Zum ersten Mal aufgefallen ist es mir irgendwann letztes Jahr im Herbst, als ich an einem Sonntagnachmittag durch die ziemlich menschenleere Hamburger Innenstadt lief: Ein Pulk von hauptsächlich jungen Männern – mehrere Dutzend – blockierte den Großteil des Gehwegs vor der fast zehn Meter hohen Fensterfront des geschlossenen Apple Store. Ich war verblüfft. Was machen die da? Na ja, die daddeln alle an ihren Smartphones rum – und schlagartig ging mir das Licht auf, meine Verblüffung war verflogen: Der Apple Store hat ein offenes WLAN, das auch sonntags funktioniert!
Einen der jungen Männer kannte ich. Ein afghanischer Flüchtling, den ich ein paar Tage vorher bei der Flüchtlingshilfe am 700 Meter entfernten Hauptbahnhof gesehen hatte (er wollte, wie die meisten, die hier ankamen, weiter nach Skandinavien, wo schon Familie oder Freunde von ihm lebten und hatte deshalb keinen Asylantrag in Deutschland gestellt). All die anderen “südländisch aussehenden” Männer waren offensichtlich ebenso Flüchtlinge. (Übrigens trifft das mit dem “südländischen Aussehen” nur sehr eingeschränkt zu: Es gibt viele rotblonde Syrer mit grünen oder blauen Augen, und Afghanen, die asiatisch aussehen.).
Der Firma Apple gegenüber empfinde ich nun ohnehin schon seit langem eine beinahe grenzenlose Dankbarkeit – seitdem ich nämlich meine beiden letzten Arbeiten im Studium auf meinem Apple Macintosh schrieb, der mir die Fußnoten wie mit Zauberhand einfügte und mir das Neutippen halber Arbeiten auf der elektrischen Schreibmaschine mit Termindruck im Nacken ersparte – ganz zu schweigen von der Tippex-Sauerei, die ich vorher immer angerichtet hatte. Aber diese Dankbarkeit war unbedeutend und kam mir sogar lächerlich vor im Vergleich zu meinen Gefühlen angesichts der vielen Menschen vor dem Apple Store, die hier nur dank Apple kostenlos mit ihren weit verstreuten Familien kommunizieren konnten: Mir kamen beinahe die Tränen, und ich wollte gleich, wenn ich wieder zuhause war, eine email an Apple in Cupertino schreiben, um der Firma dafür zu danken. Na ja, wie das bei mir mit guten Vorsätzen oft so ist, habe ich die email dann doch nicht geschrieben…
Das Prinzip der Störerhaftung war staatlich gewollt und asozial
Warum aber mussten die Flüchtlinge eigentlich überhaupt 700 Meter laufen und dann in der Kälte vor dem Geschäft stehen, statt im Hamburger Hauptbahnhof bei McDonald’s im Warmen zu sitzen, um mit ihren Familien sprechen zu können? Diese Frage stellte ich mir allerdings nicht wirklich, weil ich die Antwort ja schon kannte: McDonald’s – so wie beinahe alle anderen Unternehmen in Deutschland – hatten Angst davor, ihr WLAN zu öffnen, weil sie befürchten mussten, vom deutschen Staat als “Störer” in Haftung genommen zu werden, falls irgendjemand, der ihr offenes WLAN benutzt, dabei irgendeine Urheberrechtsverletzung begeht. Die Haftungssummen dafür können schnell in die Hunderttausende gehen. Außer Apple war offenbar niemand in Hamburg bereit, dieses Risiko einzugehen – jedenfalls nicht in Hauptbahnhofnähe.
Das Prinzip der Störerhaftung – das es nur in Deutschland gibt und das nun seit Jahren dafür sorgt, dass Deutschland in Sachen Internetnutzung weltweit schlechter dasteht als sogar fast jedes Entwicklungsland mit Ausnahme von Nordkorea – ist nun von der Regierungskoalition offenbar endlich gekippt worden, wie Spiegel-Online meldet. Ich bin sehr froh, dass der deutsche Staat dieses von ihm selbst errichtete und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt schwachsinnige Kommunikationshindernis nun wieder abbaut. Bin ich dankbar? Nein, dem deutschen Staat keineswegs – denn der hat uns ja nur jene Freiheit zu kommunizieren wiedergegeben, die er uns vorher unter Androhung hoher Strafen entzogen hatte. Apple aber bleibt für mich ein Held.