Tamara Wernli / 16.06.2016 / 06:15 / Foto: Mateussf / 2 / Seite ausdrucken

Warum Heimatdichter und Nationalspieler gefährlich sind

Neulich habe ich mich von Heimatgefühlen hinreissen lassen. Das war dumm, denn heutzutage kann es einen Ruf ruinieren. Auslöser dieses warmen, positiven Gefühls für mein Land, meine Schweiz, war ein unschuldiger Wasserrohrbruch, der Samstagnachts in meiner Wohngegend die gesamte Wasserversorgung lahmlegte.

Wo eine solche Knacknuss in Frankreich oder Amerika (wo ich einst für längere Zeit lebte) von zuständiger Stelle mit kultivierter Gelassenheit angegangen wird, wird sie bei uns in der Schweiz – Deutschland könnte man wohl miteinschliessen – mit der Ausdauer und Effizienz von Duracell-Männchen abgewickelt: Sonntagmorgen 08:00, Zettel im Lift informiert über das Leck. 08:15 Team vor Ort sucht Strasse nach Rohrbruch ab. 08:30 Team reisst Strasse auf. 12:00: Wasser fliesst – Leute sitzen wieder auf dem Klo und denken darüber nach, wie schlimm doch alles ist in unserem Land.

Und vielleicht haben sie ja recht. Und mein Stolz auf ein Land, er ist doch im Grunde genommen durch nichts gerechtfertigt. Wie kann man denn auf etwas stolz sein, das man sich selber nicht erarbeitet hat, wofür man nichts kann?

Auf Heimatdichter verzichten!

Die Mutation zur kleinen Patriotin war also ein Irrtum. Und nicht nur das. Denn das Problem bei Patrioten ist ja, dass sie mit dem positiven Bezug zu ihrer Nation unvermeidlich auch Nationalisten sind. Sie werden irgendwann rassistische Gewalt anwenden und weiss Gott was alles. Laut den jungen Grünen Deutschland ist es eben genau dieser "Nationalstolz, der Gewalt und nationalistisches Gedankengut stärkt". Das von ihnen geforderte Fahnenboykott für die Fussball-EM hat eigentlich weltretterische Züge. "Patriotismus=Nationalismus=Fussballfans Fahnen runter" steht da auf der Facebookseite der Grünen Jugend Rheinland-Pfalz. Damit sind sie übrigens nicht die ersten; wegen Gefahr von Nationalismus und wegen "Militarisierung in der ganzen Welt" ("Blick") riefen die Jungsozialisten Schweiz 2014 anlässlich unseres Nationalfeiertages zu Verzicht auf Schweizerkreuz-Flaggen auf.

Wenn jetzt also aus Stolz und Patriotismus Nationalismus wird, gilt es einiges zu überdenken: Wir sollten Verbundenheitsgefühle grundsätzlich eindämmen (Gefahr wegen Fremdenfeindlichkeit). Auf Heimatdichter verzichten (Gefahr wegen Selbstüberhöhung). Geschichtsfächer an Schulen abschaffen (Gefahr wegen Minderwertigkeitskomplex oder etwas in der Art). Sportler mit Landeszeichen auf dem Trikot einsperren (Gefahr wegen Radikalismus). Turniere mit Nationalbezug streichen (Gefahr wegen Militarisierung). Nationalitäten abschaffen (Gefahr wegen Isolationismus). 

Keine Fahnen=keine Nationalität=keine Staaten=Anarchie=kein Sozialstaat. Moment, kein Sozialstaat? Wer zahlt dann meine Leistungen, mein Stipendium, meine Rente? Also so betrachtet ist die ganze Idee mit dem Fahnenboykott selbstverständlich sau blöd.

Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst.  In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen.

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Leserpost

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Tom Knorke / 16.06.2016

“Wie kann man denn auf etwas stolz sein, das man sich selber nicht erarbeitet hat, wofür man nichts kann?” - Aber wir erarbeiten uns doch alle gemeinsam das Land, auf welches wir stolz sein können und wollen. Warum sollten wir aber auch nicht stolz sein dürfen auf die Leistungen anderer Menschen, zum Beispiel unsere Eltern, welche dieses Land ebenfalls mitgestaltet haben, jeden Tag, mindestens über die Steuern, über die abgegebene Stimme bei der Wahl, durch das Aussprechen einer (möglichst eigenen) Meinung?

Daniel Sunnus / 16.06.2016

Bei meiner gestrigen Zeitungslektüre musste auch ich erfahren, dass mein schwarz-rot-goldenes Fähnchen am Balkon ab sofort “Flaggenfaschismus” sei. Sind die denn alle bekloppt geworden? Oder ist die “Grüne Jugend” so jung, dass sie sich nicht ans Sommermärchen 2006 erinnern kann? Man möchte diesen Grünlingen und Milchgesichtern in Abwandlung des Songs von Balu, dem Bären aus dem Dschungelbuch, zurufen: Probiert’s doch mal mit Dankbarkeit, mit Ruhe und mit Dankbarkeit… Dankbarkeit für das, was unser großartiges Land (immer noch) an Chancen und Gelegenheiten bietet, stolz zu sein. Hoffentlich auch auf unsere Fußball-Nationalmanschaft während dieser EM.

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