Hansjörg Müller / 10.01.2016 / 14:00 / 0 / Seite ausdrucken

Vom Terror der Gefühle

Durch die Emotionalisierung des öffentlichen Raums lösen sich die Grundlagen der Demokratie immer mehr auf

Barack Obama durfte diese Woche einen politischen Erfolg verbuchen. Am Dienstag erläuterte der amerikanische Präsident, wie er den Handel mit Feuerwaffen mittels präsidentieller Dekrete einzuschränken gedenkt. Sein Publikum im Weissen Haus bestand aus gut ausgewählten Angehörigen von Amokopfern und ebenso sorgfältig verlesenen Vertretern der Medien.

Was von der Ansprache in Erinnerung blieb, waren nicht Worte, Argumente oder Ankündigungen, sondern Tränen. «Jedes Jahr, wenn ich an diese Kinder denke, macht mich das wahnsinnig», erinnerte Obama an das Massaker in der Sandy-Hook-Schule, bei dem im November 2012 26 Menschen getötet worden waren. Sein Publikum spendete ihm nicht nur immer wieder Szenenapplaus; gelegentlich, wenn ein Argument besonders überzeugend schien, liess es auch ein jauchzendes «Hu-uh-uh» ertönen, ganz wie bei einem Popkonzert.

Von einer «emotionalen Rede» Obamas berichteten die Zeitungen stereotyp, und natürlich machte bald auch das viel strapazierte Wort «authentisch» die Runde, das gedankenlosen Daherschreibern längst als gebräuchliches Synonym für «glaubwürdig» gilt.

Eben darum, um die «Authentizität» Obamas, drehte sich denn auch die Schlacht um die Deutungshoheit. Wer in der Sache ohnehin mit ihm übereinstimmte, bescheinigte ihm, wahrhaftig zu sein, wer das nicht tat, unterstellte ihm eiskaltes Kalkül: Obama sei Amerikas «Showman-in-Chief», schrieb der Ökonom Thomas Sowell in der konservativen National Review, während Zeitungen, die dem Präsidenten wohlgesonnen sind, kommentierten, Obama habe ja gar nicht anders gekonnt angesichts des Wahnsinns der Waffenlobby.

Die «Emotionalisierung des öffentlichen Raums», welche die deutsche Historikerin Ute Frevert bereits 2008 in einem Beitrag für die NZZ konstatiert hatte, war mit Obamas Ansprache auf einem neuen Level angekommen.

Bei den Unentschiedenen, auf die es ihm ankommen musste, dürfte der Präsident reüssiert haben: Wer will schon einem Mann widersprechen, der um Kinder weint? Verstockt, wenn nicht herzlos mussten die Republikaner, die Obamas Politik im Kongress nach Kräften torpedieren, dem unbedarften Betrachter erscheinen. Genau dies aber müsste selbst diejenigen beunruhigen, die dem Präsidenten in der Sache zustimmen: Das öffentlich zur Schau gestellte Gefühl erstickt zunehmend die rationale Debatte, die bürgerliche Demokratie löst sich in Tränen auf.

Immer deutlicher zeigt sich dies auch bei der Auswahl politischer Kandidaten: «Wir treten nun ein ins Zeitalter der Emoji-Politik, wo Identität und Gefühle Debatte und Rationalität verdrängen», bemerkte der britische Labour-Abgeordnete Tristram Hunt in einem Beitrag für den Spectator resigniert, nachdem seine Parteikollegen im September Jeremy Corbyn zum Chef der Partei gewählt hatten, einen kaum belehrbaren Steinzeit-Marxisten.

Was für Labour Corbyn ist, ist für die amerikanischen Republikaner Donald Trump, der Milliardär aus Queens, der seine Anhänger im Vorwahlkampf in Begeisterung versetzt, für die meisten anderen aber ein unwählbares Schreckgespenst darstellt. Gefühle ersetzen Gedanken und damit auch taktische Überlegungen: Dass ihr Favorit ausserhalb der eigenen Partei niemals eine Mehrheit finden wird, ist Corbyns und Trumps Unterstützern scheinbar egal. Lieber untergehen und dabei das Gefühl haben, auf der richtigen Seite zu stehen.

Wie bei den meisten grossen Trends ist die angelsächsische Welt auch hinsichtlich der Emotionalisierung des öffentlichen Raums führend. Kaum einer hat das so hellsichtig gesehen wie Christopher Hitchens, der grosse Bilderstürmer, der bis zu seinem Tod vor vier Jahren als Journalist auf beiden Seiten des Atlantiks wirkte. Der Tod Lady Dianas, der englischen Prinzessin, die im Sommer 1997 in einem Pariser Strassentunnel gegen eine Betonwand prallte, stellte für ihn einen eigentlichen Dammbruch dar: Grossbritannien, so Hitchens, habe zeitweise einem Einparteienstaat geglichen, in dem Dissidenz nicht mehr geduldet worden sei.

Die Inselnation, die bisher die Kultur der «stiff upper lip» gepflegt hatte, jene demonstrative Unerschütterlichkeit selbst im Angesicht grösster Unbill, versank in einem Meer von Affekten. Passanten legten Millionen Blumen vor dem Buckingham-Palast nieder; eine Frau, die sich einen der dort abgelegten Teddybären aneignen wollte, wurde tätlich angegriffen. Camilla Parker-Bowles, Prinz Charles’ heutige Ehefrau und damalige Mätresse, wurde in einem Supermarkt mit Wecken beworfen: In den Augen der Massen war sie die Frau, die Diana verdrängt hatte.

Das England der Queen, Winston Churchills und Margaret Thatchers schien über Nacht gestorben zu sein; ein neuer Premierminister, seit vier Monaten im Amt, brachte die Stimmung der Massen zum Ausdruck: Diana sei die «Prinzessin des Volkes» gewesen, sagte Tony Blair, Gegenkönigin eines weniger steifen und formellen Landes.

Blair, der mit allen Wassern der Mediengewandtheit gewaschene Premier, trieb nun die Königsfamilie vor sich her: Dass die Queen und ihr Ehemann Prinz Philip zunächst einmal in ihrem Schloss Balmoral in den schottischen Highlands verblieben, wurde als ebenso skandalös empfunden wie die Weigerung, die Flagge über dem Palast auf halbmast zu setzen. Die Royals wurden als hoffnungslos «out of touch» mit den Gefühlen ihrer Untertanen betrachtet, das Ende der Monarchie schien auf einmal ganz nah zu sein.

Acht Tage nach dem Tod der Prinzessin, am 7. September 1997, kam es im Washingtoner Studio des US-Parlamentsfernsehens C-SPAN zu einem denkwürdigen Zusammentreffen. Da Christopher Hitchens den Amerikanern als Linker galt, hatten sie ihm einen Konservativen beigesellt, Wesley Pruden, den damaligen Chefredaktor der Washington Times.

Die Front verlief allerdings weniger zwischen den Studiogästen als vielmehr zwischen diesen einerseits und den Zuschauerinnen, die anriefen, um ihre Meinung kundzutun. Wer an diesem Tag vor dem Fernseher sass, musste das C-SPAN- Studio für eine Oase der Vernunft in einer Wüste das Wahnsinns halten. Diana, so bemerkte die britische Feministin Beatrix Campbell Jahre später, sei die Heldin all jener Frauen gewesen, die über wenig Selbstbewusstsein verfügten, zu Übergewicht neigten und von ihren Ehemännern vernachlässigt würden. Ebensolche Frauen schienen es zu sein, die an diesem Sonntagvormittag zum Telefon griffen, um Hitchens und Pruden wüst zu beschimpfen.

«Ich bin entsetzt von Ihren Gästen!», kreischte eine Anruferin aus Kansas City, Missouri. «Ich verehre Diana, weil sie ein krankes Kind umarmt hat. Sie war eine wunderbare Frau. Sie dagegen kritisieren nur und ziehen ihr Andenken in den Dreck. Sie ekeln mich an.» Nur schon, dass Pruden die Tatsache er- wähnt hatte, dass Diana bei einem Verkehrsunfall umgekommen war, schien die Anruferin ihm übel zu nehmen: «Nun, ich wünsche Ihnen, dass Sie nie einen Unfall haben», bemerkte sie sarkastisch, worauf Pruden mit einem entwaffnenden Lächeln sagte: «Ich schätze das.» Spätestens jetzt war die Debatte zur Farce geworden.

Dabei hatte das Vergehen, dessen sich die Studiogäste schuldig gemacht hatten, einzig und allein darin bestanden, der Trauer um Diana lieber analytisch zu Leibe zu rücken, als distanzlos in den Chor der Trauernden einzustimmen. Warum nur, so fragte Pruden, identifizierten sich so viele mit einer Frau, die im Privatjet nach Saint-Tropez geflogen war und Abendessen verzehrt hatte, die so viel gekostet hatten wie das Monatsgehalt ihrer Bewunderinnen?

«Ihre Stimme zeigt alle Anzeichen von Borderline-Hysterie», attackierte ein zunehmend entnervter Hitchens schliesslich die Dame aus Missouri. «Man kann nicht mit Gläubigen streiten. Diese Frau hält es nicht einmal aus, wenn zwei Leute anderer Meinung sind als sie. Das ist genau die Art billiger Emotionen, die ich meine.» Allein, die Anruferin meinte, ein schlagendes Ar-gument auf ihrer Seite zu haben: «Ich bin ein menschliches Wesen», schloss sie das absurde Gespräch ab.

Zehn Jahre später war der kollektive Gefühlsausbruch vielen Briten peinlich. «Wie der Tagebucheintrag eines Teenagers» komme einem die Diana-Hysterie nun vor, schrieb der Journalist Jonathan Freedland 2007 im Guardian. Im Film «The Queen» (2006) liess Drehbuchautor Peter Morgan einen ebenso wütenden wie klarsichtigen Prinz Philip auftreten, der zu seiner Ehefrau, der Königin, sagt: «Diese Leute campieren in einem Park, um eine Frau zu betrauern, die sie gar nicht gekannt haben, und sagen uns, wir seien verrückt!»

Dennoch, die Vorherrschaft der Gefühle breitete sich weiter aus und erfasste mehr und mehr auch den sogenannt seriösen Journalismus. Während sich Hitchens und Pruden noch als kühle Analytiker der Weltläufte begriffen, treten heutige Journalisten immer öfter als Gefühlsverstärker auf.

Die Flüchtlingspolitik der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, von ihr mit rein emotionalen Argumenten begründet, dabei Risiken und Gefahren geflissentlich ausblendend, wird vor allem von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wohlwollend begleitet.

Dies führte zu einer absurden Umkehrung der Tatsachen: Der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer, der gut begründete Einwände erhebt, wird als Populist gebrandmarkt, während Merkels Politik, die so irrational ist wie die keines deutschen Nachkriegskanzlers zuvor, als einzig moralisch akzeptables Vorgehen dargestellt wird.

Nicht mehr ein vorwiegend gefühlsgeleitetes Volk und eine vergleichsweise rationale politisch-mediale Klasse stehen einander gegenüber, ganz im Gegenteil: In der Krise schaukeln sich die Emotionen auf beiden Seiten hoch. Die teilweise rassistischen Pöbeleien der Dresdner Pegida-Marschierer sind das eine. Etwas anderes, weit Schlimmeres ist es, wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel diese Leute pauschal als «Pack» beschimpft. Darf man von einem Politiker wirklich kein höheres Artikulations- und Reflexionsniveau mehr erwarten als von den Leuten auf der Strasse? Merkt Gabriel denn gar nicht, wie er zur Abwendung ganzer Bevölkerungsschichten von der Demokratie beiträgt? Ein sogenannter Politprofi hat die Kontrolle über sich selbst verloren.

Womöglich wird man das, was heute noch unter dem Label «politischer Journalismus» zusammengefasst wird, bald nur noch mit einem Buchtitel Alexander Kluges bezeichnen können: «Chronik der Gefühle».

Zuerst erschienen in der Basler Zeitung

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