Vera Lengsfeld / 11.06.2015 / 20:43 / 0 / Seite ausdrucken

Warum Heimkinder der DDR im Rechtsstaat kaum eine Chance auf Rehabilitierung haben

In vierzig Jahren DDR haben fast eine halbe Millionen Kinder und Jugendliche die 474 Kinderheime, 38 Spezialkinderheime, 32 Jungenwerkhöfe und den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau durchlaufen. Davon leben ca. 234 000 noch unter uns. Im Vergleich zu anderen Verfolgtengruppen ist die gesundheitliche und wirtschaftliche Lage der ehemaligen Heimkinder besonders schlecht, weil sie schon in jungen Jahren Gewalt und gravierendes Unrecht erlitten haben. Ihre Rehabilitationsanträge werden zu 95% abgelehnt.

Warum das so ist, hat Anne-Luise Riedel- Krekeler in ihrer verdienstvollen Dissertation untersucht, die nun als Buch mit dem staubtrockenen Titel „Die Rehabilitierung ehemaliger Heimkinder der DDR nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz“ erschienen ist. Hinter dem zum Teil leider sehr schwer lesbaren Juristendeutsch verbirgt sich ein brisanter Stoff.

Im ersten Teil untersucht die Autorin, wie sich die DDR ihre eigenen gesetzlichen Grundlagen für die Einweisung und die Betreibung von Kinderheimen geschaffen und dafür gesorgt hat, dass solche Heime bald nur noch vom Staat betrieben werden konnten. Wichtigster Schritt war, dass die Zuständigkeit für Heimeinweisungen, die bis dahin bei den Vormundschaftsgerichten gelegen hatte, an die Jugendhilfe übertragen wurde. Die DDR war damit der einzige Staat im Ostblock, der Einweisungen in staatliche Erziehungsanstalten ohne gerichtliche Entscheidung wahrnahm. Das lag in der Logik des Systems, das den Eltern staatliche Erziehungsziele, ihre Kinder zu „staatsbewussten Bürgern“ zu erziehen, in der Verfassung vorschrieb. Die Familie genoss in der DDR keinen Schutz vor staatlichen Eingriffen, sondern hatte vor allem Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen.

Eine besondere Verschärfung für Heimkinder trat mit der „Anordnung über Spezialheime für Jugendliche“ von 1965 ein, die deutlich von „Normalkinderheimen“ abgegrenzt wurden. Neben den Spezialkinderheimen dienten Jugendwerkhöfe zur Sicherheitsverwahrung von Jugendlichen. Die Einweisung erfolgte ausschließlich durch die Jugendhilfe. Nur in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau kamen die Kinder aus anderen Heimen durch interne Zuweisungen.

Es gab auch „freiwillige Erziehungsaufträge“ zwischen Eltern und Jugendhilfe. Sie wurden vor allem im Zusammenhang mit Strafverfahren gegen Jugendliche geschlossen, weil die Eltern so ihren Kindern das Jugendgefängnis ersparen wollten.Was den Eltern nicht gesagt wurde, war, dass freiwillige Erziehungsaufträge von ihnen nicht widerrufen werden konnten.Solche Vereinbarungen wurden im erheblichen Umfang auch von Funktionärseltern benutzt, die auf diese Weise ihren unbotmäßigen Nachwuchs ins Heim verfrachteten.

Die Einweisungsgründe scheinen denen in der BRD im Wortlaut ähnlich gewesen zu sein. Allerdings verbargen sich hinter „Schulbummelei, Rowdytum, asoziales Verhalten oder Arbeitsscheu“ oft Repressionen gegen die Jugendbewegungen, ob Beatniks, Punks oder Skinheads. Die DDR bekämpfte in regelrechten Repressionswellen jugendliche Subkulturen, deren Anhänger und Vertreter im Jugendwerkhof landeten.
Gegen die Beatmusikfans war die Verfolgung so stark, dass kurzzeitig ein „Arbeits- und Erziehungslager“ in Rüdersdorf bei Berlin eingerichtet wurde, wo die Jugendlichen Zwangsarbeit im Kalkwerk Rüdersdorf verrichten mussten.

In allen Jugendwerkhöfen stand Missbrauch der Jugendlichen als billige Arbeitskräfte im Vordergrund. Es handelte sich überwiegend um schwerste, schmutzige, gefährliche Hilfsarbeiten. Eine Berufsausbildung, wie offiziell behauptet wurde, gab es nicht. Die Schulausbildung endete anfangs mit der zehnten, später nur noch mit der achten Klasse.Die Strafen schlossen auch Prügel ein, obwohl die per Gesetz verboten waren. Es gab Essens- und Schlafentzug, Essenszwang, Trinkverbot, Strafduschen mit eiskaltem Wasser, Arrest, sexuelle Übergriffe, auch von den „Erziehern“.

Eine besonders brutale Einrichtung war der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau, der auf dem Gelände eines ehemaligen Gefängnisses betrieben wurde. Es gab drei Meter hohe Mauern, Wachtürme, Kletterschutz, Suchscheinwerfer, Hundelaufstreifen, Vergitterungen, Arrestzellen, inklusive Dunkelarrest und eine Schleuse. Lediglich die Trennmauern zwischen den Zellen wurden entfernt, um größere Schlafräume zu schaffen. Die Zellentüren blieben. Die „Einweisung“ dauerte drei Tage. Die Jugendlichen mussten sich vollständig entkleiden, ihre Körperöffnungen untersuchen, sich die Haare scheren lassen. Tätowierungen wurden erfasst und durch ewiges Bürsten entfernt.
Alle persönlichen Dinge wurden weggenommen, dann folgten drei Tage Einzelarrest. Wenn der Jugendliche danach einer Gruppe zugeteilt wurde, achtete man besonders darauf, dass er niemanden in der Gruppe kannte. Freigänge auf dem Hof waren untersagt, ebenso Exkursionen nach draußen. Eine beliebte Schikane war der „Torgauer Dreier“: Liegestütz, Hocke, Hockstrecksprung, bis zum Umfallen. Unterricht gab es eine Stunde in der Woche, meistens Staatsbürgerkunde.

In den „Normalheimen“ durften die Kinder in die örtliche Schule gehen. Dort waren sie allerdings krasse Außenseiter, die von den Lehrern nicht mit ihrem Namen, sondern mit „Heimkind“ angesprochen wurden. Auf Grund dieser Behandlung leiden die ehemaligen Heimkinder bis heute unter ihrer Stigmatisierung. Dieses Gefühl wird durch die fehlende Empathie der Gesellschaft für ihr Schicksal verstärkt. Dabei wäre es geboten, diesen Menschen durch eine Rehabilitierung zu vermitteln, dass sie keine Schuld tragen und die Gesellschaft bereit ist, die Verantwortung für die negativen Heimerfahrungen und ihre Folgen zu übernehmen. Aber nur wer Insasse von Torgau oder dem Lager Rüdersdorf war, hat Anspruch auf vollständige Rehabilitierung.

Zwar wird seit 2010 in §2 des StuReHag die Unterbringung in einem Heim ausdrücklich erwähnt, in der Praxis werden von der Rechtssprechung als freiheitsentziehende Maßnahme nur Aufenthalte in Jugendwerkhöfen, Durchgangsheimen und Aufnahmeheimen gewertet. Alle anderen Formen, auch die Spezialheime, bleiben ausgenommen. Da es aber keine Heime ohne Aufenthaltsbeschränkung und strenge Aufsicht gab, ist diese Praxis diskriminierend.

Auch waren Kinder oft nicht direkt von politischer Verfolgung betroffen, sondern kamen ins Heim, weil ihre Eltern inhaftiert wurden. In diesem Fall werden sie nur rehabilitiert, wenn es einen aufnahmebereiten Verwandten gab, dessen Angebot, sich zu kümmern, nicht berücksichtigt wurde. Keine Chance hat auch, wer auf Grund einer „freiwilligen Erziehungsauftrags“ ins Heim kam, selbst wenn man von den Eltern dorthin als Strafmaßnahme abgeschoben wurde. Nicht rehabilitiert wird, wer wegen „Rowdytums“ eingewiesen wurde, selbst wenn nachweisbar ist, dass dies „Verletzung sozialistischer Normen“ bedeutete.

Zusammenfassend gesagt, lehnen Gerichte die Feststellung der Rechtsstaatswidrigkeit der DDR- Heimpraxis aus zwei Gründen ab:
Erstens seien die Zustände in den DDR- Heimen mit denen der BRD- Heime vergleichbar. Zweitens hätten die Erziehungsmethoden den damaligen Auffassungen entsprochen. Dass die Zustände in den Heimen der BRD rechtswidrig waren, stellte der „Runde Tisch zur Heimerziehung in der alten Bundesrepublik“ fest. Wenn aber die Zustände in DDR und BRD vergleichbar sind, muss dies auch für die juristische Bewertung gelten. Das Argument, dass die Rechtswidrigkeit der Verhältnisse in BRD- Heimen die Rechtswidrigkeit der Zustände in DDR- Heimen aufhebe, ist völlig absurd. Das zweite Argument, die Erziehungsmethoden hätten den damaligen Normen entsprochen ist ebenso absurd, denn die Prügelstrafe, die in DDR- Heimen praktiziert wurde, war ja per Gesetz verboten.

Immer wieder wird auch argumentiert, die Heimeinweisung habe der Schul- und Ausbildung gedient, obwohl in den Jugendwerkhöfen werder eine Schul- noch eine Berufsausbildung möglich war. Ein schlimmer Schlag ins Gesicht der ehemaligen Heimkinder ist es, wenn in den Ablehnungen der Rehabilitierung ganze Abschnitte aus den DDR- Jugendhilfeakten übernommen werden.

Auch wenn sich die Politik dazu durchgerungen hat, einen Heimkinderfonds zu schaffen, aus dem DDR- Heimkinder entschädigt werden können, zeigt der laxe Umgang mit dieser Problematik, wie gleichgültig die Gesellschaft den Verfolgten des DDR- Regimes gegenübersteht.
Den Systemstützen wurden per Verfassungsgerichtsbeschluss die Renten erhöht und nachgezahlt. Das betrifft auch die „Erzieher“ von Torgau, Rüdersdorf und anderen Jugendwerkhöfen, während die Verfolgten bis heute unter ungünstigsten Bedingungen um ihr Recht kämpfen müssen.

Das ist einer demokratischen Gesellschaft unwürdig.

Anne- Luise Riedel- Krekeler: Die Rehabilitierung ehemaliger Heimkinder der DDR nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz, Berlin, 2015

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