Von Moritz Mücke.
Christopher Nolan hat bislang alles zu Gold gemacht. Ob Weltraumsaga, Traum-Odyssee, oder Superheldenepos – alles, was der Mann anfasst, verwandelt sich in einen finanziellen Sturzbach für die großen Hollywood-Studios. Dass ihm das jetzt auch mit „Dunkirk“ gelungen ist, ist allerdings alles andere als zwangsläufig. Schließlich handelt der Film von der Evakuierung der britischen Expeditionstruppe aus der von der Wehrmacht eingekesselten Stadt Dünkirchen. In der Weltgeschichte ist es bis dahin vermutlich noch nie vorgekommen, dass irgendeine Kultur eine Soldatenflucht als heroisch angesehen hat. Im antiken Sparta bevorzugten die Hopliten-rieger den Tod gegenüber der Flucht, denn nach der Heimkehr waren die als Feiglinge wahrgenommenen dermaßen verhasst, dass sie sich oft das Leben nahmen. Der Tod auf dem Schlachtfeld war wenigstens ehrenhaft.
Kriegsfilme beschäftigen sich normalerweise mit heldenhaften Siegen, aber, wie der damalige Premierminister Winston Churchill es ausdrückte, Kriege werden nicht durch Evakuierungen gewonnen. Der Grund, warum Nolans Film dennoch so sehenswert ist, liegt darin, dass er es schafft, das Heldenhafte an der Flucht ebenso menschlich wie visuell überzeugend auf die Leinwand zu bringen. Die britische Evakuierung war heldenhaft, weil es feige gewesen wäre, die eigenen Soldaten in den sicheren Tod zu schicken, nur um im Sinne einer falsch verstandenen Militärethik das Gesicht zu wahren. Was wirklich zählte war, die Truppen – unter dem mitreißenden Einsatz ziviler Freiwilliger – aufs englische Festland zu retten, um die Möglichkeit eines Sieges gegen die Wehrmacht zu bewahren.
Nolans vielleicht cleverster Handgriff ist dabei der weitgehende Verzicht darauf, die Wehrmacht in Aktion zu zeigen. Es wäre schwer, das militärische Geschick der Deutschen zu thematisieren, ohne dabei ein Kompliment zu implizieren. Diesem Dilemma weicht „Dunkirk“ geschickt aus, indem der Film sich ausschließlich auf den britischen Rückzug konzentriert. Diese Fokussierung geht so weit, dass sich mittlerweile zahlreiche Franzosen beschwert haben, ihre Seite der Geschichte komme in dem Film zu kurz. Doch Nolans konsequente Haltung hat ihre Berechtigung: Großbritannien hat sein ganz eigenes Trauma mit der Nazi-Barbarei, und es wäre vermessen, dem Land die eigene Erinnerung zu verwässern.
Keiner hätte das besser verstanden als Winston Churchill, einer der größten Psychologen unter den erfolgreichen Staatsmännern. Von Hass auf Deutschland war er nie getrieben. Vor dem ersten Weltkrieg lobte er Bismarcks Sozialreformen und wollte auf ihrer Basis eine Sozialversicherung für England einführen. Als eine Zeitschrift, der Spectator, ihn im Jahre 1909 für seine Pläne scharf kritisierte, hielt Churchill eine Rede, in der mehrfach den ehemaligen deutschen Reichskanzler zitierte. Schließlich sagte er – medienkritisch wie heute wohl nur Donald Trump – „Ich denke Prinz Bismarck kann besser beurteilen, wie man ein Land stärker macht, als der Herausgeber des Londoner Spectator.“
"Die Sieger vergessen. Die Besiegten erinnern sich"
Ähnlich urteilte er im Jahre 1919 über den Versailler Vertrag. Getrieben von der seltensten historischen Weitsicht befand er, der Friede sei gegenüber den Deutschen so unfair, dass er zu deren Radikalisierung führen könnte. „Die schlimmste Sache in der Welt ist es, einen großen Krieg zu verlieren,“ schrieb er für eine Zeitung, „die zweitschlimmste Sache in der Welt ist es, einen großen Krieg zu gewinnen. Die Sieger vergessen. Die Besiegten erinnern sich.“ Anders gesagt: Deutschland wird Rache wollen, genau wie die Franzosen nach ihrer Niederlage von 1871 Rache wollten. (Diese Einsicht Churchills ist auch heute noch hochaktuell: Man mache sich etwa gewiss, wie die arabisch-islamische Zivilisation früher zu großen erfolgreichen Feldzügen in der Lage war, aber spätestens im 19ten Jahrhundert vom Westen hoffnungslos abgehängt wurde. Wir haben das vergessen. Sie aber erinnern sich.)
Als der antike Historiker Thukydides im fünften Jahrhundert vor Christus den Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta als „die größte Bewegung der Weltgeschichte“ bezeichnete, hätte er sich nie träumen lassen, wie im Zweiten Weltkrieg die Briten (und ihre Verbündeten) sämtliche Räder in Bewegung setzen würden, um die bis dahin wohl riesigste Aufgabe der Menschheit zu übernehmen, nämlich den Nationalsozialisten das Handwerk zu legen. Aber wofür genau?
In Großbritannien nicht alles Gold, was glänzt – und damit meine ich weder „Dunkirk“, noch Churchill. Vielmehr gibt es heute eine bedauernswerte Tendenz des Einknickens vor der Barbarei. Beschwor Churchill in seiner berühmte „Blut, Mühe, Tränen, und Schweiß“-Rede die wahre Größe des britischen Geistes, nur damit 70 Jahre später moderne, pakistanisch-britische Barbaren in dem als Rotherham-Missbrauchsskandal berühmt gewordenen, sexuellen Fanal knapp 1400 Kinder und Jugendliche in die Sklaverei getrieben wurden? Das Verbrechen hätte verhindert werden können, wenn lokale Politiker und Polizisten sich nicht davor gefürchtet hätten, im Ernstfall als rassistisch oder „islamophob“ dazustehen. Genauso drückerhaft waren die Reaktionen britischer Politiker auf die Enthauptung des Soldaten Lee Rigby auf offener Straße in London durch einen islamischen Somalier, oder auf die jüngsten Terrorattacken in Manchester.
Kann sich jemand vorstellen, wie Winston Churchill verachtet worden wäre – und zwar zurecht – hätte er sich geweigert, den Nazis die Stirn zu bieten, um nicht als „germanophob“ abgestempelt zu werden? Über die von seinen politischen Gegnern lancierten Labels hat Churchill sich freilich nie gekümmert, doch wer heute seine schriftlich geäußerten Ansichten zum Islam öffentlich vorträgt, wird von der Polizei verhaftet. Die Barbarei hat viele Gesichter. Großbritannien stellt sich ihr nicht mehr ohne Vorbehalt, weil der Geist der politischen Korrektheit die Demokratie paralysiert. Man möchte – ihr nicht unerhebliches Kulturgut Harry Potter zitierend – ihnen Dumbledores Frage, Snapes Jugendliebe betreffend, zurufen, „Nach all diesen Jahren?“ Snapes Antwort: „Immer.“
Großbritannien muss die Barbarei bekämpfen. Immer.
Moritz Mücke ist ein Ph.D.-Student in Politik an der Graduiertenschule des Hillsdale College in Michigan. 2015 war er ein Publius Fellow am Claremont Institute.