Will man sich die heutigen Intellektuellen erklären, fängt man immer noch bei den Weltkriegen an. Am Beginn des Ersten, 1914, herrschte weit gehend der nationale Konsens. Nach vier Jahren Krieg aber, mit modernen Mitteln, war auch das alte Weltbild obsolet.
Über den Schützengräben wölbte sich ein neuer Gedanke des Gemeinsamen. Jenseits der triumphierenden Mächte und ihrer Richtlinien wurde angesichts des allgemeinen Ausgeliefertseins, das Menschliche wieder ins Blickfeld gerückt. Zu den nationalen Fragen kamen die sozialen, neben die Sicherheit des Nationalstaats trat die Forderung nach dem Sozialgefüge.
So konnten von neuem Kräfte und Energien der sozialen Bewegungen des 19 Jahrhunderts, die längst vergessen waren, die Kräfte von 1848, in Erscheinung treten.
Die Intellektuellen gingen auf Distanz zur ungeliebten Kriegsmacht, zum Generalstab, sie sahen sich als die Ankläger und damit als die Sprecher der Sprachlosen. Es gibt keine effektvollere, aber auch keine bequemere Denkerposition als diese. Man stimmte das J’accuse des Emile Zola im Chor an.
Es war aber auch der Augenblick ,in dem die Technik der Stimmverstärkung zum Zuge kam. Mikrofon und Lautsprecher werden zu Instrumenten der Macht, aber auch der Denker.
Zum ersten Mal in der Geschichte entscheiden nicht die Waffen allein. Man muss nicht jemanden niederwerfen, um ihn für sich zu gewinnen, man kann ihn durch das gesprochene Wort überzeugen oder zumindest verleiten und, wie von den Sirenen des Odysseus, verführen lassen.
Selbst die Intellektuellen bleiben davon nicht verschont, viele werden zu Parteigängern, zu Propagandisten. Während sich auf der Straße der Pöbel zeigt, sehen sie, so jedenfalls die Beteiligten, eine neue Welt im Aufbau. Mit der Erfindung des Tonfilms entsteht auch die Wochenschau und damit ist die neue Rolle der Information und des Bildes für die Information gesetzt. Der Denker ist damit nicht mehr allein Verfasser von Büchern oder gar Artikeln und Essays, er ist vielmehr Akteur, und die Bühne des Nationaltheaters, die er gelegentlich in Anspruch nimmt, verlangt jetzt außer seiner Sprache, die Körpersprache.
Bald schon wird man’s genauer wissen: Die mit den Mitteln der Moderne organisierte Öffentlichkeit vertieft nicht etwa die Wahrnehmung der Problematik, sie beschleunigt sie bloß. Die technischen Mittel nützen nicht der Diversifikation, sie fördern vielmehr die Vereinfachung, auf die es den Wortführern sogar ankommt.
Der Erste Weltkrieg markiert jenseits aller Details den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft, so, wie sie war: viktorianisch, proustisch, zauberbergfiebrig. Man spricht zwar vom Untergang des Abendlandes, aber die Freikorps kommen und gehen und nicht die Gewaltherrschaft hat sich durchgesetzt, aber auch nicht die Demokratie, sondern das Prinzip der Wahl. Dieses Prinzip politisiert die neu entstandene Wirklichkeit in oft unangemessener Weise. Wir hatten einen gescheiterten Expressionisten Goebbels und einen roten Pressezar namens Münzenberg
Nach der Stunde Null des Jahres 1945 werden sich die Intellektuellen in zwei maßgebliche Strömungen aufteilen, die Konservativen, die als machtverstrickt und gottbegrenzt gelten, und die Revolutionäre, die keine Hemmungen haben, sich Lenin unterzuordnen. Bis heute. Manche von ihnen halten das sogar für eine Freiheit.
Das Wort Revolution wird zwischen den Weltkriegen zum Schlagwort. Nichts geht ohne den plakativen Begriff. Selbst die Konservativen in Deutschland werden zu konservativen Revolutionären gemacht. Bezeichnend ist , das diese Weltanschauungs- Parteien ihre Legitimation jeweils aus der anderen beziehen. Die Faschisten nennen sich Antikommunisten,
und die Kommunisten nennen sich Antifaschisten.
Es ist zu diesem Zeitpunkt vor allem ein ideologischer Krieg der in den Gazetten geführt wird und der das aufkommende Links-Rechts- Schema und die damit verbundenen Inkompatibilitäten zu verwalten hat. Wer sich aber, wie Martin Heidegger oder Carl Schmitt, in den Jargon des jeweiligen Systems einklinkt, hat unterm Strich, wie die Beispiele zeigen, nicht viel davon. Erfolgreicher erscheint auf den ersten Blick die Linke zu sein. Für sie stehen zwei herausfordernde Ereignisse bereit. Der spanische Bürgerkrieg und die Moskauer Prozesse. Im spanischen Bürgerkrieg wird der Revolutionstourismus geboren, der die 68er maßgeblich prägen wird, wobei Hollywood seine ersten Drehbücher in den Kampf schickt. Die intellektuellen Akteure wurden zu Opfern des Stalinismus oder zu dessen Überlebenden. Auch diese verstanden sich als Opfer des Stalinismus. Sie hatten sich aber dessen Strategie unterworfen und so das Verbrechen begünstigt.
Drei Gruppen traten nach der Stunde Null des Jahres 1945 hervor. Es handelt sich um die meist kommunistisch geprägte Emigration, um die notorischen Nazi- Kollaborateure und um jene, die nicht mitgemacht hatten, Deutschland aber auch nicht verließen. Es war die so genannte Innere Emigration, meist christlich orientierte Autoren.
Nach der Gründung der Bundesrepublik konnte man sich durchaus konservativ geben, mit Freyer, Sedlmayr und Martini. Gleichzeitig trat neben den Denker bereits der Publizist, der alles in gewisser Übertreibung wahrnahm. So wurden und werden Kommentar und Analyse immer lauter und rüpelhafter. Ein Beispiel dafür ist Sebastian Haffner, bekannt als scharfsinniger Beobachter des Nationalsozialismus, der anlässlich von handfester Gegenwart jedoch aus der groben Stellung nicht herausfand. Auch er war nicht in der Lage, die Provokationshaltung zu überwinden, und das ist beschämend. Man erfand vielmehr die Gruppe 47, benannt nach dem Gründungsjahr. Viele ihrer Mitglieder waren wie die meisten in den Nazikriegsjahren Kollaborateure, was sie im Nachhinein durch ihre betonte Linksposition vertuschen konnten. Links war seit den Sechzigern wieder schick, selbst im Ostblock.
Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs blieben Intellektuelle einem demokratischen Sozialismus treu, der den Namen „Prager Frühling“ trug und im Westen später als Eurokommunismus etikettiert wurde.
Gesellschaftskritik ist aber nicht alles. Es genügt nicht die Frage nach dem Bösen zu stellen, man muss sich auch des Guten versichern können, auf die Gefahr hin, sich selbst in Frage stellen zu müssen. Sonst wird der Dissident zum Moralapostel und der Provokateur zum Boulevardjournalisten.
Die Demokratie garantiert natürlich auch das Recht auf Casting, aber worauf es ankommt, das sind die Werte, auf die man sich beruft und die in der Gesellschaft verbindlich sind. Diese Werte aber sind Ausdruck des Menschenbildes, das sich aus Mythos, Religion und Kulturgeschichte ergeben hat. In diesen Zeiten des schnellen Verbrauchs, gilt es das Wissen, das uns leitet, im kollektiven Gedächtnis wieder sichtbar zu machen. Moralisches Verhalten kann eingefordert, aber nicht eingeklagt werden. Darüber wäre zu reden, will man wirklich vorankommen, und sich nicht bloß mit Facebook, Flashmob, Attac und Occupy wichtig machen.
Die Schrift ist immer noch bedeutsamer als die Unterschrift. Die Diktatur bediente sich des Verbots, die Demokratie und die von ihr getragene politische Klasse setzen auf die Ignoranz. Ein Verbot lässt sich politisch bekämpfen, der Ignoranz aber ist nur kulturell beizukommen.
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