Thomas Rietzschel / 08.11.2017 / 12:20 / Foto: Mattbuck / 8 / Seite ausdrucken

Verstand aus, Alarm an, Fakten egal

Was haben die politisch angezettelte „Energiewende“, die Mobilmachung gegen den Verbrennungsmotor und die Sexismus-Debatte dieser Tage miteinander zu tun? Nichts, möchte man meinen. Stimmt aber nicht oder nur auf den ersten Blick. Ist es doch immer der selbe Sumpf, aus dem die Blasen der Entrüstung aufsteigen. Wo die Emotionen hochkochen, benebeln sie allemal den Verstand. Gleich, ob es um die Angst vor der Atomenergie, vor den Abgasen der Autos oder um die Übergriffe weibstoller Mannsbilder geht.

Wann immer sich die berechtigte, auch notwendige Aufdeckung bedrohlicher Entwicklungen und individuellen Fehlverhaltens zur Kampagne auswächst, wird die Sache zu Nebensache. Das Falsche verliert seine eigentliche Bedeutung. Es dient nur mehr als Anlass für die Entladung gesellschaftlich aufgestauter Aggressionen, für ihre bewusste oder unbewusste Kanalisierung. Es geht nicht darum, etwas aufzuklären, Schuld abzutragen. Vielmehr nutzen verschiedene Milieus dieses oder jenes Geschehen, den einen oder anderen Vorfall, um ihr Mütchen zu kühlen.

Die blanke Wut bricht sich Bahn. Vernünftige Einwände erstickt der Zorn, sobald die Hysterie obsiegt. Neu ist das mitnichten, keineswegs historisch singulär. Immer wieder haben sich Gesellschaften im Laufe der Geschichte Feinde erschaffen, wenn sie sich im Überdruss der Dekadenz selbst nicht mehr ertragen konnten: Gegner, Menschen, Objekte und Entwicklungen, deren Verfolgung die Masse wieder zusammenschweißte. Wenn im Sommer 1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, jemand mit dem Finger auf einen anderen zeigte und laut schrie, „da steht der Spion“, war die Jagd eröffnet. Konnte der „Entlarvte“ nicht schnell genug laufen, wurde er übel zugerichtet.

Fakten hin oder her

Inzwischen kann davon keine Rede mehr sein, obwohl es schon mal vorgekommen ist, dass der AfD die Scheiben ihres Büros eingeworfen, Flüchtlingsunterkünfte angezündet wurden. An der Tagesordnung sind derartige Übergriffe nicht, noch nicht. Die medial befeuerten Kampagnen jedoch unterscheiden sich von denen früherer Zeiten nur thematisch. Methodisch hat sich wenig geändert, sieht man davon ab, dass die Massenhysterie heute sehr viel rasanter um sich greift. Dank der technischen Verbreitungsmöglichkeiten kann die zweckdienliche Interpretation bestimmter Ereignisse suggestiver denn je wirken. Zweifel werden wie von selbst im Keim erstickt. Wer sie dennoch hegt, stellt sich außerhalb der Gemeinschaft. Fakten hin oder her.

Obwohl die Toten, die es 2011 in Fukushima zu beklagen gab, allesamt Opfer einer Naturkatastrophe und nicht des durch den Tsunami verursachten Reaktorunfalls waren, mussten sie im fernen Europa, zumal in Deutschland, dazu herhalten, die generelle Angst vor der Atomenergie wieder anzufachen. Die Furcht vereinte große Teile des Volkes, der Hass folgte zwangsläufig. Um von dieser aufgeheizten Stimmung politisch zu profitieren, verkündete die Bundeskanzlerin schnurstracks den kurzfristigen „Atomausstieg“ (spätestens bis 2022), unterm Strich eine „Energiewende“, deren wirtschaftliche Folgen bis auf den Tag nicht abzusehen sind.

Eben wurde bekannt, dass bald zehn Prozent der größeren Unternehmen aus Hessen abwandern wollen, weil die gestiegenen Stromkosten betriebswirtschaftlich nicht mehr tragbar sind. Die Folge werden Einbrüche bei den Steuereinnahmen sein, die dann wiederum bei der Förderung ökologischer Projekte fehlen. Wo der Verstand aussetzt, beißt sich die Katze in den Schwanz.

Eine ermüdete Gesellschaft lässt Dampf ab

Nicht anders verhält es sich beim geplanten Aus für die Verbrennungsmotoren, den Diesel insbesondere. Auch da genügt sich die Kampagne darin, gegen etwas Front zu machen, ohne ins Kalkül zu ziehen, wie unsinnig das ist angesichts der Umweltschäden, die die Erzeugung eben des Stroms verursacht, bevor ihn die favorisierten E-Autos aus der Steckdose tanken können. Wer einmal am Fuße eines Windrades stand, braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie viel Kohle verbrannt werden musste, um die Energie für die Herstellung eines derartigen Ungetüms zu gewinnen. Ganz abgesehen davon, dass diese Windmühlen im relativ windstillen Deutschland öfter stillstehen als sie sich drehen.

Doch darauf kommt es ja am Ende auch gar nicht an. Es genügt vollauf, gegen etwas zu sein, um die Volksseele zum Kochen zu bringen. Mit Kampagnen für etwas ist dagegen wenig auszurichten. Trotz aller zusammengeschusterten Erfolgsmeldungen wollen die Deutschen bisher nicht auf das E-Auto umsteigen, auch wenn sie dem Diesel zunehmend misstrauen. Gefühle der Euphorie sind schwerer zu wecken als die der Aggression.

Die dekadent ermüdete Gesellschaft will vor allem Dampf ablassen. Und sei es, dass sie die Debatte um den sexuellen Missbrauch zur Groteske aufbläst. Diejenigen, die davon tatsächlich betroffen sind, die Vergewaltigung und widerliche Belästigung erlebt haben, sie müssen sich doch abermals missbraucht vorkommen, wenn sich jetzt prominente TrittbrettfahrerInnen neben sie drängeln, gewesenen Boulevard-Größen plötzlich einfällt, dass ihnen einer vor dreißig Jahren ans Knie gefasst oder einen schmutzigen Witz erzählt hat.

Es mag ja sein, dass sich Uschi Glas unangenehm bedrängt fühlte, als ihr ein Filmpartner bei der Aufnahme einer Liebesszene die Zunge in dem Mund zu stecken versuchte. Nur wann war das? Damals als sie ihr schauspielerisches Handwerk bei der Mitwirkung in Schmonzetten wie „Zur Sache Schätzchen“ erlernte?

Mann-Mann-Frau oder Frau-Frau-Mann?

Und zur Sache geht es denn auch bei Spiegel Online. Man lässt es ordentlich krachen. Frauen, erfahren wir zum Beispiel, würden am liebsten „genommen“ werden, möglichst von zwei Männern gleichzeitig. Ausführlich informiert das Portal über einen Engländer, der eine Doktorarbeit mit dem Titel „Untersuchungen zum Thema flotter Dreier“ geschrieben hat. Dank seiner persönlichen Feldforschung ist er zu der Erkenntnis gelangt, dass sich die Paarung Mann-Mann-Frau größerer Beliebtheit erfreut als die Frau-Frau-Mann.

Wer hätte das gedacht, und wer wollte etwas dagegen sagen. Erlaubt ist, was gefällt. Nur liest man dann etwas verwundert, wie sich Spiegel Online in anderen Beiträgen über „anzügliche Sprüche, unerwünschte Berührungen, Vergewaltigungen" echauffiert. Wie passt das eine zum andern, wie ernst ist es zu nehmen? Was kommt da auf uns zu, wenn dieser Tage schon der britische Verteidigungsminister zurücktrat, weil ihm vorgeworfen wurde, 2002 bei einem Abendessen das Knie einer Journalistin berührt zu haben?

Geht es noch um die Sache, wo es so zugeht? Oder werden schlichtweg Täter gesucht, über die sich herfallen lässt, um der eigenen Leidenschaft Herr zu werden? Die Katharsis der griechischen Tragödie im trivialen Nachspiel unserer Tage, auf dem Niveau der Boulevard-Medien? Gilt es bloß noch, eine Sau nach der anderen durchs Dorf zu treiben, die Kernkraft, den Diesel - und nun die sexuelle Anmache? Vermutlich ja.  So wie einst in Kriegen und Revolutionen befreien wir uns heute durch moralistische Attacken von dem aufgestauten Aggressionsdruck: Klassenkampf in den Zeiten der Dekadenz.

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Leserpost

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Frank Müller / 08.11.2017

Das funktioniert allerdings in alle Richtungen, s. Empörungen konservativerer Geister über die EU, der sie gerne Maßnahmen zusprechen, die es gar nicht gibt oder die auf nationalstaatlicher Ebene stattfanden. Zuletzt das angebliche “Steinkrugverbot”  und davor u.a. der Klassiker:  die “Krümmungsverordnung” für Bananen.

Roland Müller / 08.11.2017

Die Frauen, denen es gelungen ist, eine Schaulspielkarriere ohne die Zwangsbeglückung durch den Herrn Weinstein zu starten, sind hoffnungslos in der Überzahl. Seriöser Journalismus würde also danach fragen, was zu tun ist, um dem Machtmissbrauch durch den Bock von Hollywood und seine Geistesverwandten ohne gravierende Nachteile zu entgehen, statt dämliche “me too”-Propaganda zu forcieren. Übrigens ist der Machtmissbrauch in praktisch allen Wirtschaftsbereichen alltäglich. Sei es, das es um Selbstbedienung bei den Vergütungen geht, sei es, das es darum geht, sich die Verkürzung eines Arbeitsvertrages um ein Jahr mit 300 Millionen Dollar vergolden zu lassen, wie es meinem ehemaligen Chef gelungen ist. Am Anfang steht immer der Machtmissbrauch, danach folgen nur noch nahezu beliebig austauschbare Details.

Jürgen Althoff / 08.11.2017

Als ich in den 60er Jahren in der Schule in vorbildlicher Ausführlichkeit die Hitler-Jahre durchnehmen durfte, habe ich mich gefragt, wie es möglich ist, dass “Kauft nicht bei Juden” offenbar in Deutschland schnell Allgemeingut werden konnte. Heute, z.B. nach dem Terror um den AfD-Parteitag in Köln und andere Veranstaltungen dieser Art, weiß ich, wie einfach es ist, eine nahezu alle Bevölkerungsgruppen übergreifende Hetz- und Vernichtungskampagne zu inszenieren. Ich weiß nicht, ob ich mich nach diesen Erfahrungen auf meine noch verbleibende Lebenszeit freuen soll.

Corinne Henker / 08.11.2017

“Oder werden schlichtweg Täter gesucht, über die sich herfallen lässt, um der eigenen Leidenschaft Herr zu werden?” Das mag ein Grund sein. Ein anderer ist der Versuch der Ablenkung des gemeinen Wahlvolkes von wichtigeren Problemen - wie der immer noch weitgehend unkontrollierten illegalen Massenmigration und der damit verbundenen Zunahme der Kriminalität. Von den Kosten und langfristigen Folgen für unsere Gesellschaft ganz zu schweigen. Die MeToo-Kampagne ist dafür besonders gut geeignet: richtet sie doch wieder mal die Aufmerksamkeit auf die bösen alten weißen Männer und weg von den neu hinzugekommenen, bunten Vergewaltigern.

Petra Wilhelmi / 08.11.2017

Zitat: “..., obwohl es schon mal vorgekommen ist, dass der AfD die Scheiben ihres Büros eingeworfen, Flüchtlingsunterkünfte angezündet wurden. An der Tagesordnung sind derartige Übergriffe nicht, noch nicht.” Ab wievielen Übergriffen auf AfD-Mitglieder, deren Eigentum und deren Parteieigentum wird es denn Tagesordnung? Wir können doch fast jeden Monat darüber lesen, wie AfD-Mitglieder einschließlich deren Familien angegriffen werden und deren Eigentum beschädigt wird. Es sind nicht “nur mal” ein paar Scheiben. Deutschland ist schon etwas weiter. Des Weiteren sollte man nicht einfach davon sprechen, dass “Flüchtlingsunterkünfte” angezündet worden sind. Die meisten wurden von den Insassen selbst angezündet und die wenigen anderen vor dem Bezug oder wurden warm saniert. Dieser zitierte Satz trägt im Subtext eine andere Deutung. Es sollte schon exakter formuliert werden.

Peter Zentner / 08.11.2017

Sehr geehrter Herr Rietzschel, vielen Dank für diese erstklassige Diagnose des real existierenden gesellschaftlichen Alltags! Ihr abschließender Satz “Klassenkampf in Zeiten der Dekadenz” trifft den N. auf den K.

Armin Wacker / 08.11.2017

Bravo. Danke für diesen Artikel.

Andreas Rochow / 08.11.2017

Die den Diskurs bestimmenden weltweiten Kampagnen werden von international vernetzten, mächtigen Lobbyvereinen gesteuert. Sie bestimmen mittlerweile die Politik, die Wirtschaft und das gesellschaftliche Zusammenleben in weiten Bereichen. Mit druckvoller Lobbyarbeit, zielen sie auf Gefühle und üben damit einen Druck aus, dem man kaum noch ausweichen kann. Die Medien haben sich auf ihre Seite geschlagen. Diese Aktivisten sehen sich als Pioniere des Wandels und umgehen systematisch parlamentarische Entscheidungsprozesse. Ihre “Gemeinnützigkeit”  sollte nach strengen Kriterien überprüft werden. Journalisten sollten verpflichtet werden, ihre Verbindungen mit Lobbyverbänden und Stiftungen offenzulegen. Vielleicht gelingt es dann wieder, der Sache, dem Abwägen von Argumenten, der Betrachtung der Realität zu ihrem Recht zu verhelfen. Jedenfalls ist es der Wahrheit nicht dienlich, wenn jede Behauptung z.B. eines Klimaaktivisten mit der Phrase eingeleitet wird: “Die Experten sind sich einig”. Das kann (und soll!) im Weinstein- und Paradise-Rummel schon mal untergehen.

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