Rainer Grell / 09.03.2017 / 16:35 / Foto: FilMys / 0 / Seite ausdrucken

Vor dem Urteil ein Vorurteil?

„Der gesunde Menschenverstand ist nur eine Anhäufung von Vorurteilen, die man bis zum 18. Lebensjahr erworben hat“, sagt uns der große Albert Einstein. „Vorurteile sind die Grundpfähle der Zivilisation“, erklärt der nicht ganz so große André Gide (Die Falschmünzer). Ja, was denn nun?

Nun, an sich ist es doch ganz klar: Ein Vor-Urteil ist ein vorläufiges Urteil, das man sich bildet, bevor man zu einem abschließenden Urteil in der Lage ist. Ein solches vorläufiges Urteil kann überlebenswichtig sein, denn bestimmte Situationen lassen es einfach nicht zu, mit einer Entscheidung so lange zu warten, bis man zu einem abschließenden Urteil in der Lage ist. Der israelische Wachmann, der an der Klagemauer in Jerusalem einen Israeli erschoss, weil dieser „Allahu akbar“ gerufen hatte, was vielfach die letzten Worte von muslimischen Selbstmordattentätern sind, bevor sie sich und andere in die Luft sprengen, konnte in der Kürze der Zeit nicht feststellen, ob es sich tatsächlich um einen Terroristen handelte. Er nahm es jedoch unter den gegebenen Umständen an und handelte entsprechend. Handelte aufgrund eines Vor-Urteils. Manch einer wird darüber den Kopf schütteln. Hätte er nicht geschossen und es wäre zu einem Attentat mit etlichen Toten gekommen (ihn selbst vermutlich eingeschlossen), hätten wahrscheinlich noch mehr den Kopf geschüttelt: Wie kann man denn in einer derart klaren Situation überhaupt zögern? In der Tat: Welcher Idiot ruft schon an der Klagemauer „Allahu akbar“?

Der schlechte Ruf des Vorurteils

Warum sind Vorurteile trotzdem allgemein verpönt? Sie eignen sich prima, Diskussionen enorm zu vereinfachen. Wenn man jemandem vorwerfen kann, er habe ein Vorurteil, erspart dies eine lästige Argumentation und man kann sicher sein, den Beifall auf seiner Seite zu haben. Das gilt erst recht, wenn man noch die political correctness ins Spiel bringt. So primitiv dies auch sein mag, (echte) Vorurteile, manche nennen sie dann Ressentiments, haben ebenfalls etwas Primitives, Borniertes an sich, weil man einfach spürt oder sogar weiß, dass sie nicht stimmen können. Wer anfängt über „Alle …“ oder „Die …“ zu urteilen, kann ganz einfach nicht Recht haben, außer wenn es sich um eine sehr kleine Gruppe (oder um „Rechte“) handelt: „Alle Bewohner des Hauses Nr. 00 sind Kriminelle“ kann durchaus ein zutreffendes Urteil sein, „Alle Polen sind Klaubacken“ dagegen niemals.

Man muss dabei beachten, dass Vorurteile in dem hier behandelten Sinn immer einen negativen Inhalt haben. Niemand käme auf die Idee, die Meinung „Alle bei uns lebenden Ausländer sind gesetzestreu“ als Vorurteil zu kritisieren, obwohl die Aussage offensichtlich einer ernsthaften Prüfung nicht standhält. Das gleiche gilt für den oft zu hörenden Satz „Die Deutschen sind pünktlich, fleißig und zuverlässig“. Oder „In der Vorständen deutscher Unternehmen sitzen ausnahmslos honorige Leute“ oder „Alle Amis sind freundlich“. Die Aussage „Hitler war ein großer Staatsmann“ würde allerdings alle, außer ein paar verbohrte Neo-Nazis, auf die Barrikaden treiben, weil bereits der Name für etwas Negatives, Verbrecherisches steht. Doch egal, ob Vorurteile auch einen positiven Inhalt haben können: Sie werden in aller Regel ebenso wenig kritisiert, wie die ausschließlich männlichen Formen bei der jährlichen Bekanntgabe der Polizeilichen Kriminalstatistik. Oder haben Sie schon mal gehört, dass jemand angemahnt hat, nicht nur von Tätern oder Mördern zu sprechen, sondern auch von Täterinnen und Mörderinnen oder wenigstens von TäterInnen? Na also!

Kurzum: Ohne Vorurteile können wir zwar nicht leben, so wie wir auch ohne Lüge nicht leben können. Vor-Urteile haben allerdings nur so lange eine Existenzberechtigung, wie man gehindert ist, sich ein abschließendes Urteil zu bilden, es sich also um wirkliche Vor-Urteile handelt. Sobald sie sich verfestigen und wider besseres Wissen fortbestehen, sind sie abzulehnen.

Orientierungshilfe in der komplexen Welt

Ich gehe deshalb nicht so weit zu behaupten,

„dass Vorurteile wichtige Funktionen für die einzelne Person bzw. für soziale Gruppen erfüllen können. In Anlehnung an Georg Hansen (1995, S. 546f.) können beispielsweise vier Funktionen hervorgehoben werden:

1. Vorurteile dienen der Orientierung in einer komplexen Welt, reduzieren Unsicherheit und bieten Verhaltenssicherheit; sie ermöglichen die Herstellung und Aufrechterhaltung von Selbstwertgefühlen.

2. Vorurteile dienen durch Ein- und Ausgrenzungen der Gruppenbildung und ermöglichen die Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts der Eigengruppe und ein negatives Konzept von Fremdgruppen. Sie machen die Verschiebung aggressiver Gefühle auf Fremdgruppen möglich und können so auch die Solidarität innerhalb der Eigengruppe erhöhen.

3. Vorurteile dienen der Legitimierung von Herrschaft und tragen dazu bei, den Status quo der ungleichen Machtverteilung zwischen Majoritäten und Minoritäten zu erhalten;

4. Vorurteile dienen über die Bereitstellung von ‚Sündenböcken’ und Mythenbildungen der Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen: Über Fremd- und Feindbilder werden Gruppengrenzen festgelegt, und damit auch die Grenzen der Solidarität“

Dies steht so in einem Text des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in NRW.

Ein Kennzeichen von Vorurteilen ist ihre Internationalität: Es gibt sie auf der ganzen Welt, wenngleich natürlich mit unterschiedlichen Inhalten. Wer’s nicht glaubt sehe sich diese Weltkarte der Vorurteile an.

Bei der Aufgabe, Vor-Urteile in Urteile zu verwandeln oder sie zu verwerfen, steht man vor der Frage, wie viel Prozent müssen erfüllt sein, um eine allgemeine Aussage über alle Angehörigen einer bestimmten Gruppe zu machen. Die Antwort ist verblüffend einfach: 100 Prozent. Das ist natürlich absolut unmöglich, weshalb allgemeine Urteile über Gruppen in aller Regel nicht möglich sind bzw. stets den Charakter von Vorurteilen haben. Zwar dürften die meisten dem Satz zustimmen: „Alle Nazis waren Verbrecher“. Doch dann kommt einer und berichtet von einem SS-Mann, der einen Juden versteckt und so vor dem KZ bewahrt hat. Und jetzt? Menschen sind stets Individuen und sie bleiben es, mögen sie auch noch so viele Gemeinsamkeiten mit anderen haben. Natürlich könnte man solche Einzelfälle wie den SS-Mann vernachlässigen. Aber wer weiß genau, wie viele es davon gab. „Nicht viele“ ist man geneigt zu sagen. Doch es bleibt eine Vermutung.

Natürlich haben „die Schwaben“, „die Bayern“ oder „die Friesen“ bestimmte gemeinsame Eigenschaften, wie zum Beispiel die Sprache. Doch sieht oder besser hört man genauer hin, so entdeckt man so viele Unterschiede, dass ein Urteil schwierig bis unmöglich wird, also ein Vorurteil bleibt.

Entscheidend sind die Folgen

Entscheidend ist schließlich nicht das Vorurteil als solches, sondern welche Folgerungen man daraus ableitet. Man muss „die Berliner“, „die Kommunisten“, „die Muslime“ oder meinetwegen auch „die Juden“ nicht mögen, kann aber trotzdem den einzelnen Angehörigen dieser Gruppen respektvoll und höflich behandeln, für seine Rechte eintreten, ihm in der Not helfen, ja ihn sogar zum Freund haben.

Dass das Tragen einer Brille die eigene Sicht verändert ist klar, dass das Tragen einer Brille auch die Sichtweise anderer auf den Träger verändert, muss man sich klar machen.“

Letztlich sind wir alle Opfer unserer Natur (Gene) und Kultur (Erziehung, Erfahrung).

Der bulgarische Grafiker Yanko Tsvetkov hat nationale Stereotype in Landkarten eingezeichnet – und einen "Atlas der Vorurteile" erstellt:

Darin gibt es so unterschiedliche Perspektiven wie

Europa aus der Sicht der USA 2012

Kontinental-USA aus der Sicht des gesunden Menschenverstandes 2001

Europa aus der Sicht der Zukunft 2022 (Oh je!)

Asien aus der Sicht der USA 2012

Nordamerika aus der Sicht der USA 2012

Europa aus der Sicht des Vatikans 2010

Europa aus der Sicht von Deutschland 2009

Guckst du hier!

In einem Gespräch mit der „Welt“  sagte Tsvetkov: „Niemand wird bestreiten, dass an bestimmten Orten eine andere Atmosphäre herrscht als an anderen. Generalisierungen sind nicht zwangsläufig falsch, aber man muss sehr klar trennen zwischen dem konkreten Fall und seiner Verallgemeinerung. Also zwischen: ‚Er entspricht dem Stereotyp des italienischen Machos’ oder ‚Der ist ein Macho, weil er Italiener ist’. Vorurteilen muss immer mit Zweifeln begegnet werden, aber dafür müssen wir sie erforschen. Sie sind unvermeidlich, weil sie unsere Erfahrung strukturieren, ohne dass wir jede Situation und Begegnung neu analysieren müssen. Wenn es um den Kauf einer Hose geht, mit der wir ein gewisses Image verbinden – gut. Gefährlich wird es, wenn politische Entscheidungen auf ihnen basieren. Menschen tendieren dazu, einfache Wahrheiten zu sehen, wo es keine gibt. Immer, wenn eine bestimmte Personengruppe für irgendetwas verantwortlich gemacht wird, sollte man skeptisch werden.“

Genau das ist auch meine Meinung.

Man kann sich allerdings auch ein Beispiel an jenem amerikanischen General nehmen, der seine Truppen vor einer Militäroperation im Irak so aufklärte:

"Wir kommen nicht in Feindesland, Leute, denkt daran. Seid höflich zu den Mullahs. Vergesst nicht, dass nicht alle Geishas Nutten sind. Schießt nicht auf weiße Kühe, denn die sind hier heilig, und wenn ihr eine sehr große Pyramide seht, dann steht sie möglicherweise unter Denkmalschutz! Und wenn einer der Eingeborenen behaupten sollte, Afrika sei größer als Texas, dann sagt nichts. Lasst ihm seinen Glauben." Typisch, könnte einem deutschen General nicht passieren oder?

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