Ulrike Ackermann / 04.09.2007 / 17:09 / 0 / Seite ausdrucken

Verteidigung des dekadenten Europa

Im Sonderheft des Merkur (August/September 2007) mit dem Titel “Kein Wille zur Macht. Dekadenz”, das insgesamt sehr lesenswert ist, verteidige ich in meinem Essay das dekadente Europa…..

Ulrike Ackermann
Verteidigung des dekadenten Europa
(Sonderheft August/September 2007 Merkur)
„Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet…. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt.“ So hellsichtig hatten Karl Marx und Friedrich Engels 1848 den Entwicklungsprozeß des Kapitalismus und seine Globalisierung im Kommunistischen Manifest beschrieben. Sie sollten recht behalten. Nach dem Zusammbruch der Sowjetunion und dem Sieg der Demokratie und Marktwirtschaft über den Kommunismus und seine Planwirtschaft ist es um Freiheit und Wohlstand der Erdenbürger nicht schlecht bestellt: fast 2/3 aller 192 Staaten haben heute gewählte Regierungen, in über 80 Ländern existieren sogar echte liberale Demokratien. Seit 1980 hat sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Weltbevölkerung verdoppelt. Und die mittlere Lebenserwartung der Menschheit liegt inzwischen bei 65 Jahren.
Mit dem prognostizierten weltweiten Untergang des von ihnen so gehaßten dekadenten Kapitalismus hatten sie allerdings unrecht. Aber nicht der realistische Kern und ihre Weitsicht auf die produktiven Kräfte des Weltmarkts blieb in den Köpfen hängen, sondern die Täuschung und Illusion, die im Ressentiment gegenüber dem Bourgeois gründen. Auch wenn die Realität die Propheten der klassenlosen Gesellschaft und der Revolution und in der Nachfolge ihre staatskommunistischen Vollstrecker Lügen gestraft hat, hat der Haß auf Kapitalismus und Globalisierung eine ungeahnte Haltbarkeit, gerade auch im ökonomisch gut abgepolsterten Europa. Nicht nur das bunt gemischte Volk der Globalisierungskritiker, von Attac, Pax Christi, Linkspartei, Verdi bis zu NPD und schwarzem Block, die sich in Heiligendamm zum Protest gegen den G-8-Gipfel versammelten, auch die abertausenden Teilnehmer auf dem Evangelischen Kirchentag würden der Schlußfolgerung Karl Marx‘ und Friedrich Engels‘ aus ihrem Globalisierungsbefund kaum widersprechen: „Die Bourgeoisie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an anderer Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“
Obwohl das kommunistische Gesellschaftsexperiment gescheitert ist und Millionen Todesopfer beschert hat, überwintern zählebig seine ideologischen Versatzstücke bis hinein in die bürgerliche Mitte der europäischen Gesellschaften.
Auch wenn sich die Sprache der Kritik im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hat. Das Schimpfwort Bourgeoisie taucht in der Regel nur noch an den linken und rechten Rändern auf. Auch wenn der Vorsitzende der SPD Kurt Beck jüngst mit seiner Kanonade gegen den verhaßten Bourgeois, der die Freiheit untergrabe, und der Geiselung des sogenannten Neoliberalismus einen Ausflug in die ideologische Vergangenheit seiner Partei unternahm. Die radikale Kapitalismuskritik mutierte in den letzten Jahrzehnten zur diffusen Verachtung der Globalisierung und erreichte damit weit größere Kreise. Obwohl gerade ihr zu verdanken ist, daß sich in den letzten 50 Jahren der Lebensstandard weltweit verbessert hat und die meisten Menschen heute länger und gesünder leben als jemals zuvor in der Geschichte. Auch wenn es bei dieser Modernisierung der Weltwirtschaft immer auch Verlierer gibt, nehmen die Gewinner eindeutig zu. Der Globalisierungsprozeß ist letztlich die weltweite Nachahmung des westlichen kapitalistischen Modells, das von der Mehrheit der Weltbevölkerung angestrebt wird. Jene Länder, die sich der Weltwirtschaft angeschlossen haben, steigerten ihr wirtschaftliches Wachstum und damit den Lebensstandard ihrer Bevökerungen. Wenn die Kritiker der Globalisierung heute die Kolonialisierung traditionaler Gesellschaften und anderer Kulturen durch die kapitalistische Wirtschaft brandmarken, fremde Lebenswelten vor dem Einbruch der dekadenten, kapitalistischen Moderne schützen und konservieren möchten, ist das gegenüber den Menschen der Dritten Welt geradezu zynisch. Denn gerade sie wollen einen höheren Lebenstandard und an den Früchten partizipieren, die der westliche Kapitalismus beschert. Zumal die Geschichte gezeigt hat, daß à la longue der kapitalistische Weltmarkt autoritäre Regime destabilisiert und den Weg zur Demokratie ebnen, die barbarischten Nationen zivilisieren kann, wie Karl Marx voraussagte. Auch im Vorbehalt gegenüber den ostmitteleuropäischen Bürgerrechtsbewegungen noch vor dem Sieg der Demokratie über den Kommunismus spiegelte sich das antikapitalistische und antiliberale Ressentiment wider: weil die Bürger in Osteuropa 1989 nicht nur für Bürgerrechte, sondern auch für Eigentumsrechte kämpften. Sie wollten politische und wirtschaftliche Freiheit, intellektuelle und finanzielle Unabhängigkeit, kurz: Demokratie und Kapitalismus. Damit hoben sie die von Marx propagierte Entgegensetzung von Bourgeois und Citoyen auf - eine ideologische Denkfigur, die sich paradoxerweise im marktwirtschaftlichen und demokratischen Westen immer noch großer Beliebtheit erfreuen kann. Obwohl die Freiheit des Individuums in der Einheit von Bourgeois und Citoyens, eingebettet in einem verläßlichen Rechtsrahmen, gerade die Grundlage für den Erfolg des Kapitalismus und der Demokratie im Westen war. Denn beide bedingen sich gegenseitig, weil der Bourgeois mit seiner Tätigkeit erst die Voraussetzung für die politische Selbstbestimmung des Citoyens schafft.
Die Errungenschaft der modernen, offenen Gesellschaft des Westens ist die Trennung der Sphären von Staat, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Religion und Privatheit. Die Pluralität der über Jahrhunderte hart erkämpften individuellen und politischen Freiheiten steht heute unter dem Schutz der jeweiligen Verfassung und geregelte Prozeduren garantieren die politische Teilhabe der Bürger am Gemeinwesen. Die Institutionen und demokratischen Einrichtungen schaffen die Bedingungen für die Entfaltung der Freiheit. Pluralistische und der staatlichen Macht entgegenwirkende politische Zusammenschlüsse und Institutionen der Wirtschaft sorgen für Dynamik und Balance; der Wettbewerb im Marktgeschehen ist dabei Entdeckungsverfahren und Entmachtungsinstrument zugleich. Und Akteur ist das Individuum, das unter dem Schutz der garantierten politischen und individuellen Freiheiten die Wege seines Glücks wählen und gestalten kann.
Marxismus und Kommunismus hatten im Gegensatz dazu das Kollektiv auf ihre Fahnen geschrieben und den Ehrgeiz, die Gesellschaft von Grund auf zu gestalten und umzugestalten, sie mit Staat und Wirtschaft zu verschmelzen. Getreu seinem historischen Determinismus sollte dabei ein neuer Mensch erschaffen werden, ein Himmelreich auf Erden, in dem dem neuen Kollektivmenschen der gerechte Anteil im geschichtlichen Jenseits versprochen wurde.
‚Erlöse uns von dem Bösen‘ der kapitalistischen, bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Dekadenz, ihrem Konsumismus und Individualismus, so das Motto der Ideologie. Der französische Soziologe Raymond Aron war einer der ersten, der den Begriff der „säkularen Religion“ für den Kommunismus einführte. Geboren 1905, studierte er Philosophie an der Pariser Sorbonne. Sein einstiger Kommilitone Jean-Paul Sartre wurde später sein schärfster Kontrahent. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete er in London als Redakteur der Exilzeitschrift La France libre und stand den Gaullisten nahe. Bereits in seinen frühen Beiträgen zur politischen Philosophie stand die Totalitarismuskritik im Zentrum. Seine Ideologiekritik ist verbunden mit der leidenschaftlichen Verteidigung der Demokratie als Garantin derjenigen institutionellen Einrichtungen und Vorkehrungen, die eine Trennung von Staat und ziviler Gesellschaft gewährleisten können. Arons außenpolitische Reflexionen, insbesondere zum Ost-West-Konflikt, brachten ihm in den 50er Jahren den Ruf des ”Kalten Kriegers” ein. Angefeindet wurde er v.a. wegen seiner scharfsinnigen Kritik der Intellektuellen, sozusagen das Herzstück seiner Totalitarismuskritik. Bereits 1948, angesichts der Kommunismusbegeisterung seiner Pariser Kollegen, schrieb Aron: ”Wer ein Regime, das Konzentrationslager einrichtet und eine politische Polizei unterhält, die jene der Zaren weit übertrifft, als Station auf dem Weg zur Befreiung der Menschheit betrachtet, der verläßt die Grenzen selbst der für Intellektuelle noch erträglichen Idiotie.” (Figaro, 11.4.1948) Charakteristisch für das prokommunistische intellektuelle Klima im Frankreich der 50er Jahre war das Bonmot, ‘mit Sartre irren ist besser als mit Aron rechtzuhaben’. Erst 1955 erhielt der bedeutendste französische Vertreter der liberalen Totalitarismuskritik eine Professur für Soziologie an der Sorbonne. Sein im selben Jahr erschienenes großartiges Werk „Opium für Intellektuelle“ provozierte eine heftige Auseinandersetzung um die Selbstverortung und das Selbstverständnis der Intellektuellen. Im Titel spielt er auf den berühmten Satz von Karl Marx an - „die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ In seiner luziden Analyse der kommunistischen Ideologie und deren Faszinationskraft, die sie besonders bei Intellektuellen hatte, schreibt Aron: ”Die Ideologie, genauso wie früher der transzendierende Glaube, bestimmt das, worauf es vor allem anderen ankommt; sie rechtfertigt die Autorität und verspricht zwar nicht mehr dem Individuum, sondern dem Kollektivmenschen seinen gerechten Anteil im geschichtlichen Jenseits, d.h. in der Zukunft. Aber der Kommunismus gibt sich nicht selbst für eine Religion aus, weil er jede Religion für ein Überbleibsel vergangener Zeiten hält; er bekämpft die Kirche im Namen des Atheismus und setzt sich über sie wie über alle anderen Institutionen im Namen des Sozialismus hinweg… Der Kommunismus ist also weniger eine Religion, deren Vorbild im Westen nach wie vor das Christentum ist, als ein politischer Versuch, für die Religion einen Ersatz in einer Ideologie zu finden, die man zur Staatsorthodoxie erhoben hat, einer Orthodoxie übrigens, die noch die Ansprüche nährt, die die katholische Kirche aufgegeben hat.“  Die Partei wird zum Messias. Aber bereits die marxistische Prophetie hat dem typischen Schema der jüdisch-christlichen entsprochen: ”Jede Prophetie verdammt das, was ist, zeichnet ein Bild dessen, was sein sollte und sein wird, und erwählt einen Einzelmenschen oder eine Gruppe, um den Abgrund zu überwinden, der die nichtswürdige Gegenwart von der strahlenden Zukunft trennt… Das Unglück des Proletariats ist der Beweis seiner Berufung, und die kommunistische Partei wird zur Kirche, der sich nicht nur die Bourgeois (den Heiden vergleichbar) entgegenstellen, die sich der tröstlichen Botschaft verschließen, sondern auch die Sozialisten (den Juden vergleichbar), die die Revolution, deren Kommen sie selbst so viele Jahre verkündeten, nicht anerkannt haben.” An späterer Stelle seines Werkes kommt Aron nochmals auf die utopischen Sehnsüchte zu sprechen. „Vielleicht ist eine gewisse Prophetie die Seele einer jeden Aktion. Sie versetzt die Welt in Anklagezustand und sichert die Würde des Geistes in der Ablehnung des Bestehenden oder in der Erwartung des Kommenden. Wenn aber die Regierenden vor lauter Stolz über die gelungene Revolution die Prophetie mit Beschlag belegen, um ihre Macht zu gründen und ihre Feinde in einen Topf zu werfen, wird die säkularisierte Religion geboren, die von vornherein dazu verdammt ist, als Orthodoxie unfruchtbar zu werden oder sich in Gleichgültigkeit aufzulösen.” Mit einem leidenschaftlichen, zugleich skeptisch gefärbten Appell beschließt er sein Buch: „Die Menschen sind nicht so weit entwickelt, daß es ihnen an Gelegenheiten und Motiven fehlt, sich gegenseitig umzubringen. Wenn aber die Toleranz nur aus dem Zweifel geboren wird, dann lehre man den Zweifel an Vorbildern und Utopien, man lehre, die Propheten des Heils und die Verkünder von Katastrophen in ihre Schranken zu verweisen. Rufen wir mit unseren Wünschen die Zweifler herbei, wenn sie es vermögen, den Fanatismsus zu töten.“
Dieser große liberale und streitlustige Denker, ursprünglich aus der Linken kommend, wurde bis zu seinem Tod 1983 nicht müde, die Freiheit gegenüber ihren Verächtern und Feinden zu verteidigen. In seinem 1965 erschienenen Essay „Über die Freiheiten“ setzt er sich mit dem prekären Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit auseinander. Er hält den ideologisch immer noch virulenten Gleichheitsdrang und die Erweiterung staatlich garantierter sozialer Rechte auf lange Sicht für unvereinbar mit einer freiheitlichen Gesellschaft. „Alle Menschen haben dasselbe Recht auf Achtung; aber weder die Genetik, noch die Gesellschaft werden je allen Menschen dieselbe Fähigkeit zusichern können, Vollkommenheit zu erreichen oder den ersten Rang zu erklimmen. Der doktinäre Egalitarismus bemüht sich vergebens, der biologischen und sozialen Natur Zwang anzutun: was er erreicht, ist nicht Gleichheit, sondern Tyrannei.“  Aron rührte damit frühzeitig an einem Problem, das dem europäischen Wohlfahrtsstaat bis heute eigen ist. In dem er im Namen von Gleichheit und Gerechtigkeit die sozialen Rechte und Garantien erweitert, wird zunehmend der Staat für alle Lebensrisiken haftbar gemacht und der Bürger entmündigt. Die Folge ist das Schwinden von Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und der Fähigkeit, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, die individuelle Freiheit zugunsten der eigenen Autonomie auszukosten und tatsächlich Bougeois und Citoyen zugleich zu sein.
Anläßlich des bevorstehenden Wahlsiegs der Kommunisten und Sozialisten in Frankreich 1977 und dem großen Erfolg der Eurokommunisten in Westeuropa schrieb Aron mit großer Verve ein „Plädoyer für das dekadente Europa“. Seine Bilanz ist eindeutig: alle Erfahrung auf wirtschaftlicher, politischer und sozialer Ebene hat gezeigt, daß Sozialismus oder Kommunismus nicht die Freiheit gewähren, sondern hinter das westliche Europa der Aufklärung zurückfallen. Gegenüber der Rede vom dekadenten Europa auf Seiten der westlichen Linken verteidigt er die westliche Demokratie und ihre Werte samt ihrer kapitalistischen Wirtschaft. Auch nach dem Sieg der Demokratie und des Kapitalismus in Ostmitteleuropa und dem Untergang der kommunistischen Parteien in Europa ist Arons Analyse von verblüffender Aktualität. Denn das antikapitalistische Ressentiment, der Haß auf den Bürger - aus Neid - und der bürgerliche Selbsthaß - aus schlechtem Gewisssen - beseelen immer noch den Diskurs in Europa, sei es in der öffentlichen Meinung, der politischen Klasse oder bei den Intellektuellen. Kritik und Selbstkritik zeichnen zwar die westliche Zivilisation aus. Und gerade dieser eigenen Infragestellung verdankt sie ihre Originalität und über Jahrhunderte gewonnene Kraft. Gleichzeitig muß die liberale Demokratie aber mit dem Widerspruch leben, daß sie die Freiheit auch für die Feinde dieser Freiheit postuliert. Deshalb fragt sich Aron: „Welche geistige Verirrung und welche Unkenntnis der Geschichte veranlaßt so viele Intellektuelle, eine Gesellschaftsordnung als ‚repressiv‘ zu verurteilen, wo die Abtreibung legalisiert, das Zusammenwohnen von Homosexuellen toleriert wird und die Auseinandersetzung über Soldatengewerkschaften stattfindet, wo in den meisten Fällen die Todesstrafe abgeschafft ist und niemandem das Recht auf Meinungsäußerung verweigert wird, ob er nun für die Pornographie, die Baader-Bande oder für irgendeine verückte Sache plädieren mag. Sofern nicht alle Anzeichen täuschen, wird das freie Europa nicht durch übermäßige Repression bedroht, sondern durch weitgehende Freiheiten. Oder bleiben diese Freiheiten ganz illusorisch und oberflächlich? Das westliche Produktionssystem hat den Beweis seiner Produktivität erbracht.”
Ein ungebrochener bürgerlicher Optimismus ist denn auch bis heute verpönt. Sofort schallt ihm nicht nur von protestantischer Seite die mahnende Stimme entgegen: ‚Ich glaube, Euch geht es wohl zu gut!‘ Ein seltsames ideologisches Gemisch aus Konsum- und Kulturkritik verbunden mit Entfremdungspostulaten ist immer noch en vogue. Theodor W.Adornos Diktum „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ oder Walter Benjamins mahnender Ruf, „Solange es noch Bettler gibt, gibt es Mythos“, bevölkern noch viele Köpfe. Konservative und linke Kulturkritik, die den Verlust der unterstellten ursprünglichen Einheit und integren Welt betrauern, überlappen sich zuweilen. Fragmente aus unterschiedlichen Religionen mischen sich auf auf bizarre Weise mit Versatzstücken der säkularen Religion, die Aron die „Vulgata des Marxismus“ nannte. Obendrein wird mit Kassandra-Rufen die Rettung der Natur beschworen, die Opfer des habgierigen Kapitalismus und der Globalisierung geworden sei. Skepsis und Mißtrauen gegenüber der westlichen Zivilisation verwandeln sich dann hurtig in den Dekadenz-Vorwurf. Ihre „händlerische Weltanschauung“, die bougeoise Mentalität des ‚Komfortismus‘ würde ihr unweigerlich den sittlich-kulturellen Niedergang bescheren, befürchtete schon nach Beginn des Ersten Weltkriegs der Sozialwissenschaftler Werner Sombart in seinem Buch „Händler und Helden“. Luxus und Genuß seien des Teufels und führten geradezu in die Verderbnis. Die Sehnsucht nach einem letztem Sinn, nach Erhabenheit und Vollkommenheit angesichts der vermeintlichen Sinnleere und Profanität der bürgerlich-kapitalistischen Moderne münden auch heute wieder in die Frage: Kann es denn überhaupt eine gesellschaftliche Ordnung ohne Erlösungsversprechen, Transzendenz und Utopien geben? Der Mensch brauche doch Orientierung in der Kälte der offenen Gesellschaft, gepeinigt vom harten, kapitalistischen Wettbewerb der Interessen und einer Rationalität, die bar jeder Herzenswärme den Einzelnen sich selbst überlasse? Der Wunsch nach wärmenden Gemeinschaften, nach Bindung und identitätsstiftenden Kollektiven geht auch in Europa einher mit einer Renaissance der Religionen in Ost und West, auch wenn davon bisher die Staatskirchen am wenigsten profitieren und die Volksreligiösität Aufwind erhält.  Die Individualisierung der Religion zeigt sich in multiplen religiösen Identitäten, in denen der Einzelne mit Fragmenten etwa aus Zen-Buddismus, Suffismus, der Esoterik, aus christlich-jüdischen und regionalen Traditionen seine Privatreligion zusammensetzt, ohne darin Widersprüche auszumachen. Religionsfreiheit garantiert nicht zuletzt die Wahlmöglichkeiten dieses patchwork.  Die neue Öffnung gegenüber dem Religiösen und Semireligiösen, die Wiederkehr der Gottesgläubigkeit beschränkt sich aber keineswegs auf Kirchenhäuser und den privaten Raum, sondern manifestiert sich zunehmend im öffentlichen Raum. Nicht nur die Zunahme der Kopftücher und Burkas auf europäischen Straßen zeigt, daß die Religion offensichtlich mehr geworden ist als eine Privatsache und dies auch erstaunlich breit akzeptiert wird. 
Die Toleranz gegenüber der Praxis anderer Religionen ist eingebettet in einen profunden Multikulturalismus, der gerade in Deutschland mit Verweis auf den nationalsozialistischen Reinheits- und Homogenitätswahn mahnend beschworen wird. Doch in der Verherrlichung anderer, fremder Kulturen, dem Lobgesang auf das Ursprüngliche, Unverdorbene, frei von kapitalistischen Überformungen schwingt zugleich ein antiwestliches und antiliberales Ressentiment mit. Pikanterweise waren selbst Marktstrategen inzwischen so pfiffig, den Ethno-Look profitabel in der Modebranche zu etablieren, nach dem Motto: Versöhnung statt Kampf der Kulturen. Beunruhigend hingegen ist, wenn ein Kulturrelativismus um sich greift, der offen oder unter der Hand Toleranz gegenüber anderen Kulturen anmahnt und zugleich die Errungenschaften der Aufklärung zur Disposition stellt - auch wenn die Vertreter dieser anderen Kultur mit den verfaßten freiheitlichen Grundrechten der westlichen Demokratie auf ideologischen Kriegsfuß stehen. Wenn plötzlich Gruppenrechte, das Brauchtum ethnischer und religiöser Kollektive in der Rechtsprechung das Individualrecht unterlaufen.
Das Bild vom selbstverantwortlichen Individuum, das sein Leben, seine Freiheit und sein Streben nach Glück eigenwillig in die Hand nimmt, stößt bis heute auf Mißtrauen. In der immer auch noch im Westen geläufigen Individualismuskritik wird das egoistische, gewinn- und zweckorientierte Individuum als Produkt des dekadenten Kapitalismus angeprangert.  Das Hohelied auf die Gemeinschaft, das weiträumig angestimmt wird, läuft aber Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die individuelle Freiheit, als kostbarer Schatz und Errungenschaft der Moderne ist in der Vergangenheit allzu häufig einem Kollektiv geopfert worden. Das Lob der Umma war auch schon der weitgehend untergegangenen säkularen Religion und den tödlichen Feiern der Gemeinschaft in den Dikaturen des letzten Jahrhunderts eigen, Erfahrungen indes, die sich Europa eigentlich zu Herzen nehmen sollte.
Denn westliche Selbstzweifel, die gar zum Selbsthaß neigen, sind heute mit einem Haß auf die Dekadenz des Westen konfrontiert, der keine Zweifel und Fragen zuläßt. Es scheint uns wirklich zu gut zu gehen, wenn die eigene Infragestellung so leichtsinnig und übermütig geworden ist, daß die Toleranz sogar die Intolerenz duldet. Also ist es höchste Zeit, sich für das dekadente und säkulare Europa, für die individuellen Freiheiten des Bougeois und Citoyen in die Bresche zu werfen und die Skepsis wachzuhalten gegenüber Sinnstiftern, die das ‚gute Leben‘ in neuen und alten Kollektiven verheißen.  Denn „der Kampf zwischen der Versuchung des Totalitarismus und den liberalen Sehnsüchten dauert an. Er wird ebenso lange fortgesetzt werden wie unser Auge reicht. Die Freiheiten, deren wir uns erfreuen, behalten im Westen die Zerbrechlichkeit der kostbarsten Errungenschaften der Menschheit.“(Raymond Aron)

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Ulrike Ackermann / 19.01.2014 / 22:44 / 3

Freiheit als Lebenselixier

Es scheint lange her zu sein, dass die Idee eines geeinten freiheitlichen Europas die Bürger, Politiker und Märkte noch gleichermaßen begeisterte. Aus dem ehrgeizigen Projekt…/ mehr

Ulrike Ackermann / 30.09.2013 / 21:49 / 3

Ist Europa noch zu retten?

Europa hat letzten Endes nur Sinn, wenn und insoweit es zur Entfaltung und Verbreitung der liberalen Ordnung beiträgt”, mahnte einst der Soziologe und ehemalige EU-Kommissar…/ mehr

Ulrike Ackermann / 15.11.2012 / 16:55 / 0

Freiheitsindex 2012

Die Wertschätzung der Freiheit in Deutschland hat im Vergleich zum Vorjahr leicht zugenommen. Dies hat das John Stuart Mill Institut als Ergebnis des „Freiheitsindexes Deutschland“…/ mehr

Ulrike Ackermann / 16.03.2012 / 08:12 / 0

Willkommen Joachim Gauck

Es ist schon kurios: ab Sonntag werden wir, wenn alles gut geht, einen leidenschaftlichen Kämpfer für die bürgerlichen Freiheiten zum Bundespräsidenten haben, den eigentlich keine…/ mehr

Ulrike Ackermann / 19.11.2011 / 11:44 / 0

Was ist der Markt?

In der aktuellen Diskussion um die Finanz-, Euro-, Schulden- und Wirtschaftskrise, um Staatsbankrotte, Europäische Stabilitätsfonds und milliardenschwere Rettungsschirme steht oftmals “der Markt” im Mittelpunkt der…/ mehr

Ulrike Ackermann / 21.09.2011 / 22:11 / 0

Paternalismus und Ökodiktatur

Was waren das für schöne Zeiten, als die Idee eines geeinten freiheitlichen Europa die Bürger, Politiker und Märkte noch gleichermassen begeisterte! Aus dem ehrgeizigen Projekt…/ mehr

Ulrike Ackermann / 15.08.2010 / 20:09 / 0

Trauen wir uns!

Die vielzitierte Politikverdrossenheit der Bürger entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Parteienverdrossenheit und handfeste Enttäuschung über die Politik, die die konservativ-liberale Regierungskoalition seit ihrem Amtsantritt…/ mehr

Ulrike Ackermann / 25.01.2010 / 13:34 / 0

Seyran Ates trifft den wunden Punkt

Seyran Ates: ‚Der Islam braucht eine sexuelle Revolution’, Ullstein Verlag, Berlin Der Islam braucht eine sexuelle Revolution, fordert die Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates in…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com