Gerd Held / 05.01.2015 / 07:00 / 1 / Seite ausdrucken

Verantwortungslos wie in der Schuldenkrise (Zur Migrationskrise, Teil 2)

Die gegenwärtig stark zunehmende Migration ist nicht nur durch vorübergehende Ausnahmesituationen extremer Not verursacht. Ein großer Teil der Ankömmlinge strebt eine langfristige Aufnahme an. Damit ist mehr gefordert als humanitäre Hilfe.

Jede Zuwanderung enthält unvermeidlich eine Asymmetrie: Es gibt Begehren und Ansprüche von Menschen an das Aufnahmeland, ohne dass die Menschen dafür sofort eine volle Gegenleistung erbringen (und auch nicht erbringen können). Der Fall, dass Migranten sofort mit einem Arbeitsvertrag beginnen, ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Das bedeutet, dass das aufnehmende Land in Vorleistung treten muss, und zwar in einem viel größeren Umfang und über einen längeren Zeitraum als bei einer humanitären Nothilfe. Das gilt für die Wohnungsversorgung, für den monatlichen Lebensunterhalt, für die Gesundheitsversorgung und für die Bildung. Das aufnehmende Land ist in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht sozusagen ein Kreditgeber. Deshalb muss es die Bedingungen und Grenzen dieses Kredits festlegen – das ist der Sinn von Einwanderungsgesetzen.

Angesichts der Asymmetrie ist es wichtig, dass der politische Raum, der die Migranten aufnimmt, auch der Raum ist, der die Gesetze festlegt. Sonst entsteht ein Verschiebebahnhof der Verantwortungen: Migranten können „weitergereicht“ werden und mit ihnen die Pflicht zu den Vorleistungen („Krediten“). Ein anderes Land muss dann für die Aufnahmeentscheidung des Ankunftslandes haften. Das unkontrollierte Zirkulieren von Migranten kann also zu einem Umverteilungsinstrument werden. Das ist die Gefahr, die mit dem faktischen Zerbrechen des Migrationspakts in der europäischen Union akut geworden ist. Tatsächlich sehen manche Deutschlandkritiker im Süden Europas das Weiterreichen von Migranten nach Norden als legitimen Ausgleich zwischen „armen und reichen EU-Staaten“ an. Gewiss wäre es gerecht, wenn die Grenzstaaten der EU einen Ausgleich für ihre Erstaufnahme-Arbeit bekommen, wenn sie sie wirklich tun. Das aber erfordert einen klaren Gesamtvertrag mit Leistung und Gegenleistung - mit Zahlen und Quoten für Arbeitsimmigration, für kurzfristige Flüchtlingshilfe und für die Gewährung längerfristigen Asyls. Für einen solchen Gesamtvertrag ist in der EU offenbar kein Konsens herstellbar. 

Das ist der Kern der Migrationskrise. Hier liegt auch der Grund, warum die gegenwärtige Situation bei vernünftigen Menschen, denen jeder Nationalismus fern liegt, Skepsis und Ablehnung auslöst. Und diese Situation erinnert fatal an die Schuldenkrise. Auch in der Währungs- und Finanzpolitik gibt es Schwierigkeiten, im System der EU eindeutige Verantwortlichkeiten herzustellen und die Schulden nicht unkontrolliert zirkulieren zu lassen. Auch dort droht die Gefahr, in eine Transferunion jenseits aller vernünftigen Haftungsgrenzen hineinzuschlittern. In der Schuldenkrise wird bisher die Fiktion aufrechterhalten, dass die Bürger der einzelnen Mitgliedsstaaten nur begrenzt für die Schulden anderer Länder haften. Diese Fiktion wurde bisher nicht auf die Probe gestellt, weil die EZB mit ihrer Geldpumpe die Haftung ersetzte – oder besser: weil sie das Eintreten des Haftungsfalls hinausgeschoben hat. 

In der Migrationskrise ist noch gar nicht allgemein anerkannt, dass auch hier Haftungsansprüche im Spiel sind. Offen auszusprechen, dass jeder Migrant – ob er will oder nicht - solche Ansprüche mitbringt, gilt als kaltherzig und menschenverachtend. Man soll „nur die Menschen“ sehen, heißt es. Wenn man sich freilich auf diesen Standpunkt stellt, verletzt jeder Versuch eines Einwanderungsgesetzes die Menschlichkeit. Es ist eine Grunderfahrung von Einwanderungsländern, dass selbst den Großzügigsten unter ihnen immer wieder der Vorwurf gemacht wird, sie achteten nicht „den Menschen“. Denn selbst das großzügigste Einwanderungsland stellt an die Menschen, die es aufnimmt, Anforderungen und gibt sich nicht damit zufrieden, in den Einwanderern einfach global Menschen zu sehen. Ist das kaltherzig? Wer diesen Vorwurf gegen gesetzliche Bedingungen und Prüfverfahren erhebt, hat selber eine menschliche Kälte: Er kann das Menschliche nicht erkennen, das in dem bisherigen Aufbau des Aufnahmelandes am Werk war. Er kann das Herzblut der Bürger nicht erkennen, das in den Errungenschaften des Aufnahmelandes enthalten ist. 

In Deutschland ist gegenwärtig die Migrations-Diskussion noch überwiegend in jener abstrakten „reinen“ Menschlichkeit gefangen, die von Leistung und Haftung nichts wissen will. Das kommt nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in der alles beherrschenden Sorge um die „Willkommenskultur“. An ihr soll alles zu messen sein – die guten oder böse Absichten der Deutschen, ihr mutiges Engagement oder ihr ängstlicher Rückzug. Doch mit dem „Willkommen“ ist das so eine Sache. Es umfasst sehr schöne und edle Gesten, es macht den Zauber jeder Gastfreundschaft aus. Aber das Willkommen ist nur ein Akt der Begrüßung. Es ist daher immer nur ein kurzer Moment. Handlungen der Begrüßung sind immer recht einfache Handlungen – oft eher Versprechungen als wirkliche Leistungen. Alle härteren Anforderungen, an denen sich die Integration wirklich entscheidet, sind hier ausgeklammert und kommen später. Sie gehören nicht zur Willkommenskultur, sondern zur Arbeits- und Bildungskultur eines Landes. Erst durch solche Kulturen wird ein Land wirklich konstituiert und darauf müssen sich auch die Einwanderer einlassen. Hier beginnt ihre Bringeschuld.

Das Problem mit der Willkommenskultur gibt es auch in der europäischen Schuldenkrise. Dort wurden zunächst mit viel großzügigen Gesten alle möglichen Teilnehmer in der Währungsunion willkommen geheißen. Es gab günstige Kredite auf Basis der Sicherheiten, die wirtschaftlich stabile Länder erarbeitet hatten. Das ging zunächst auch gut, der Frühling der Willkommenseuphorie währte einige Jahre. Jeder nähere Blick auf die Volkswirtschaften der Neumitglieder war Tabu, vorherige Problemgeschichten zählten nicht mehr. Aber dann kam die Schuldenkrise und es zeigte sich, dass man langfristig eine Stabilitätskultur braucht. Und in diesem Moment mussten die Deutschen die Erfahrung machen, wie rasch die gute Stimmung der Willkommenskultur in den erbittertsten Hass gegen die „reichen Länder“ umschlagen kann. Und gerade in diesen Tagen am Jahreswechsel 2014/15 zeigt Herr Tsipras in Griechenland, wie man mit einem simplen Wählervotum alle bisherigen Reform-Zusagen kündigen kann.

In der Migrationskrise sind wir noch im Modus der Willkommenskultur. Unter solchen sonnigen Voraussetzungen kann eine gesetzliche Gestaltung der Zuwanderung gar nicht ins Auge gefasst werden. Deshalb fällt auch der Bruch des EU-Migrationspaktes bisher kaum auf. Nur hier und da kommt in Einzelfällen und Unglücken zum Vorschein, wie viel Augen-Zu und Durchwinken in diesem Bereich herrscht. Doch auf Dauer wird sich nicht verheimlichen lassen, dass es hier eine ausgewachsene Krise gibt, die mit der Schuldenkrise vergleichbar ist. Glauben die Regierenden im Ernst, dass sie diese doppelte Krise mit moralischen Appellen und Warnhinweisen an die Adresse der Bürger überstehen können?

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Karl Helger / 05.01.2015

Leider stimmen die Fakten nicht. In Einwanderungsländern ist es nicht nur die Regel sondern die PFLICHT, daß ein Arbeitsvertrag VOR Einwanderung vorliegt, weil dieselbe sonst einfach nicht genehmigt wird. So eine einfache Regel kann viele Probleme lösen.

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