Als ich im besten Antifantenalter war (früher nannte man das „Flegeljahre“), lag ich ständig mit meinem Vater über Kreuz. Fromm sollte ich sein und keine Negermusik hören und keine langen Haare tragen und keinen Parka, und keinen BuWe Brotbeutel als Schultasche verwenden. Und über Politik durfte gar nicht diskutiert werden, die Zone hieß Zone und nicht DDR, und Adenauer, Erhardt und Kiesinger waren der Garant für ein florierendes Land.
Für mich war mein Vater ein Spießer und „der Alte“ oder „der Südstaatler“ oder aber „der Chef“, was keineswegs so respektvoll gemeint war, wie wenn seine Mitarbeiter an der Universität ihn so nannten. Aber eins war mein Vater nie für mich: Nazi.
Nazis, das wusste ich früh, hatten Kriege angezettelt, Menschen zu Millionen ermordet, ein ganzes Land in den Untergang gestürzt. So sehr ich oft mit meinem Vater auf Kriegsfuß stand, es wäre mir im Leben nicht eingefallen, ihn mit den schlimmsten Verbrechern zu vergleichen. Ich konnte ihm nicht einmal eine soldatische Tätigkeit vorwerfen, er war beim Reichsarbeitsdienst, und damit ließ er sich nicht in eine Reihe mit den „Amis“ in Vietnam stellen, die meine damaligen Feindbilder prägten.
Zum beiderseitigen Glück sahen wir uns wenig. Im Hochschulalltag verließ er früh das Haus und kam erst gegen 18.00 Uhr nach Hause. Es gab auch Zeiten, da war er wochenlang nicht daheim. In seinem Fachbereich Textiltechnik hatte er zahlreiche Patente für Spinnerei- und Webmaschinen erworben, und wenn solche meist hallenfüllenden Anlagen gebaut und installiert wurden, musste er den Aufbau und die Anlaufphasen überwachen.
Damals besaß Deutschland noch eine bedeutende Textilindustrie, vor allem in Baden-Württemberg. Ich vermisste meinen Vater weniger als die Hasenbrote, die er abends unverzehrt vom „Dienst“ mit nach Hause brachte, da meine Mutter ihm immer viel zu viel mitgab. Nur in den jährlichen Sommerferien war er entspannter als sonst, und dann bauten wir in österreichischen Gebirgsbächen Dämme und Holzbrücken und schnitzten Wasserräder, die andere Wasserräder antrieben oder sonst etwas Sinnloses machten. Einige Male haben wir alleine zu zweit Wanderungen unternommen; daran erinnere ich mich gut, es hatte zumindest im Ansatz so etwas von „Vater und Sohn“ an sich. Zwei Jahre vor seinem Tod fuhren wir zusammen zum Skilaufen in die Berge, da taute er abends beim Wein richtig auf, und ich lernte ihn in den zwei Wochen besser kennen, als in all den Jahrzehnten zuvor.
Exotische Gestalten aus Ägypten oder Indonesien
Ich besaß nichts von seinem Ehrgeiz, und seine mathematischen Fähigkeiten waren mir vollkommen fremd. Mich interessierte Deutsch und Kunst und Geschichte; Naturwissenschaften wie Physik und Chemie waren hingegen nur notwendige Übel auf dem Gymnasium, und ich hätte zu gerne darauf verzichtet. Von Mathe ganz zu schweigen. Wenn ich wegen der Zahlen mal wieder in der Versetzung gefährdet war, gab er mir jeden Tag Nachhilfe, was eine schlimme Quälerei darstellte. Doch es lohnte sich, ich kam bei den Nachprüfungen durch, und der Abstieg konnte gerade mal wieder vermieden werden.
Für meinen Vater muss es ein harter Schlag gewesen sein zu erkennen, dass ich mit seiner Berufswelt nichts anfangen konnte. Natürlich war ich stolz, als er seinen Doktor machte, und wenn von Zeit zu Zeit „die Herren“ zu Besuch kamen und im Herrenzimmer zu Cigarren und Cognac zusammensaßen, sonnte ich mich heimlich darin, dass der Alte offenbar ein wichtiger Kopf an seiner Hochschule war. Häufig verkehrten auch seine Doktoranden bei uns, exotische Gestalten aus Ägypten oder Indonesien oder Persien, die hübsche, ungewöhnliche Geschenke mitbrachten. Das gefiel mir, doch vom Fachlichen her konnte ich mit dem ganzen Textilbereich nie etwas anfangen.
Was erstaunen mag: Niemals gab es vor Antritt meines Studiums Versuche, mich zu nötigen, etwas „Vernünftiges“ zu lernen. Ich vermute, der Alte hatte es aufgegeben, in mir einen zukünftigen Forscher und Lehrer zu sehen. Er selber war ganz und gar Ingenieur und Entwickler, aus diesem Grund verzichtete er auf die Professur und blieb am Lehrstuhl lieber zweiter Mann, da Professur gleichbedeutend war mit Lehren. Und Lehren war weder theoretisch, noch praktisch sein Ding. Schon deshalb waren die Nachhilfestunden für mich die reine Qual.
Ich denke, wir hätten uns verstehen können; mit etwas gutem Willen beiderseits wäre da bestimmt einiges drin gewesen. Aber ich war dazu viel zu sehr auf Contra gebürstet, und mein Vater hatte wohl auch nicht das rechte Interesse, er war kein Familienmensch und ging in seiner Arbeit auf. Und meine Mutter war auch ganz froh, dass er ihr zuhause nicht viel dazwischenquatschte. Nach dem Abitur, mit Beginn des Zivildienstes, zog ich aus, und während des Studiums sah man sich höchstens alle paar Wochen, meist nur kurz und nicht selten im Streit verbleibend. Ich kann sagen: Wir verloren uns mehr oder weniger aus den Augen. Was weder er noch ich bedauerten.
War er nicht im Keller, war er im Garten
Und hier beginnt es, schwer für mich zu werden mit der Erinnerung. Mein Vater erkrankte am Fluch der Familie, er fiel wie andere seiner Geschwister und seiner Vorfahren in eine tiefe Depression. Er musste vorzeitig in den Ruhestand gehen und war danach wochenlang nicht zu Hause. Mehr, als dass er im Sauerland „in Kur“ war, wusste ich nicht, die wahren Gründe zu nennen waren für meine Mutter streng tabu. Und da ich keine Ahnung hatte, wie es um ihn stand, gab ich mich damit zufrieden, dass er bloß mal „ausspannen“ musste. Ja, je weniger man sich über den Weg lief, um so besser kamen wir miteinander aus.
Er kam zurück aus der Kur, war jetzt im Ruhestand, baute sich im Keller des Hauses eine Werkstatt und begann, an allerlei mechanischen Dingen zu basteln. Nein, basteln ist falsch, es waren seriöse Konstruktionen, die er plante zum Patent anzumelden. Diesmal Geräte und Hilfsmittel für medizinische Reha-Maßnahmen, zum Beispiel nach Unfällen.
War er nicht im Keller, war er im Garten, in der Garage oder überall sonst, wo es etwas zu frickeln gab. Als ich – mit seiner finanziellen Hilfe – mein altes, bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Haus erwarb, tauchte er umgehend mit Werkzeug und Material auf und begann darin zu werkeln. Wir verkrachten uns nach kürzester Zeit, er verschwand wortlos, und wieder einmal war lange Zeit Funkstille.
Dann ergriff ihn nach wenigen Jahren wieder die Depression; in einem der seltenen, ernsthaften Gespräche zu dieser Zeit erzählte er mir, es sei ihm im Garten plötzlich „ganz komisch“ geworden, während er Laub zusammenfegte, er habe auf einmal nicht mehr gewusst, was er da mache und wo und wer er sei. Von da an saß er den ganzen Tag auf dem Sofa und tat nichts. Es ließ sich nicht mehr übersehen, dass er ernsthaft krank war. Ich hätte mich darüber freuen können, dass er keinen Streit mehr anzettelte und eigentlich nur noch passiv war, aber sogar ich begriff, dass es dem früher so agilen und stets mit etwas beschäftigten Mann sehr schlecht ging.
Darüber zu sprechen war nicht möglich, meine Mutter blockte alles ab, wahrscheinlich war sie froh, dass sie ihn jetzt ganz und gar unter Kontrolle hatte. Und natürlich hatte eine psychische Erkrankung, selbst eine Depression, den Ruch des Verrücktseins, das durfte auf gar keinen Fall die Runde in der Nachbarschaft und im Freundeskreis machen. Er selber konnte gar nicht darüber sprechen. Und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, ohne Erfahrung mit so etwas, ohne Informationen und, ehrlich gesagt, immer noch ohne wirklichen Draht zu ihm.
Es war an einem Januarabend, es war viel Schnee gefallen, und ich wollte am nächsten Tag mit meiner Partnerin zum Skilanglaufen in die Eifel fahren. Mein Vater hatte in der Garage ein Paar Skigepäckträger, die wollte ich holen, und ich fuhr abends hin. Er saß wie immer auf seinem Platz und ich setzte mich neben ihn und fragte nach den Teilen, und er zögerte lange mit einer Antwort, dann sagte er, ich könne sie aus der Garage holen, und er werde in der Zeit schauen, wo die Schlüssel zu den Trägern seien. Das tat er tatsächlich, als ich aus der Garage zurück kam, stand er im Flur mit einem Schlüssel und hielt ihn mir hin und sagte, ich könne die Sachen behalten, er werde sie ja doch nicht mehr brauchen. Ich bedankte mich und drückte ihn kurz und sah dabei seine feuchten, traurigen Augen, und dann fuhr ich nach Hause. In der selben Nacht hat mein Vater einen tödlichen Herzinfarkt erlitten; meine Mutter fand ihn morgens neben dem Bett liegend.
Im Nachlass meines Vaters entdeckte ich vor einigen Monaten eine Kiste mit allerlei Papieren, Briefen, Quittungen, Patentanmeldungen, Konstruktionszeichnungen, seine Promotionsurkunde. Unter diesen Papieren befindet sich ein Schreiben aus dem Jahre 1946. Darin wird meinem Vater von einem früheren ranghohen Universitätsmitarbeiter unter Eid bescheinigt, dass der Alte wegen andauernden antinationalsozialistischen Verhaltens an der Hochschule relegiert und verhaftet werden sollte.
Ich wusste zwar, dass er in den letzten Kriegsmonaten 1945 aus der Stadt geflüchtet war und unter Lebensgefahr von seinen Schwestern auf dem Land versteckt wurde. Von dem, was in dem Schreiben – das ich gerade mit Tränen in den Augen anschaue – steht, wusste ich bisher nichts. Welche Schuld hätte ich auf mich geladen, wenn ich meinen Vater auch nur ein einziges Mal „Nazi“ genannt hätte? Ich glaube, ich könnte damit nicht leben.