Ja, es gibt sie, die Situationen, in denen man sogar in Deutschland merkt, dass das EU-Nachbarland Polen wieder einmal eine neue Regierung hat. So am Dienstag, als der Kulturstaatsminister Bernd Neumann mit der guten Nachricht aus Warschau heimkehrte, die dortige Exekutive habe nichts mehr gegen die Berliner Pläne für ein Dokumentationszentrum zum Thema Vertreibung einzuwenden, werde sich aber formell nicht daran beteiligen. Stellt man letzteres in Rechnung, scheint Neumann allerdings mehr der Überbringer einer diplomatischen Antwort zu sein als einer echten Botschaft…
Stellen wir uns, um der Sache näher zu kommen, zunächst ein paar schlichte Fragen: Was gibt es im Augenblick für akute Probleme zwischen Polen und Deutschland? Im Grunde gar keine. Die polnischen Klempner und Raumpflegerinnen gehen bei uns weiterhin mit der Unauffälligkeit ein und aus, die das Einvernehmen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei Schwarzarbeit erfordert und unsere eigenen Landsleute wandern mit nichts weiter als ihrem Touristencharme bewaffnet durch die polnischen Innenstädte oder lassen in den Masuren die Seele baumeln.
Welche bedeutsamen Kontakte zwischen Polen und Deutschland gibt es sonst noch? Oder ist alles schon so normal wie zwischen Deutschen und Dänen? Wie die gegenseitige Ignoranz zwischen diesen? Natürlich werden dem einen oder anderen spontan diverse Institutionen der Völkerfreundschaft in den Sinn kommen, wie die Europäische Akademie Kreisau, Günter Grass, das Aufenthaltsstipendium für deutsche Schriftsteller in Krakau, der Übersetzer Karl Dedecius und das Deutsche Historische Institut in Warschau.
Trotz dieser geordnet wirkenden Kommunikationslage gab es in den offiziellen Beziehungen der letzten Jahre bekanntlich Ärger, und zwar mehr als genug. Ein Beispiel dafür, wie sich die Politik Themen verschafft? Zum Flaggschiff des Konflikts wurde das vom Bund der Vertriebenen und dessen resoluter Chefin Erika Steinbach geplante Zentrum gegen Vertreibungen. In Teilen der polnischen Öffentlichkeit hat dieses zu einem wahren Rumor geführt, so als würden wir uns nicht gemeinsam in der EU befinden sondern mitten im Kalten Krieg. Wenn damals der Eiserne Vorhang zwischen uns lag, so sind es heute, wie man bisweilen feststellen konnte, Welten, die uns trennen. Es zeigte sich ein weiteres Mal, dass, mehr noch als der berüchtigte „Revanchismus“, die Verteufelung dieses Revanchismus lebt.
Gerade die polnischen Antikommunisten pflegen diese Sprachregelung so exzessiv, als hätten sie ein Blackout, und wüssten nicht mehr, wer sich dieser Art Propaganda in der Nachkriegszeit erfolgreich bediente, nämlich ihre Feinde, die Kommunisten. Der Rhetoriktransfer ist wohl eine besondere Spielart der osteuropäischen Postmoderne oder, um mit unseren findigen Soziologen zu sprechen, der Transformationsländer.
Wer aber ist schon der Bund der Vertriebenen, werden die deutschen Leser fragen, und zwar sowohl die, die noch nie etwas von ihm gehört haben als auch jene, die sehr wohl über seine Existenz informiert sind. Eigentlich spielt die Organisation in der deutschen Öffentlichkeit kaum eine Rolle. Umso wichtiger aber erscheint sie manchen unter Konfliktnostalgie leidenden polnischen Politikern. Das ist in einer Zeit, in der selbst der Deutsche Orden nur noch karitativ tätig ist, nicht weiter erstaunlich.
Für die ominösen Kaczynski-Brüder, deren Popularität Polen schwer in Verruf brachte, bildeten die Vertriebenen ein willkommenes Feindbild. Die Sprecherin des Bundes, Erika Steinbach, war ein Gottesgeschenk, so, als wäre sie ihnen von dem einflussreichen Sender Radio Maryja, dem militanten Rundfunk des Katholizismus von vorgestern, in den Schoß der Argumentation gelegt worden. Frau Steinbach spielte zumindest zeitweise die ihr im Drehbuch der Kaczynskis zugewiesene Rolle vorzüglich.
Wenn Politiker sich mit Problemen beschäftigen, bekommen diese oft genug erst ihr Gewicht. Sie werden von der Politik gewissermaßen gemästet. Die Kaczynskis pflegten einen altmodischen Politikstil, kurz gesagt, sie machten eine Politik der dreißiger Jahre. Das Handicap dabei war, dass weder Gerhard Schröder noch Angela Merkel den Führer spielten, dessen Rolle ist in Deutschland ja definitiv vergeben. Im Gegenzug haben die polnischen Regierenden auch nicht gerade den Pilsudski gegeben, das hätte ihnen nicht einmal die eigene Klientel abgenommen, aber sie stellten sich symbolisch unter dessen Schirm. Sie wären gern Nachfolger geworden. Sie machten sich aber nur lächerlich.
Die Warschauer Rhetorik fand ihr Echo schließlich auch in Berlin, sie fand dort ein postmodernes Echo. Denn in Deutschland hat man die Lektion gelernt. Man spricht in den entscheidenden Augenblicken die Weizsäckersprache, man macht die Brandt-Geste. Ein doppelter Kniefall sozusagen, und alles sollte im Lot sein.
So hat man nach der staatlichen Übernahme des Themas in Regierungskreisen das Vertreibungsgedenkprojekt immer weiter ausformuliert, bis jeder drin Platz finden konnte, neben den deutschen Vertriebenen, die polnischen, die tschechischen und alle anderen, auch die, die es gar nicht vorhatten. Ein Museum der Vertreibung sollte es werden, mit Opfern aller Seiten. Doch wer Opfer ist, kann auch Täter gewesen sein. Wer kennt sie nicht, die Opfer, die zu Tätern wurden und die Täter, die zu Opfer wurden?
Polens neue Regierung möchte zum Normalzustand zurückkehren, innenpolitisch und außenpolitisch. Sie möchte zur Realität zurück, in der es keine Probleme mit den Deutschen gibt. Keine wirklichen. Was aber lernen wir aus dem Vorgang?
Das große europäische Thema besteht nicht in der Frage, wer Täter und wer Opfer ist - das wäre bloß eine Frage der Legitimation - sondern wie man Täter und Opfer unterscheidet. Das wiederum ist eine Frage der Moral. Das Dilemma aber, das gemeinsame europäische, ist das zwischen Legitimationsbedürfnis und moralischer Verpflichtung. Und das ist auch gut so.