Roger Koeppel, Gastautor / 26.02.2016 / 22:16 / 4 / Seite ausdrucken

Warum die Briten trotz allem in der EU bleiben werden

Von Roger Köppel

Die Zeitungen sind voll mit Kommentaren zu den Verhandlungen zwischen Brüssel und London. Premier Cameron kam mit ein paar Zugeständnissen nach Hause, die seinem Land eine gewisse Autonomie und Schutz vor allzu frechem Sozialmissbrauch bringen sollen. Es war nicht viel, was Cameron herausholte. Trotzdem bin ich ziemlich sicher, dass die Briten im nächsten Juni nicht für einen Austritt aus der Europäischen Union stimmen werden.

Die Gründe dafür sind weniger rationaler als psychologischer Natur. Die Briten sind eine ehemalige Weltmacht. Sie haben innerhalb der letzten anderthalb Jahrhunderte ihr Weltreich und ihre globale Vormachtstellung an die Amerikaner verloren. Der Phantomschmerz nagt, was die grosse Zahl an erfolgreichen Büchern erklärt, die sich melancholisch mit dem politischen Geltungsverlust beschäftigen. Die Briten schwelgen in Erinnerungen an ihre Könige, ihre militärischen Erfolge, ihre einstige Grösse. Deshalb werden sie, murrend zwar, aber trotzdem, in der EU bleiben.

Um Länder und Völker zu verstehen, muss man ihre Geschichte kennen. Die Geschichte Europas ist die Geschichte ihrer missratenen Eroberungen. Am erfolgreichsten die Römer, dann die Germanen, die Spanier, die Franzosen und die Deutschen haben es alle der Reihe nach versucht. Ihre Hegemonien endeten über kurz oder lang in Niederlagen oder Katastrophen, während die Briten auf Halbdistanz das Zünglein an der Waage spielten. Nach den letzten beiden verheerenden Weltkriegen entstand aus rauchenden Trümmern die EU als Selbsthilfegruppe von Gescheiterten, die neuerdings der Wunsch einte, ihre Grossmachtfantasien nicht mehr kriegerisch gegen, sondern friedlich mitein-ander auszuleben.

Die EU hat seit ihren Anfängen eine merkwürdige Doppelnatur. Zum einen ist sie eine Art Selbstbindungsmechanismus, der die frühere Gefährlichkeit der europäischen Nationalstaaten im Kollektivismus gemeinschaftlicher Institutionen entschärfen will. Wie frischgeheilte, allerdings unheilbar sich selbst misstrauende Alkoholiker, die einst im Suff ihre Frauen erschlugen, haben sich die europäischen Nationen Fesseln und Rituale auferlegt, um den Räuschen des Nationalismus und des Eigenstolzes zu entgehen. Brüssel ist das Zentrum dieser politischen Trinkerheilanstalt und als solche ganz bewusst schmucklos, ja geradezu steril gehalten, als ob der frühere Fahnenzauber und nationalpatriotische Überschwang, der ins Massenmorden zweier Weltkriege umschlug, auch architektonisch auf ewig gebannt werden müsse.

Zum anderen aber wurde die EU immer auch vom Nachglühen jener nicht totzukriegenden Reichsidee beflammt, die seit dem Untergang der Römer durch die Hirne der meisten europäischen Politiker geistert. In den keimfreien Kathedralen der EU strahlt die Restwärme der früheren, oft eingebildeten Grossartigkeit verlockend nach. Es ist das dreckige kleine Geheimnis der Brüsseler Euro-Elite, dass hinter der Pseudo-Bescheidenheit der grauen Glasbauten und den scheindemokratischen Endlossitzungen, in denen sich Funktionärslegionen über längst verabschiedete Communiqués beugen, immer noch der alte Wille zur Macht durchdrückt. Die EU ist ein faszinierendes Theater der Illusionen. Nicht machtlos und längst nicht so mächtig, wie es sich die Beteiligten einreden, aber immer noch mächtig genug, um den Ex-Grossmächten eine Art Ersatzdroge für ihre verblichenen Imperien zu liefern.

Die Briten hängen an dieser Droge. Sie werden die EU kaum preisgeben, genauso wenig wie die Deutschen, die Franzosen, die Spanier oder die Italiener. Eine der unheilvollsten Eigenschaften dieser EU, die an manchen Stellen giftige Verwesungsdämpfe abgibt, besteht darin, dass sie die an ihr Beteiligten in kaum auflösbare Abhängigkeiten hineintreibt. Die Politiker sind süchtig, weil sie auf der europäischen Bühne auftrumpfen und jemand sein können. Die EU bietet willkommene Fluchtwege aus den konkreten Verantwortlichkeiten national begrenzter und demokratisch kontrollierbarer Politik. Nationale Politiker blühen regelrecht auf, wenn sie in Brüssel die Welt retten dürfen, während sie es zu Hause weder fertigbringen, das Asylrecht durchzusetzen noch die Staatshaushalte einigermassen im Gleichgewicht zu halten.

Dies alles ist brandgefährlich, und es wird noch gefährlicher dadurch, dass mittlerweile auch die EU-Mitgliedsländer heillos ineinander verstrickt und verwirbelt sind, ohne dass auch nur im Entferntesten ein demokratisch-rechtsstaatliches Verfahren in Sicht wäre, das die Handlungsfähigkeit dieses störungsanfälligen Geflechts gewährleisten könnte. Die Abhängigkeiten sind unüberschaubar geworden, und niemand hat einen Plan, wie man den kaum manövrierfähigen, von ansteckenden Krankheiten befallenen Koloss wieder gesunden könnte.

Logisch wäre eine geordnete Schrumpfung, ein institutioneller Rückzug zu flexibleren Formen politischer Zusammenarbeit, aber dazu scheinen die Politiker, und ich vermute: auch die Mehrheit der Stimmbürger, in den tonangebenden Staaten aus den geschilderten Gründen noch nicht in der Lage. Oder finden die Briten unter dem geschmeidigen Verkäufer Cameron am Ende doch die Kraft, sich aus dem Verbund zu lösen? Ich bezweifle es.

Als Schweizer müssen wir uns darauf einstellen, dass die EU ein riskanter Nachbar bleibt. Ein ängstliches Schielen auf Grossbritannien bringt gar nichts. Die Briten sind Mitglied, die Schweiz ist es glücklicherweise nicht, auch wenn es neben Nationalratspräsidentin Markwalder viele weitere Politiker im Bundeshaus gibt, die sich an den Brüsseler Grössenfantasien noch so gerne betrinken würden. Volk und Stände haben es längst gemerkt. Auf rauer See sollte man sein kleines Schiff nicht an einem leckgeschlagenen Supertanker ketten. Ungebundenheit bleibt das Gebot der Stunde.

Roger Köppel ist Chefredaktor der Weltwoche. Dieser Text ist das Editorial der letzten Ausgabe

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Leserpost

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Sönke Joachim Peters / 28.02.2016

Ich denke, Herr Köppel übersieht aus der Schweizer (Frosch?-)Perspektive und die damit verbundene Fixierung auf das britische Weltreich völlig die rechtsstaatlichen Traditionen der Engländer, die auf die Magna Carta von 1215 zurück gehen. Die immer weiter ausufernde EU, mit ihren zentralistischen Attitüden sowie zunehmender Rechtslosigkeit (z.B. den Schengenraum betreffend oder die No-bail-out-Klausel) ist, was viele Briten abschreckt und über einen Austritt aus der EU nachdenken lässt. Der hobby-psychologische Ansatz bezüglich möglicher Phantomschmerzen das Empire betreffend überzeugt mich nicht; vielmehr frage ich mich, inwieweit Herr Köppel tatsächlich die Britische Seele und deren Vorlieben kennt, bzw. nicht kennt. Die vielseitigen Beziehungen, die sich aus dem Commonwealth ergeben, der angelsächsische Hang zur Individualität als auch zum Pragmatismus tauchen in seinen Gedanken auch überhaupt nicht auf, so dass sie am Ziel vollkommen vorbei gehen. Letztendlich scheint mir persönlich, dass “die Briten” generell weit weniger mit ihrem ehemaligen Weltreich beschäftigt sind als Herr Köppel. Man könnte glatt meinen, hier bräche sich lediglich eine Art Minderwertigkeitsgefühl der ewigen Schweizer Provinzialität und eingeklemmten Kleinstaatlichkeit Bahn. Als besonders weltläufig gelten Schweizer ja grundsätzlich nicht (dagegen hilft eine keine Päpstliche Garde); da können die Briten allerdings auf ein reichhaltigen Erfahrungsschatz zurück greifen.

Rolf Permeier / 27.02.2016

Auch wenn ich der Analyse zustimme möchte ich anmerken, dass die Schweiz in Brüssel und den Hinterzimmern von SP bis CVP bereits als EU-Mitglied eingepreist ist. Anders kann ich mir den ruppigen und völlig unangemessenen Umgang der Edlen zu EUkratien mit der Schweiz nicht erklären, deren Vertreter (jedenfalls bislang) gerne, oft und mit Verve den Brüssler Anschlussdiktaten unterworfen haben. Nur mit der selben Logik kann auch das vordegründig völlig unlogische, weil interessenverleugnende Verhalten gegenüber der Türkei erklärt werden. Wer nämlich annimmt, dass die (ebenso gescheiterte ehemalige Großmacht) Türkei zur EU gehört, dem leuchten zwei Dinge sofort ein: 1. Weshalb eine umfassende Grenzsicherung in der Ägäis “unmöglich” ist - weil in der EU überall Schengen gilt, also auch in der Ägäis 2. Weshalb die Türkei mittlerweile an ihrem Südostrand (auf syrischem Territorium) eine Grenzmauer baut - weil das die wahre EU Außengrenze ist und die selbstverständlich wie auch in Südspanien ordentlich geschützt werden muss Ich prophezeihe mal, bis 2025 gibt es: - die Skandinavische Union (ggf ohne Schweden) - die Visegraad Union (ggf mit Rumänien und Bulgarien) - die NAFTA mit Großbritannien, Irland und Island - den Großbalkan von Athen bis Calais (und inklusive Schweiz, falls bei der Ausschaffungsinitiative die “Guten” gewinnen) - kanadisches, australisches oder brasilianisches Bier in meinem Kühlschrank

Carl Jung / 27.02.2016

Widerspruch: Nicht “Alkoholiker, die ihre Frauen erschluglen” sondern Alkoholiker, die ihre Söhne erschlugen. Carl Jung

Frank Jankalert / 27.02.2016

Es stimmt, dass es ein Sprung ins kalte Wasser wäre. Man kann sich fragen, ob es besser wäre auf dem lecken, großen Schiff(die Titanic?) zu auszuharren oder von Bord zu gehen. Anders als Herr Köppel lese aber ich von Verunsicherung auf beiden Seiten des Referendums.  Jedenfalls, wenn die Briten auf Grundlage dieses mickrigen Deals, nicht austreten würden, wäre das Thema sofort wieder auf dem Tisch. Denn von jetzt an wird es in der EU eine ernste Krise nach der anderen geben. Die Briten werden auch nicht die einzigen sein, die den Austritt diskutieren werden. Auch wenn die Briten sich knapp (ein deutliches Ja ist nicht vorstellbar) für den Verbleib ausprechen würden. wäre das Ansehen der EU zu stark geschädigt.

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