Gabor Steingart, Gastautor / 21.06.2017 / 06:13 / Foto: Don Amaro / 9 / Seite ausdrucken

Unzufriedenheit ist eine Energie – und die geht nicht einfach verloren

Von Gabor Steingart.

„Die verunsicherte Gesellschaft“, lautet mein Thema und ich werde damit beginnen, dass ich die Gesellschaft vor diesem – von mir selbst gewählten – Titel in Schutz nehme. Die Bevölkerung ist nicht verunsichert. Sie ist lediglich realistisch. 

Die Menschen schätzen die Lage richtig ein, indem sie feststellen: Wir alle sind überfordert. Wir als Individuum, aber auch der Staat, die Wirtschaft und die Parteien leiden an Überforderungssymptomen, selbst wenn die Kanzlerin das erst in ihren Memoiren zugeben kann.

Wir leben im Zeitalter von Hyperkomplexität, Hochgeschwindigkeit, ökonomischer Besinnungslosigkeit und erleben eine schier endlos scheinende Folge von Kontrollverlusten. Erst verloren die Banken die Kontrolle über ihre Bilanzen, dann die Politiker die Kontrolle über unsere Außengrenzen. Der US-Präsident hat schon mit der Selbstkontrolle größte Schwierigkeiten. Ihm können wir – das unterscheidet ihn von Angela Merkel – bei der Überforderung regelrecht zuschauen.

Das Zeitalter der Überforderung erkennen wir schon daran, dass die nähere Zukunft sich jeder Vorhersehbarkeit entzieht. Wer das bestreitet ist entweder Narr oder Hochstapler. Wir wissen nicht, ob die Höchststände an den Weltbörsen die Anleger reich machen oder die Vorboten einer neuen Finanzkrise und damit ihrer Verarmung sind. Wir wissen nicht, ob uns angesichts der vielen Brandherde weltweit ein neuer Krieg ins Haus steht.

Der neue Machbarkeitswahn als Geschäftsmodell

Schwer zu ermessen, ob die Welle des Populismus ihren Höhepunkt erreicht hat, oder ob wir uns das nur wünschen. Welche Auswirkungen die sich selbst beschleunigende Digitalisierung auf unser Leben als Gesellschaft hat, wissen nicht mal die Akteure im Silicon Valley, weshalb sie beschlossen haben, darüber gar nicht erst nachzudenken. Fest steht derzeit nur, was Thomas Friedman in seinem neuen Buch „Thank you for being late“ schreibt: Die Innovationsgeschwindigkeit übertrifft unsere menschliche Adaptionsgeschwindigkeit.

Ein neuer Machbarkeitswahn hat sich als Geschäftsmodell durchgesetzt. Kann sein, dass das alles zu einem bequemeren und längeren Leben führt; was wir hoffen. Aber es kann genauso sein, dass alles wie ein Fluch über uns kommt und die neue Titanic aussieht wie ein iPhone. Vielleicht stellen wir eines Tages entsetzt fest: Hurra wir saufen ab – in einem Meer aus Daten, verkaufter Privatheit und flüchtiger Kommunikation in der alle senden und keiner mehr zuhört. Jeder ist sein eigener Programmdirektor, sagen die Propheten der neuen Zeit. Aber vielleicht ist jeder auch nur sein eigener Depp.

Diese Fragen aufzuwerfen heißt noch nicht sie zu beantworten. Es geht heute Morgen nicht darum, der Idiotie derer, die immer genau wissen was kommt und wo es langgeht, eine eigene Idiotie der Verzagtheit entgegenzusetzen. Zukunft ist – und nur darum geht es an dieser Stelle – kein Wort mehr, das von alleine Besserung verspricht. Wir werden etwas dafür tun müssen, dass das wieder so wird.

Nichts mehr da, worauf man sich verlassen kann

Das Verlässliche unserer Zeit besteht derzeit darin, dass es keine Verlässlichkeit mehr gibt. In immer kürzerer Abfolge werden wir Zeuge dessen, was die Amerikaner „Freak Event“ nennen; das Verrückte wird normal und die Normalität spielt verrückt. Glück ist, wenn man zur richtigen Zeit auf dem falschen Weihnachtsmarkt ist.

Die Freak Events – von Lehman-Pleite über Brexit bis hin zur Bombe am Ende eines Popkonzerts – haben etwas Systemisches an sich. Das lässt sich schwer leugnen. Der Terrorismus ist kein Zufall, sondern ein gezielter Angriff auf unsere Vorstellung von Liberalität und Freiheit. Das Finanzsystem dient keineswegs automatisch der Realwirtschaft, sondern bedroht sie oft. Politik ist – im Weißen Haus erleben wir das derzeit täglich – nicht mehr automatisch das Kümmern um die Angelegenheiten der Res publica, sondern zuweilen eben nur die Verfolgung des Eigeninteresses mit den Mitteln des Staates.

Auf unsere altwürdigen politischen Parteien ist in dieser Lage kein Verlass. Politik beklagt die Klimaerwärmung und heizt sie weiter an. Man schwört überall im Westen auf die Prinzipien von Sparsamkeit und seriöser Finanzplanung und feiert eine Orgie des Kredits. Seit dem Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers hat sich die Verschuldung der westlichen Welt um mehr als 50 Prozent gesteigert.

Unsere Spitzenpolitiker, auch das ist eine Beobachtung, die kein Vertrauen einflößt, haben vielfach das Zuhören verlernt, eine professionelle Deformation ist zu besichtigen; drei Münder, kein Ohr. Wenn die Kanzlerin oder ihr Gegenkandidat mich fragen würden, was ich Ihnen raten würde, dann vor allem dieses: Stellt nicht immer neue Sprecher ein, sondern lieber einen professionellen Zuhörer. Setzt dem Regierungssprecher einen Regierungszuhörer an die Seite. Das löst nicht alle Probleme, aber es hilft zumindest sie zu verstehen.

„Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig“

Wir sollten es der Gesellschaft jedenfalls nicht verübeln, dass sie merkt, dass die Welt bebt und dabei ist, aus den Fugen zu geraten. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: „Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.“

Vielleicht ist diese Gesellschaft gar nicht verunsichert, sondern nur wachsam und sauer darüber, dass die anderen, die für ihre Wachsamkeit bezahlt werden – die Parteien, die Finanzaufsicht, die Lebensmittelkontrolleure und jene Menschen, die sich beim Bundesamt für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren und ihren Schadstoffen befassen – so gar nichts merken. Die Mehrheit der Menschen sehnt sich nicht nach mehr Regulierung, aber nach einer die funktioniert. Sie wollen Fortschritt, aber Fortschritt und Wohlergehen für viele. Sie wollen Manager, die mehr im Kopf haben als die Planzahl fürs nächste Quartal und sie sehnen sich nach Politikern, die das meinen, was sie sagen und das tun, was sie versprechen. Und sie wollen Medien, die sich mit ihren Lesern gemein machen und nicht mit den Mächtigen. Das klingt verdammt links und auch ein bisschen verrückt, wobei ich denen – die das so sehen – den Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw entgegenhalte: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute. Seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“

Womit ich bei der Zuversicht angelangt bin, die für mich zwingend aus dem bisher Gesagten folgt. Denn: Die angeblich so verunsicherte Gesellschaft ist im besten Sinne des Wortes eine selbstbewusste Gesellschaft. Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die sich ihrer Lage selbst bewusst ist. Und auch wenn die Lage kompliziert und zuweilen unkomfortabel ist, so ist doch das Bewusstsein genau dieser unkomfortablen Komplexität der erste Schritt zur Überwindung dieser Zustände.

Schwächelt Europa, steigt das Investment in den USA. Und umgekehrt.

Zwischenfrage an uns selbst: Warum schaffen es die deutschen Firmen eigentlich in dieser unfriedlichen, fragil gewordenen Welt im ersten Quartal schon wieder Rekordgewinne und Rekordbeschäftigung zu erzeugen?

Antwort: Weil unsere Firmen Kulturen hervorgebracht haben, die mit der Fragilität und dem Unfrieden auf der Welt gelernt haben zu leben. Wir denken, die bei Daimler produzieren Autos, die bei SAP Software und bei Bayer Aspirin. Aber in Wahrheit sind das alles Organismen, die Risiken sehen, verstehen und ausbalancieren. Läuft Russland schlecht, wird der Einsatz in China erhöht. Schwächelt Europa, steigt das Investment in den USA. Und umgekehrt. Das Sehen und Verstehen von Risiko ist die Voraussetzung zum Erkennen und Nutzen von Chancen.

Die Bevölkerung verhält sich sehr ähnlich wie die Vorstände der Dax-30-Konzerne. Sie riecht, fühlt und spürt die tektonischen Verschiebungen auf der Welt, sie braucht keinen Geheimdienst um sich ihr Urteil über Trump, Putin und Erdogan zu bilden; sie benötigt keine volkswirtschaftliche Abteilung, um die Risiken der Nullzinspolitik zu verstehen. Sie weiß wie Risikoausgleich funktioniert, ohne je ein Seminar über Risk-Management besucht zu haben.

Je hochtouriger Trump dreht, desto vorsichtiger und bedachtsamer wird gewählt. So kam es jetzt in Frankreich zum Risikoausgleich: Der Wahlsieg Macrons und die Verrücktheiten, die uns täglich aus Washington erreichen, sind die zwei Seiten der einen Medaille. Auch die europakritischen Bewegungen haben nach dem Brexit-Votum ihre Tonalität verändert. Und da wo sie das nicht taten, wurden sie vom Wähler abgestraft. Die Front National erreicht in der neuen französischen Nationalversammlung nicht einmal mehr den Fraktionsstatus.

Ein Neuling hat keine Chance

Eine Prognose sei gewagt: Dieses Ausbalancieren der globalen Risiken durch die Bevölkerung wird auch die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl dominieren. Bei ruhigem Seegang gelten andere Kriterien: Wieviel Vision und Erneuerungskraft besitzt ein Kanzlerkandidat, würde dann gefragt. Doch bei orkanartigen Böen und globaler Tsunami-Gefahr suchen die Wähler jemanden, der das Steuerrad fest in der Hand hält und die Strudel der internationalen Politik kennt. Ein Neuling auf der bundespolitischen Bühne, noch dazu einer ohne Regierungserfahrung, hat in dieser Situation keine Chance.

Gleichzeitig entzieht die Gesellschaft den politischen Parteien auch weiterhin politische Energie. Aber diese Energie geht nicht einfach verloren. Es kommt nicht zur Entpolitisierung. Die Bevölkerung setzt lediglich das Vertrauen, dass bei CDU/CSU und SPD verloren gegangen ist, an anderer Stelle wieder ein, zum Beispiel bei den Nichtregierungsorganisationen, auch und insbesondere bei denen, die sich heute so leidenschaftlich und so professionell mit Verbraucherschutz beschäftigen. Es gibt also keinen Rückzug aus dem politischen, nur eine Neudefinition dessen, was die Bevölkerung unter politisch versteht.

Die Menschen sind eben nicht planlos verunsichert, sondern sind aus guten Gründen besorgt und verärgert – über die Raffzahnmethoden mancher Banken, über die noch immer große Intransparenz der Lebensmittelkonzerne, über die Riesenlücke, die bei der Deutschen Bahn AG zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, über den Schindluder, den die Internetfirmen mit ihren Daten und Algorithmen treiben und über die Unverfrorenheit mit der manche private Krankenversicherer die Beiträge erhöhen.

In diesem Sinne ist die verunsicherte Gesellschaft eine mündige Gesellschaft, die ihre Interessen versteht und wahrnimmt. Unzufriedenheit ist so gesehen kein zu beklagender Endzustand, sondern Ausgangspunkt der Erneuerung. Schauen Sie mit Selbstbewusstsein und Stolz auf diese basisdemokratische Erhebung der Verbraucher, deren Teil Sie sind. Ihre Mission ist es, aus Betroffenen Beteiligte zu machen, denjenigen Stimme und Macht zu geben, die in der Wirtschaft allzu oft keine Stimme und erstrecht keine Macht besitzen. Weiter so, möchte ich daher den deutschen Verbraucherschützern zurufen. Oder um es mit Oscar Wilde zu sagen: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, dann war’s noch nicht das Ende.“

Gabor Steingart, Herausgeber des Handelsblatt, hat diese Rede beim Deutschen Verbrauchertag am 19. Juni 2017 in Berlin gehalten

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Leserpost

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Mona Rieboldt / 21.06.2017

Trump-Bashing darf wohl in keinem Text, in keiner Rede mehr fehlen. Erbärmlich. Und Macron als Heilsbringer? Er wird zur Zeit von der Presse hoch geschrieben wie auch SPD-, Schulz wurde.  Von Schulz ist nichts mehr übrig, Macron wird folgen. Macron soll das schaffen,  was keiner vor ihm schaffte? Und die französischen Gewerkschaften und ihre Aktionen werden nicht einmal erwähnt. NGOs werden zu einem großen Teil von Regierungen bezahlt und leben gut dabei. Sie machen genau das, was diese Regierungen wollen und berichten auch in deren Sinn. Dafür bekommen sie ja das Geld.

mike loewe / 21.06.2017

Danke für den nachdenklichen und ausgeglichenen Beitrag. Unter Verunsicherung der Bevölkerung verstehe ich allerdings auch das zunehmende Auseinanderklaffen der Meinungen. Besonders an der Frage der islamischen Einwanderung scheiden sich die Geister mehr als je zuvor. Das schafft Unfrieden und wäre allein schon ein Grund, die Einwanderung zu bremsen.

Thomas Kloft / 21.06.2017

Sehr geehrter Herr Steingart, ich habe ihr Buch Weltbeben gelesen u. war auch am Montag auf ihrem Vortrag in Sankt Augustin. Da ich ihre optimistische Einschätzung im Sinne von “mehr Demokratie” oder “der Aufstand des kleinen Mannes” nicht nachvollziehen kann, hatte ich mir im Vorfeld auch noch ihr Interview bei Aspekte angeschaut. Auch hier gaben Sie bei Nachfrage des Interviewers diesbezüglich keine befriedigende Antwort. Sie bringen in ihrem Buch die große Palette der meisten Probleme weltweit zur Sprache und ziehen ihren Optimismus aus der teils kritischen Reaktion der Bundesbürger beim Lebensmittelkauf, Krankenkassenbeiträgen oder Bankgebühren. Ich verstehe zwar worauf Sie hinaus wollen, kann es aber bei leibe nicht nachvollziehen. Herrn Marcons Wahlsieg mit angeblich über 50% hatten Sie im Vortrag auch erwähnt, aber vergessen zu sagen, dass nur 47% der Franzosen gewählt hatten und sich mal gerade 25% der Franzosen für Herrn Marcon entschieden haben. Die Le Penn Wähler sind einfach nur zu Hause geblieben. Außerdem bleibt abzuwarten, ob ihm die Franzosen folgen werden oder der Generalsteik ausgerufen wird. Wir in Deutschland sind zwar in einer etwas bequemeren Situation, aber fatalerweise gibt es, wenn man mal die AfD als Alternative außen vor lässt, keine vernünftige Oposition die auch nur im mindesten erkannt hat, dass der aktuelle europäische Weg in die irre führt, um nur ein Beispiel zu nennen. Wie werden die Bundesbürger reagieren, wenn es die nächste, wahrscheinlich größere Finanzkrise gibt, wenn die Migration ungebremst weiter geht, wenn unser Rentensystem kollabiert? Ein vorheriges Umdenken halte ich für äußerst fragwürdig und fürchte, dass die meisten Deutschen aus ihrem bequemen Sessel fallen werden, in dem ihnen die Mainstreammedien das aber so nicht mitgeteilt haben, oder die es nicht sehen wollten.

Werner Arning / 21.06.2017

Insofern muss man Angela Merkel dankbar sein. Sie hat dafür gesorgt, dass ich wesentlich mehr Menschen für politische Vorgänge interessieren, als sie dieses vor dem Beginn ihrer undemokratisch durchgeführten Migrationspolitik getan haben. Viele Menschen merken, wie gefährlich sich Passivität und Desinteresse auswirken können.

Fanny Brömmer / 21.06.2017

Ihr Trump - Bashing ist nicht nur nicht zum Aushalten, es ist auch ziemlich peinlich. Und Ihre Merkel - Lobhudelei als jemand, “der das Steuerrad fest in der Hand hält”, ist grotesk. Merkel riskiert die ganz grundlegende Existenz unseres Landes, unseres Staates und unseres deutschen Volkes bzw. betreibt deren Zerstörung. Sie hat gar nichts fest in der Hand - außer ihrem Stuhl, an dem sie zu kleben versucht, bis sie ihre Agenda der islamischen Republik Almanya (Antje Sievers) umgesetzt hat.

Olaf Weber / 21.06.2017

Lieber Herr Steingart, besten Dank für diese in großen Teilen kluge ‘Ruckrede’, welche allerdings an einigen Symptomen etwas ‘schief’ liegt, was ich an folgenden Punkten festhalten möchte: 1. Das von Ihnen mehrfach verwendete Wort “Wir” (“Wir sind alle überfordert”, “Wir als Individuum”, etc.) lässt mich erneut (“Wir schaffen das!”) hinterfragen, wer ‘wir’ sind. Wenn ich mir den gesamten Redetext anschaue, bezieht sich das ‘wir’ auf einen Mix aus Ihrer überwiegend journalistischen oder politischen Peergroup und der Hoffnung, dass im Publikum des Deutschen Verbrauchertages eine Mehrzahl sich zu diesem abstrakten ‘wir’ dazugehörig fühlen möchte. Woran mache ich das mit der “journalistischen Peergroup” fest? Daran, dass Sie die Persönlichkeit Donald Trumps mehrfach ins Spiel bringen, obwohl Sie, wenn Sie selbst einmal Ihre Filterbubble verlassen würden, feststellen könnten, dass in Amerika weniger als 5 Prozent der Bevölkerung daran Anteil nimmt. Die ganzen von Ihnen angesprochenen “Probleme” (mit der Selbstkontrolle) interessiert in der breiten Mehrheit überhaupt keinen Menschen. Wer solche “Probleme” also wahrnimmt (und sie, wie auch im Handelsblatt, täglich aufs Tableau schiebt) und in einer Rede so prägnant einbaut, als Gegenpol zu Angela Merkel sogar, verkennt ein gutes Stück weit die Wirklichkeit, beteiligt sich schlimmstenfalls vielmehr daran, die öffentliche ‘Lagerbildung’ immer mehr zu vertiefen. Was dann auch zu den von Ihnen korrekt angemerkten Kontrollverlusten erst führt. 2. Sie sagen “Gleichzeitig entzieht die Gesellschaft den politischen Parteien auch weiterhin politische Energie.” Dazu möchte ich anmerken, dass es sich eher umgekehrt verhält: Unsere politischen Parteien entziehen der Gesellschaft die Politik. Die systematisch mit Unterstützung der Parteien oder maßgeblichen Teilen dersolchen betriebene Banalisierung und Moralisierung unserer Gesellschaft hat beängstigende Züge angenommen. Das Hinwenden insbesondere junger Menschen zu meist sehr aktivistischen NGOs ist eine Flucht in eine komplexitätsreduzierte (Entscheidungs-)Welt, in der es kaum mehr auf Ausgleich und Mehrheitsentscheidungen, geschweige denn –meinungen, ankommt, sondern darauf, wer am lautesten schreit, sich am moralischsten aufspielt und sich damit ohne jeden echten Wohlfahrtsbeitrag die fettesten Töpfe der steuerverteilenden Politik und Parteien sichert. Im Prinzip grüne Bevormundungspolitik in Reinkultur, ein willkommenes Fressen für politische Strategen, denen es völlig gleichgültig ist, wie die Mehrheit der Bevölkerung tickt. Die Politik nutzt jene ‘Multiplikatoren’, die NGOs, als ferngesteuerte und immer häufiger auf staatliche Mittel angewiesene ‘Partner’, um immer größere Teile der Bevölkerung von der Politik zu entwöhnen. Es gibt für Parteien nicht einen einzigen Anreiz dazu, die Mehrheit der Bevölkerung für sich zu gewinnen, es reicht die Mehrheit oder ein großer Teil der tatsächlich Wählenden, und wenn diese durch NGOs und unkritische Medien (die ihrerseits oft mit NGOs zusammenarbeiten) in eine bestimmte Richtung getrieben werden, umso besser, vor allem, wenn diese aus Steuermitteln finanziert werden. Insofern sind “die Menschen […] eben nicht planlos verunsichert” oder besorgt oder verärgert durch Banken, Lebensmittelkonzerne, Deutsche Bahn AG, Internetfirmen, sondern den meisten ist das völlig egal, sonst würden sie deren Produkte nicht kaufen oder deren Dienstleistungen nicht in Anspruch nehmen. In den allermeisten Fällen ist der von Ihnen angesprochene Ärger einer, der herbeigeredet wurde, auch vom Handelsblatt. Kennen Sie eine größere Gruppe von Dieselfahrern, die aus Besorgnis ihr Fahrzeug haben stehen lassen, als der angebliche Skandal bekannt wurde? Ich nicht, aber jeder, der das tut, tut mir leid, weil ihm die Maßstäbe der allgemeinen Lebensrisiken abhandenkamen. In den meisten anderen Aspekten, die Sie, lieber Herr Steingart angesprochen haben, stimme ich Ihnen allerdings zu.

Andreas Ulbrich / 21.06.2017

Ich bin nicht verunsichert. Ich schließe mein Fahrrad nicht an. Meine Kinder spielen draußen allein. Meine Frau geht allein im Wald joggen. Ich bin vor zehn Jahren aus Berlin weg gezogen. Nach Kärnten. Das hat damals keiner meiner Berliner Freunde verstanden. Heute verstehen sie mich. Im Nachbardorf hat kürzlich ein leerstehendes Hotel gebrannt. Das verstehen meine Berliner Freunde nicht. Noch nicht.

Ottmar Gerster / 21.06.2017

Vielen Dank, Herr Steingart, für die unaufgeregte Bestandsaufnahme für den Zustand eines Landes im durch die Regierung zu verantwortenden Krisenmodus. In einem muss ich Ihnen allerdings widersprechen, Ihr Zitat: “Erst verloren die Banken die Kontrolle über ihre Bilanzen, dann die Politiker die Kontrolle über unsere Außengrenzen.” Die Regierung hat die die Kontrolle der Außengrenzen nicht verloren, sondern bewusst beendet. Wie der G20-Gipfel beweist, Zitat von der Webseite der Bundespolizei:  “Aufgrund der erhöhten Sicherheitsanforderungen anlässlich des G20-Gipfels am 7. und 8. Juli 2017 in Hamburg werden vom 12. Juni bis 11. Juli 2017 auf Anordnung von Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière wieder Grenzkontrollen an den deutschen Schengen-Binnengrenzen durchgeführt.”. Logische Schlußfolgerung: Für den Schutz die Bevölkerung gelten verringerte Sicherheitsanforderungen.

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