsitzenden gekürt haben, bläst der unverblümte Arzt und frühere Gouverneur von Vermont gemeinsam mit einer neuen Führungsgarde demokratischer Politiker im Kongress, wie der aggressiven Nancy Pelosi im Repräsentantenhaus und den Senatoren Harry Reid und Barbara Boxer, zum Großangriff auf die unheilige Allianz an christlichen Fundamentalisten, arroganten Hegemonisten und jenen Profiteuren, die Ethik für ein lächerliches Fremdwort halten. Es gibt wieder Hoffnung — denn mit Dean hört endlich das Rückzugsgejammer der demokratischen Verliererriege auf, und es wird mit scharfer Munition zurückgeschossen. Kein Wunder — Vermont ist nicht nur der liberalste Staat in den Vereinigten Staaten von Amerika, im Repräsentantenhaus vertreten vom unabhängigen Sozialisten Bernie Sanders, sondern auch der einzige, in dem jeder nicht vorbestrafte Erwachsene ohne Lizenz legal Handfeuerwaffen in der Hosentasche oder unterm Rock tragen darf — und das bei einer der niedrigsten Kriminalitätsraten im Land. Obwohl ich nicht Äpfel mit Orangen vergleichen will, gibt der Kontrast doch zu denken: Die Bundeshauptstadt Washington hat eine der höchsten Mordraten in den USA, mit täglichen Feuergefechten zwischen Drogenmafias und Rachefeldzügen krimineller Gangs, bei denen nicht selten Kinder im Kreuzfeuer der Gangster durchsiebt werden, doch haben unbescholtene Bürger kein Recht, sich zu verteidigen, und werden sogar vor den Kadi gezerrt, sollten sie ein Pistölchen im Nachttisch oder ein Kleinkalibergewehr unterm Bett versteckt halten und damit einem Einbrecher die Wade anschrammen.

Grundsätzlich, ohne sowas Schnödes wie Realität in Betracht zu ziehen, pflichte ich den Waffengegnern allerdings bei: Natürlich wäre es schön, gäbe es keine privaten Feuerwaffen, und höchstwahrscheinlich würden Gewaltverbrechen auch in den USA unter solch idealen Zuständen drastisch abnehmen, zumindest anfangs. Das Dumme ist nur, dass die Entwaffnung der Durchschnittsbürger, wie sie in Washington, New York City, San Francisco und einigen anderen Schwerpunkten der Gewaltverbrechen stattgefunden hat, statistisch überhaupt nicht zu einer Verbesserung der Lage beitrug — eher im Gegenteil. Denn Kriminelle scheren sich den Teufel um Waffengesetze, sie finden immer einen Weg, an Ballermänner zu kommen, und wo ausgerenkte Ehegatten keine Schießprügel haben, um den Partner über den Haufen zu knallen (das sind die wenigen Gewalttaten, die gelegentlich von lizensierten Waffenträgern mit registrierten Waffen verübt werden), greifen sie in ihrem Wahn oder ihrer Wut halt zum Beil oder zum Messer oder drücken einfach mit den Händen zu. Praktisch ist naiver Entwaffnungsidealismus nicht bei schätzungsweise über 200 Millionen Handfeuerwaffen im Land, wovon viele illegal oder nicht registriert sind und sich nicht einfach beschlagnahmen lassen, und pragmatisch schon gar nicht. In Amerika, wo Waffenbesitz für ein Gros der Bürger Bestandteil des traditionellen Freiheitsbegriffs ist und bleibt, dafür sorgt schon die Redefreiheit, ist ein Sinneswandel unmöglich zu erreichen, wenn man Otto Normalverbraucher das Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung nimmt, während sich Ganoven aus allen möglichen Quellen weiterhin bis an die Zähne bewaffnen und die Straßen unsicher machen können.

Skrupellose republikanische Politiker nutzen diesen einfachen Tatbestand aus, indem sie die Rattenfängertöne der NRA-Führungsgarde nachpfeifen und damit Millionen sogenannter »Single Issue Voters« hinter sich versammeln, Wähler, für die an der Wahlurne (bzw. am Wahlcomputer) einzig die Haltung zum Second Amendment als Litmustest gilt. Dabei ließe sich das Blättchen leicht wenden, würden sich landesweit viel mehr als bisher liberale Demokraten für das Recht unbescholtener Bürger auf das Tragen registrierter Handfeuerwaffen einsetzen; eine Art »Führerschein« nach striktem Sicherheitstraining müsste selbstverständlich sein.

Ganz so wie bei der weltweiten Lieblingswaffe, dem Automobil.

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