Gunter Weißgerber / 17.11.2016 / 15:00 / Foto: Jiří Sedláček / 1 / Seite ausdrucken

Vor 27 Jahren: Brandt in Hochform, Enkel im Sandkasten

Morgen vor 27 Jahren, am 18. November 1989, betrat ich als SDP-Redner der großen Leipziger Demonstrationen erstmal die Bühne, die auch europäische Geschichte mitschrieb. Aus diesem Anlaß hier einen ein kleiner Auszug aus meiner (in Arbeit befindlichen) politischen Biografie:



Zwischen dem 18. November 1989 und dem 18. März 1990 sprach ich für die SDP/SPD in Leipzig auf insgesamt 13 großen Demonstrationen. Es war eine intensive und stürmische Zeit. Belohnt wurde das alles für mich mit dem persönlichen Kennenlernen Willy Brandts, Helmut Schmidts, Annemarie Rengers, Hans Büchlers, Klaus von Dohnanyis und vielen anderen großen Sozialdemokraten. 
Willy Brandt haben die Deutschen sehr viel zu danken. Der späte Willy Brandt lief dabei ab 1989 noch einmal zur Form seines Lebens auf. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – ein Jahrhundertsatz eines großen deutschen und europäischen Sozialdemokraten.


Die persönliche Krönung für mich dabei war der schier unglaubliche Umstand, dass ich den Mann, den schon mein Vater so sehr bewunderte, als ostdeutscher Sozialdemokrat persönlich kennen lernen durfte. Nein. Ich stand mit ihm sogar gemeinsam auf einer Wahlkampftribüne, in Görlitz am 24. November 1990, an meinem 35. Geburtstag. Christian Müller, MdB a.D., Willy Brandt und ich sprachen zu den Menschen. An so etwas war noch kurz vorher niemals im Leben zu denken gewesen.


Willy Brandt fiel es in der Bundestagsfraktion nach dem 2.Dezember 1990 sichtlich schwer, mit dem Versagen Lafontaines nicht noch deutlicher abzurechnen. Mir gegenüber, auch vielen anderen gegenüber, machte er jedenfalls keinen Hehl aus seiner großen Enttäuschung. Die Generation Brandt, Schmidt, Renger war 1989/90 auf dem Damm und auf Augenhöhe mit den Ereignissen.

Die führenden Enkel verharrten im Sandkasten

Die führenden Enkel verharrten im Sandkasten der parlamentarischen "Du-bist-doof"-Spiele.
 Sämtliche Reden sind verschiedentlich dokumentiert, nachfolgend gehe ich deshalb nur auszugsweise darauf ein.


An diesem Tag 1989 konnte ich mir endlich meinen lang gehegten Wunsch erfüllen und als Redner der ältesten demokratischen Partei Deutschlands das Gewicht dieser Partei in die Waagschale geben. Es war ein phantastisches Gefühl. Aber auch hier gab es leider wieder Verdruss. Die Sozis wurden als Konkurrenz aufgefasst. Anfänglich unter den ersten 15 Rednern, wurde ich immer weiter nach hinten geschoben. Es muss mit der Sendezeit der ARD zusammengehangen haben. Dort kam jedenfalls die SDP in der Direktübertragung nicht mehr vor.

Selbst in der LVZ-Berichterstattung am Montag wurde nur der Leipziger SDP-Vorsitzende Karl-August Kamilli erwähnt, der jedoch nur wenige Sätze zur Begrüßung zu den Anwesenden sagte. Sein Auftritt war mir zudem vorher nicht bekannt gewesen. War ich doch wenige Tage vorher bei ihm in seinem Büro in der Geophysik Leipzig, um ihm meine Redevorstellungen zur Kenntnis zu geben. In dem Gespräch kündigte er seinen eigenen Auftritt nicht an. Im Gegenteil, er beließ mich im Glauben, allein an diesem Tag für die SDP zu reden.

Mit meinem Manuskript war er einverstanden, machte sogar Änderungswünsche deutlich, die ich selbstverständlich übernahm. Er war schließlich der frisch gewählte Vorsitzende der SDP in Leipzig. Ich hätte sogar akzeptiert, wenn er mir gesagt hätte, ich solle nicht reden, weil er es als Vorsitzender tun wolle und musste. Er war der Ältere. Auch das war für mich ein Grund, ihn zu akzeptieren.

Ein Zeichen der Entschuldigung in Richtung Prag

Seine Änderungswünsche bezogen sich auf meine Passagen zu den SED-Mitgliedern, denen ich für die SDP keine Persilscheine ausstellen wollte. Dies sah er anders. Ich sollte die SED-Mitglieder um Verständnis und Vertrauen bitten, dass für den Moment eine Aufnahme nicht möglich sei. Dies deckte sich ein Stück mit meinen Vorstellungen, wonach es aktuell unmöglich war und auch ich nicht wusste, wie es später einmal aussehen würde. Vorerst waren Kamillis Worte nicht als Einladung zu verstehen. Das war okay.

Wirklich wichtig waren für mich an diesem Tag ohnehin drei andere Punkte. Die Sozialdemokraten sollten endlich vernehmlich in das Geschehen eingreifen und dies vor allem politisch sehr deutlich und kompromisslos tun. Zum anderen wollte ich unbedingt ein großes Zeichen von Leipzig nach Prag senden. Der Oberbürgermeister von Leipzig sollte als deutliches Zeichen der Entschuldigung bei unseren Nachbarn für den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen 1968 in die CSSR Alexander Dubcek zu einem Leipziger Montag einladen.

Der SED-Oberbürgermeister sollte gezwungen werden, die Schuld der SED an der Niederschlagung des Prager Frühlings durch ebendiese Einladung einzugestehen. Wir hatten uns doch nicht bei den Tschechen und Slowaken zu entschuldigen. Das war doch Aufgabe der deutschen Kommunisten! So sah ich das jedenfalls und wollte es um jeden Preis in die Welt rufen. Wichtig war mir diese Forderung auch vor dem Hintergrund der noch andauernden brutalen Ereignisse in Prag.

Die Menschen dort erlebten an diesem Samstag noch den staatlichen Terror, der in Leipzig am 7. Oktober das letzte Mal gewalttätige Urstände abfeierte. Meine Forderung sollte das Zeichen unserer Solidarität mit den Tschechen und Slowaken und unseres Bangens für deren friedliche (in die Geschichtsbücher als „Samtene Revolution“ eingegangen) Umwälzung sein. 


Der Artikel 1 mit der Festschreibung der SED-Herrschaft bestand weiter

Der dritte wichtige Punkt war das Fortbestehen des Artikels 1 in der DDR-Verfassung, der die SED-Herrschaft festschrieb. Bei aller Freude über das bis dato Erreichte dufte niemand vergessen, dass die DDR faktisch nur wankte, der SED/MfS-Gewaltapparat aber noch völlig intakt war. Ein Wink aus Moskau und der Terror wäre über uns gekommen wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der CSSR und 1981 wieder in Polen. Hier ein Auszug der Rede vom 18.11.1989:

 „1968 war für Europa ein sehr tragisches Jahr! In diesem Jahr marschierte wieder einmal eine deutsche Armee in verbrecherischer Absicht in ein friedliches Nachbarland ein. Ich fordere die derzeit Regierenden der DDR auf, sich bei den Völkern der CSSR zu entschuldigen! In diesem Sinne schlage ich dem Rat der Stadt Leipzig vor, Alexander Dubcek anlässlich einer Montagsde­monstration zu uns einzuladen! Weiter bitte ich den Bürgermeister dieser tapferen Stadt, dem ebenso tapferen Slowaken die Ehrenbürgerwürde anzutragen. Dies wäre Teil einer unabdingba­ren Schuldabtragung unsererseits, zumal die DDR in Person Honeckers die Invasion angeregt hatte… Aber nichts ist gesichert! Der Weg zum Rechtsstaat ist noch weit. Die strukturelle Absicherung des Artikel 1 besteht weiter. Solange dieser nicht beseitigt ist, müssen wir weiterdemonstrieren!“ (Auszug der Rede vom 18.11.1989)

Nach meiner Rede trat ein mir damals unbekannter Mann an mich heran, stellte sich als Dr. Peter Frey vom ZDF vor und bat mich für den Nachmittag zu einem Gespräch ins Interhotel Merkur. Das ZDF wollte am kommenden Sonntagabend eine Direktübertragung aus dem „Cafe de Saxe“ am Leipziger Markt senden. Weitere Teilnehmer waren Karl-August Kamilli/SDP, Jochen Lässig/Neues Forum, Rolf Rau/Block-CDU. Gemäß der Vorabsprache würden diese drei Herren auch mit dem Moderator Klaus Bresser die Stunde bestreiten. Das war in Ordnung. Kamilli war schließlich unser Vorsitzender. Ich saß am nächsten Abend als zuhörender Gast mit dabei.

Ein besoffener Gruß von der Stasi

Nach dem Vorgespräch mit Frey und Bresser ging ich noch in den Intershop des Hotels um zu schauen, was ich vielleicht noch als Spielzeug für meinen Sohn kaufen könnte. Das hätte ich besser nicht getan. Bereits beim Betreten des Ladens nahmen mich zwei komische Kerle wie ein belegtes Brötchen zwischen ihre Fittiche. Einer machte auf betrunken und schwafelte die ganze Zeit was von Pistolen und vom Schießen, der andere blieb ruhig und stand die ganze Zeit bedrohlich beobachtend neben mir. Das war mir entschieden zu blöd. Ich schob mich mitten in die Schlange der Anstehenden an der Ladentheke, um recht viele Unbeteiligte als eventuelle Zeugen und Beschützer zu bekommen.

Stur blieb ich inmitten der Menschen, hörte mir den Unfug mit den Pistolen und dem Schießen an und wartete ab, wie lange die beiden das dämliche Spiel noch treiben würden. Inzwischen sind die beiden nämlich vielen Leuten im Laden unangenehm aufgefallen. Nach etwa einer Stunde ließen sie von mir ab und verzogen sich nach draußen, dabei eine Bemerkung hinsichtlich des ZDF-Sendetermins im „Cafe de Saxe“ machend. Ich sollte ja nur vorsichtig sein, sie würden am Abend auch drinnen sitzen. Was einer von beiden am nächsten Tag auch machte. Es war der auf Besoffen-Machende. Kaum hatte ich den Kerl am Sonntagabend im Cafe sitzen sehen, sagte ich zu Bresser, der Kerl muss raus. Der ist von der Stasi und hat mich am Vortag bedroht. Es war Bresser und seinen Leuten sehr unangenehm, aber sie expedierten den Mann hinaus.

Gunter Weißgerber ist ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD (1990 - 2009) und gehörte in der DDR zu den Leipziger Gründungsmitgliedern der Partei

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Jürgen Schnerr / 17.11.2016

Werter Herr Weißgerber, leider weiß ich nicht so recht, was Sie uns Lesern mit diesem Artikel sagen wollen. Und die SPD ist schon lange keine tolle und schon gar nicht unverzichtbare Partei mehr. Ich war selbst von 1989-1991 Mitglied der ersten Stunde und bin nicht ohne Grund so schnell wieder ausgetreten. Sie dagegen waren viel zu lange Mitglied und tragen Verantwortung für vieles unsozialdemokratische, vor allem nach 1999. Das hat diese Partei zurecht auf 20% abstürzen lassen und das ist noch zuviel! Freundliche Grüße

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