Markus Vahlefeld / 14.09.2015 / 16:42 / 2 / Seite ausdrucken

Warmlaufen für den Friedensnobelpreis

Tief eingebrannt in die deutsche DNA ist bekanntlich der Hang, unbedingt die Welt retten zu müssen. Der Begriff „Realpolitik“ ist ähnlich wie Kindergarden und Blitzkrieg eingegangen in den internationalen Wortschatz. Für die meisten anderen Nationen ist Politik nichts anderes als ausschließlich Realpolitik. Nur wir Deutschen unterscheiden zwischen Realpolitik und… ja, und was eigentlich? Idealpolitik? Moralpolitik? Wertepolitik?

Realpolitik umweht der Geist des Uneigentlichen, zu dem sich die deutsche Seele immer erst zwingen muss, liegt ihr das Eigentliche doch viel näher.

Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in den letzten Wochen gezeigt, wie diese andere Form der Politik, die sich eben von Realpolitik unterscheidet, funktioniert: man berausche sich wie besoffen an einer Handlung, die von den Eliten als „gut“, moralisch sauber oder humanistisch gefeiert wird. Gesellschaftliche Verwerfungen, überhaupt die Notwendigkeit gesellschaftlicher Diskurse werden missachtet zugunsten einer autoritären Herzensgüte, die die Fratze jeder Mütterlichkeit darstellt. Das Primat einer guten Politik wird ersetzt durch das Primat der gütigen Moral, die nicht nach Interessen fragt.

So versteigt sich Spiegel Online (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-kommentar-zu-grenzkontrollen-a-1052745.html) zu der Einschätzung, dass die wenigen Tage, an denen die deutschen Grenzen für Flüchtlinge offen waren, ein weiteres deutsches Sommermärchen gewesen sein sollen, das jetzt, durch die Schließung der Grenzen, sein abruptes Ende gefunden hat. „Schön war’s, das Sommerrefugeemärchen“, so startet Roland Nelles seinen Kommentar auf SPON („Flüchtlingskrise: Das Ende des Sommermärchens“). Das Einbrechen der Realpolitik wird als Niederlage empfunden. Adieu Willkommenskultur, adieu Sommermärchen.

Die Infantilisierung der Politik trägt zynische Kleider. Die letzten Wochen, in denen Hunderttausende über die europäischen Grenzen strömten, als „Sommerrefugeemärchen“ zu bezeichnen, zeigt die ganze Selbstbezogenheit und Abgehobenheit, mit der ein Teil der medialen Elite versucht, den Deutschen neue Narrative zu oktroyieren, auf dass sie endlich gute und helle Menschen werden. Bitte, bitte, empfindet den „kurzen Sommer der Anarchie“ als genauso schön und freudig wie die Fussballweltmeisterschaft im eigenen Land 2006.

Was wir in dieser ganzen Diskussion niemals vergessen dürfen: hinter den Hunderttausenden, die gekommen sind, und den vielleicht Millionen, die noch kommen wollen, stehen unaussprechbare Einzelschicksale von Krieg, Mord, Zerstörung, Entwurzelung, Verarmung, Vertreibung, Verzweiflung und Scham. All das als Teil eines „Sommerrefugeemärchens“ zu feiern, ist bereits in seiner Wortwahl abartig und zeigt die Luxus-Verkommenheit dieser Wortschöpfung.

Bedenkt man, dass all diese Einzelschicksale nach tage- und wochenlanger Flucht dann in überfüllte Lager gepfercht werden müssen, in denen die Betreuung, die medizinische Versorgung, die hygienischen Bedingungen absolut prekär sind, kann einem das „Sommerrefugeemärchen“ nur noch im Halse stecken bleiben.

Aber auch auf der anderen Seite des „Sommerrefugeemärchens“ sieht es keinen Deut besser aus. Tausende Helfer, die tagelang im Einsatz waren, Hilfsorganisationen, Polizei, die kommunalen Verwaltungen und natürlich die vielen Freiwilligen, die spontan geholfen haben, empfanden die letzten Wochen nicht im entferntesten als „Sommermärchen“. Von welcher Warte aus kreiert ein Schreiber den Begriff des „Sommerrefugeemärchens“ eigentlich, wenn es in Wahrheit um die so gut als mögliche Eindämmung und Linderung von Not, Chaos, Dreck und Verlorenheit geht? Es ist die Warte dessen, der sich aus Hamburg-Eppendorf aufmacht, um an den Bahnhöfen die Flüchtlinge wie Popstars zu beklatschen und dabei glaubt, ein besserer Mensch zu sein. Peinlicher geht es nicht.

Was hat, so darf man fragen, die deutsche Bundeskanzlerin eigentlich geritten, als sie die Hunderttausende förmlich einlud, nach Deutschland zu kommen? Darf man unterstellen, dass die monströsen Pull-Effekte, die vom Reichtum und der Rechtssicherheit Deutschlands im allgemeinen und von Angela Merkels Auftreten im besonderen ausgingen und die sich in Zeiten der sozialen Netzwerke und WhatsApp zudem noch dutzendfach potenzierten, unterschätzt wurden?

Darf man unterstellen, dass nach jahrelangem Abbau der Asylkapazitäten die Bundeskanzlerin wirklich davon ausging, dass man einen bürokratischen Tanker wie die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von Stunden auf volle Asylfahrt bringen und auf einmal Millionen von Betreuern, Schlafplätzen und Waschräumen feilbieten kann?

Darf man wirklich unterstellen, dass die Plötzlichkeit der Flüchtlingsnot und Flüchtlingswelle völlig überraschend kam und ein derart überstürztes und plötzliches Vorpreschen der Bundeskanzlerin deswegen gerechtfertigt war?

Darf man also unterstellen, dass Angela Merkel europäischen Grenzabkommen zum Trotz aus ausschließlich humanistischen Gründen derart schwerwiegende Entscheidungen traf, die tief ins Gefüge der Europäischen Union und vor allem auch der deutschen Gesellschaft eingriffen und eingreifen?

Nein, davor sollte man sich dringend hüten, denn es würde die Funktionsweise der Politik Angela Merkels ausblenden.

Angela Merkel wird als oft als Ziehkind Helmut Kohl beschrieben. Wer sich noch an die Amtszeit Helmut Kohls erinnert, weiß, dass die von ihm beschworene „geistig-moralische-Wende“, die er zu Beginn seiner Amtszeit ausrief, in Wahrheit den Stillstand jeder Debattenkultur bedeutete. Helmut Kohl führte Deutschland in eine Form der Lähmung, die Ende der 80er Jahre mit großer Wahrscheinlichkeit zu seiner Abwahl geführt hätte. Dass Helmut Kohl dennoch bis zum Jahr 1998 - also mehr als 15 - Jahre Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sein konnte, ist seinem herausragenden Engagement bei der Wiedervereinigung zu verdanken. Aber so wie bereits Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts lag Deutschland auch Ende der 90er Jahre in einem tiefen Debattenschlaf und wichtigste Reformvorhaben wurden nicht angegangen, was sich erst mit der Wahl Gerhard Schröders zu ändern begann.

CDU-geführte Bundesregierungen scheuen politische Debatten wie der Teufel das Weihwasser. Ob Angela Merkel diese Lektion von Helmut Kohl gelernt hat, oder ob ein konservatives Weltbild grundsätzlich die Tendenz besitzt, Debatten niedrig zu achten, sei dahingestelt. Was Angela Merkel jedoch mit größter Wahrscheinlichkeit von Helmut Kohl gelernt hat, ist die Machterhaltung qua nationaler Generationenprojekte. So wie Helmut Kohl die deutsche Wiedervereinigung brauchte, um seiner Kanzlerschaft einen neuen Spin zu geben, so benötigt Angela Merkel „nationale Aufgaben“, die interessanterweise seit ihrer Kanzlerschaft oft mit dem Zusatz „wie die deutsche Wiedervereinigung“ versehen werden.

Ob es die Energiewende, der Atomausstieg, der Euro, die Griechenlandrettung oder jetzt die Flüchtlingsproblematik ist: immer wird das Problem unbehandelt und undebattiert gelassen und schließlich mit einer Plötzlichkeit entschieden, die mit der Schaffung vollendeter Tatsachen noch höflich umschrieben ist. Rettung naht durch das Handzeichen der Kanzlerin. Hier vermengen sich der deutsche Wunsch nach einer Führungsfigur, die Lust an der Weltenrettung und die Bereitschaft zur kritiklosen Selbstaufgabe bis hin zur Selbstverachtung. Diese Mischung beherrscht Frau Merkel aufs Vortrefflichste.

Das ruhige und sachliche Auftreten der Kanzlerin kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Hau-Ruck-Aktionen mit deutlicher Lust zur Bildung eines nationalen Konsens’ einsetzt. Alle Probleme sollen so groß sein „wie die deutsche Wiedervereinigung“, denn dann hat die Funktion dieser Kanzlerin erst ihre Berechtigung. Dass weder historische Notwendigkeiten noch plötzliche Umwälzungen die vielen „nationalen Aufgaben“, die Angela Merkel ausruft, rechtfertigen, wird dann gerne im Strudel der Ereignisse, die keine Parteien mehr kennt, sondern nur noch Deutsche, übersehen. So hält man seine Wähler bei der Stange und schafft es, sich als personifizierte Rettungsprojektion in Anschlag zu bringen.

Die Parallelen zu Angela Merkels hektischem und völlig übereiltem Atomausstieg drängen sich auf. Statt nach dem verheerende Tsunami in Japan mit ruhiger Hand eine Debatte jenseits von Ängsten und Vorurteilen zu führen, wurden noch am gleichen Tag die deutschem Atommeiler abgeschaltet (warum eigentlich?) und Angela Merkel überließ einer Ethikkommission die Planung der Energieversorgung des Hochindustriestandorts Deutschland. Egal wie man zu diesem Atomausstieg steht, er war ein Husarenstreich Angela Merkels und traf mitten ins Reformhaus-Herz der Deutschen.

Angela Merkels Umgang mit dem Flüchtlingsdrama war ein epochaler „Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird“ (Horst Seehofer). Er hat ihre Machtsemantik erneut offengelegt. Es ist Angela Merkel, die den deutschen Sonderweg so sehr schätzt, dass sie meint, sich nicht an Absprachen und europäische Verträge halten zu müssen. Es ist Angela Merkel, die unbeirrbar eine Politik durchzudrücken versucht, in der sich der Deutschen Lust und Selbstverständnis, dass an des Deutschen Wesen die Welt genesen möge, widerspiegelt. Angela Merkel ist die Personifizierung dieser gefährlichen deutschen Sehnsucht. Ob es Instinkt oder Kalkül ist, ist schwer zu beantworten. Es kann auch einfach das deutsche Unbewusste sein, das aus ihr denkt und tut.

Realpolitik, so viel ist klar, sieht jedoch anders aus.

Es ist möglich, dass sich Angela Merkel mit ihrem sonderbaren Flüchtlings-Hau-Ruck schwer verhoben hat. Anders als Helmut Kohl, dem es nicht vergönnt war, den Friedensnobelpreis entgegennehmen zu dürfen, könnte sie nun darauf spekulieren, dass das norwegische Komitee, das noch immer für politisch motivierte Fehlentscheidungen gut war, ihr dieses Jahr den wichtigsten Preis der Welt- und Friedenspolitik verleihen könnte. Dann wäre sie endlich aus dem Schatten ihres Übervaters herausgetreten und wir Deutschen wären nicht nur Weltmeister der Herzen und des Fußballs, sondern auch noch Friedensnobelpreisträger.

Es wäre das einzige, was Angela Merkel bei der zu erwartenden innerparteilichen Revolte noch retten könnte.

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Sabine Meisner / 14.09.2015

Ich gebe Ihnen an all den Stellen Recht, an denen Sie hier das Wirken eines spezifisch deutschen Autoritätsdenkens gerade bei den vermeintlich weltoffen-liberalen Kosmopoliten diagnostizieren. Ich verstehe aber nicht, warum Sie an eine Revolte in der CDU glauben. Keine deutsche Partei ist derart obrigkeitshörig, und hinzu kommt die Beseitigung von politischer Konkurrenz in der eigenen Partei. Die CDU war schon nicht in der Lage, die (gegen den Euro, wie ihn die CDU versprochen und geplant hatte, gerichtete) Griechenland-“Rettung” zu stoppen. Es gibt da niemanden in der Partei, der es besser machen könnte als Frau Merkel: Da hätten wir Armin Laschet, der eigentlich zu den Grünen gehört, oder Linkspopulisten wie von der Leyen und Kramp-Karrenbauer, die gegen ihre eigene Partei bei der albernen Frauenquote für Top-Unternehmen agitiert haben. Deutschland ist in einem so schlechten Zustand, weil die CDU verloren ist: Die Partei ist in einem Linkskurs gefangen, und das bedeutet schlicht Emotion statt Vernunft. Sie war schon vorher eine romantische “Europa-Partei”, was uns die heutige Situation aufgebürdet hat und auch nur von einer “Deutschland muss weg”-Haltung gesteuert war.

Werner Drolle / 14.09.2015

Eine wirlich ausgesprochen überzeugende, scharfsinnige Diagnose der “Merkel’schen Krankheit”! Frau Merkel jedoch ein “konservatives Weltbild” nachzusagen, ist vollkommen ungerechtfertigt, zumal sie selbst diese Zuschreibung von jeher entschieden zurückgewiesen hat. Im Gegenteil wurden und werden konservative Politiker wie Gauweiler oder Bosbach in der CDU/CSU von Merkel systematisch ausgebremst bzw. kaltgestellt.

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