Was bin ich?
Damals, als Robert Lembke im Fernsehen heitere Ratespiele veranstaltete, war die Antwort noch einfach. Die Frage zielte auf das, was der Befragte zu seinem Lebensunterhalt tat, also auf seinen Beruf. Es war der Beruf, so wurde offenbar unterstellt, der die Identität eines Menschen ausmachte, das war es, womit sich einer identifiziert: mit einer Profession – und erst danach und auch nur vielleicht mit einer Gruppe, einer Sprach- oder Kulturgemeinschaft, einem Landstrich, einer Kirche, einer Nation.
Vielleicht hätte die Frage vor 1945 auf etwas anderes gezielt und die Antwort hätte womöglich gelautet: „Ich bin 40 Jahre alt, komme aus Breslau, bin Schlesier, katholisch, verheiratet, habe drei Kinder und war bis 1933 SPD-Mitglied.“
Doch nach Nationalsozialismus und Krieg war die Selbstdefinition über eine „Volksgemeinschaft“ tabu, hatten Vaterland, Nation und „Deutschland“ einen bitteren Klang. Und viele der Flüchtlinge und Vertriebenen vermieden es, auf ihre Herkunft aus Schlesien oder Ostpreußen oder dem Sudetenland zu verweisen und versuchten, sich ohne Aufsehen irgendwie durchzuschlagen. Denn nicht nur die Ostpreußen und die Bayern waren einander gründlich fremd und nicht selten spinnefeind.
In Niedersachsen gehörte meine Familie zum „tolopen Pack“, zu den Dahergelaufenen. Die Einheimischen unterschieden sehr genau zwischen sich und den vielen, die nicht dazugehörten. Und so gab es in den harten Nachkriegsjahren womöglich nur eine Währung, nur eine lingua franca, nur eines, das alle verstanden: Arbeit.
Was bin ich? Jemand, der auf ehrliche Weise sein Geld verdient.
Das Wirtschaftswunderdeutschland definierte sich über seinen Fleiß. Über das, was Franz-Josef Degenhardt ein dutzend Jahre später als „Vatis Argumente“ spöttisch besang: „Ärmel aufkrempeln. Zupacken. Aufbauen.“
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