2012 stellte die renommierte Wissenschaftsplattform edge.org, wie jedes Jahr, eine theoretische Frage. Sie lautete:
Was ist Ihre tiefgründige, elegante oder schöne Lieblings-Erklärung?
Gemeint war keine Liebeserklärung, obwohl eine Liebeserklärung, wenn sie gut gemacht ist, erschreckend tiefgründig, elegant und schön sein kann, sondern ein wissenschaftliches Prinzip. 194 hoch renommierte Wissenschaftler nahmen teil, 192 sandten Antworten ein. Abgesehen davon, dass Charles Darwins Evolutionstheorie ziemlich oft genannt wurde, gefiel mir besonders die Antwort von Helena Cronin, die auf die Konvergenz der Gedanken von Charles Darwin und Karl R. Popper hinwies.
Ihr Text, etwa im oberen Sechstel der vielen faszinierenden Antworten, ist erhellend und witzig formuliert und hat es verdient, übersetzt zu werden:
Lassen Sie uns einen Gedankenaustausch zwischen Charles Darwin und Karl Popper belauschen. Darwin, verärgert von der krassen Wissenschaftsphilosophie, mit der seine Kritiker hausieren gingen, ruft aus: „Wie seltsam ist es, dass nicht ein jeder einsehen sollte, wie alle Beobachtung für oder wider eine Ansicht stehen muss, wenn sie von irgendeinem Nutzen sein soll!“ Und, als die Konversation sich der Evolution zuwendet, bemerkt Popper: „Alles Leben ist Problemlösen... von der Amöbe bis zu Einstein, der Zuwachs an Wissen ist immer derselbe.“
Cronin liefert Beispiele, darunter jenes aus den Vorlesungen Karl Poppers, der die „induktive Methode“ bloßstellte, indem er seine Studenten aufforderte: „Beobachten sie!“ Natürlich kam prompt die Rückfrage: „Was denn?“ Worauf Popper entgegnet, dass ein konzeptionsloses Beobachten in der Wissenschaft unmöglich sei, dass aus dem schieren Daten-Sammeln allein keine Theorie, keine Antwort auf die Fragen „wie“ oder gar „warum“ möglich sei, wenn man dazu nicht bereits eine Idee habe; tatsächlich gibt es bis heute keine schlüssige Theorie der „induktiven“ Methode, sie prallt am Ende immer auf eine Theorie, eine Anschauung, eine Interpretation, oder sie bleibt erkenntnislos an der Oberfläche der Phänomene.
Absage an internationale Linke und nationalistische Rechte
Doch Cronin warnt, dass solche Theorien auch Vorurteile sein können, die bestimmte Forschungsergebnisse von vornherein ausschließen, und an der Stelle wird sie sogar offen politisch:
Ein herausragendes Beispiel aus meiner eigenen aktuellen Erfahrung, das mich immer noch vor Bestürzung taumeln lässt, stammt von einem Forscher der 'gender diversity', dessen Gebiet die Diskriminierung von Frauen im Beruf ist. Er behauptete stolz, seine Forschung sei absolut frei von allen vorgefassten Annahmen über männlich-weibliche Unterschiede und daher komplett neutral und unvoreingenommen. Wenn irgendwelche Muster von Unterschieden in seinen Daten aufträten, dann sei seine neutrale, unvoreingenommene Annahme die, es handle sich um das Resultat von Diskriminierung. Würde er also akzeptieren, dass entstandene Geschlechterunterschiede existierten? Ja; wenn es bewiesen würde. Und wie könnte so ein Beweis aussehen? An dieser Stelle verstummte er, in Verlegenheit geraten – nicht überraschend in Anbetracht dessen, dass seine 'neutralen' Hypothesen solche Unterschiede bereits von Anfang an umfassend ausgeschlossen hatten.
In diesen einfachen Einsichten, die von Darwin und Popper stammen, liegt meine tiefgründige, elegante und schöne Lieblings-Erklärung, eine Absage an die internationale Linke und an die nationalistische Rechte gleichermaßen. Sie neigen beide dazu, mir ihre vorgefertigten ideologischen Konzepte als hermetisch und unfalsifizierbar zu präsentieren, als nicht widerlegbar von der Wirklichkeit.
Angeblich unvoreingenommene Experimente
Meine Einschätzung ist in erster Näherung, dass mir jemand, der mir ein unvoreingenommenes Experiment als Patentlösung präsentiert oder anderen vorwirft, sie verbreiteten Patentlösungen, indem sie ihn kritisieren, in Wirklichkeit ein Ideologe ist. Kein Politiker, jedenfalls, wenn man Politik als die Kunst des Möglichen, als wenigstens eine Art Wissenschaft auffasst, deren erste und vornehmste Hilfswissenschaft die Historie ist und gerade nicht das angeblich unvoreingenommene Experiment. Angeblich unvoreingenommene Experimente sind gefährlich, denn sie ignorieren alte Daten und gemachte Erfahrungen, ja sogar gesicherte Erkenntnisse.
Daten, die dann den eigenen vorgefassten Konzepten zuwiderlaufen, werden in der hermetischen Welt der Ideologen beiseite erklärt, ignoriert oder sogar dem politischen Gegner zugeschrieben; ein Fehler, vor dem auch ich mich hüten muss. – Beispiele:
Ich habe nichts gegen alternative Energien. Wenn das Konzept der von Menschen gemachten globalen Erwärmung zutrifft, dann ist es meine Pflicht, für diese Energien zu sein, sogar dann, wenn das Konzept selbst unzutreffend sein könnte. Allerdings kann und muss das durchaus heißen, für saubere Kernenergie zur Deckung der Grundlast zu sein, weiter an der Kernfusion oder am Flüssigsalzreaktor genauso zu forschen wie an den volatileren Energien Wind-, Wasser- und Solarenergie. Ein Konzept, das den Fortschritt durch Falsifikation und damit den Wettbewerb der Ideen ausschließt, ist unvollständig und unvernünftig.
Ich habe nichts gegen Einwanderung. Sofern sie den Erfordernissen der Bereicherung einer Gesellschaft durch Arbeitskräfte, Ideen und friedliche kulturelle Konzepte dient, wäre es dumm, sie zu verteufeln. Dümmer wäre es allerdings, diese Vorstellungen nicht der Falsifizierbarkeit durch die Wirklichkeit auszusetzen, nicht zu fragen, ob ausnahmslos jede „Kultur“ willkommen ist, auch dann, wenn sie mit dem friedlichen Zusammenleben, den Ideen oder den materiellen Ressourcen dieser Gesellschaft inkompatibel ist, für deren Wohl Politik zuständig ist.
Fortschritt ohne Falsifikation gibt es nicht
Ich habe nichts gegen den Euro. Wenn er so konstruiert ist und behandelt wird, dass er zu einem Instrument der finanziellen, fiskalischen, wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas dienen kann, dann ist er mir willkommen; nur nicht um den Preis, der der Falsifikation durch die Wirklichkeit ausweichen möchte, indem eine Währung zu einem Instrument unwägbarer Risiken und machtpolitischen Abhängigkeiten für die sehr unterschiedlichen Volkswirtschaften verkommt, die in ihr verflochten sind. Wenn diese geradezu zwangsläufigen Risiken und Abhängigkeiten des Euro nicht zum ganz überwiegenden Nutzen aller Beteiligten gewendet und getragen werden können, dann muss es auch Wege der Entflechtung geben. Solidität und Solidarität setzen Autonomie und Selbstverantwortung bereits voraus und können daher auf Dauer nicht erzwungen werden.
Ich habe nichts gegen den „Supranationalstaat“ Europa. Ich möchte nur ein Konzept für ihn sehen, das demokratisch ist und der Mehrheit seiner Betroffenen und nicht nur der Minderheit seiner Eliten kulturell und wirtschaftlich einigermaßen gerecht wird, ein Konzept, das also seine Mehrheiten achtet und seine Minderheiten schützt, im Guten wie im Bösen. Das kann auch heißen, diejenigen aktiv von der Teilhabe auszuschließen, die dieses Konzept bekämpfen, jedoch ganz gewiss nicht, indem man ihre Meinungen mundtot macht, solange sie eine berechtigte Kritik an ihm vortragen – und nicht zu dem grundsätzlichen Mittel des Umsturzes oder des Terrors greifen.
Solange diese einfache Unterscheidung zwischen konstruktiven und destruktiven Kräften nicht vor meinen Augen geschieht, solange jede Kritik am Zustand Europas als Nationalismus oder Separatismus diffamiert wird, während gleichzeitig das autoritäre Denken, die Intoleranz, die Kriminalität und der Terror einwandern dürfen, misstraue ich dem Supranationalstaat Europa, denn er sieht für mich aus wie eine Diktatur der Ideologen, die sich der möglichen Falsifikation ihres Konzepts durch die Wirklichkeit verweigern. Das muss nicht, aber es kann heißen, dass ich diesem gefährlichen Konzept in Ermanglung eines erwiesenermaßen Besseren den demokratischen Nationalstaat, in dem ich die längste Zeit gelebt habe, vorläufig vorziehe, beispielsweise, weil er den Interessenausgleich und den Schutz seiner Bürger besser beherrscht – oder ein anderes Konzept suche, das gemeinsame Interessen demokratischer Nationalstaaten definiert, ohne sie dabei nach innen gleichzuschalten und nach außen schutzlos zu machen.
So bitter es ist, für dieses friedliche, demokratische und wehrhafte Konzept muss man leider Politik machen. Das Bessere erwächst auch dabei aus der Falsifikation, nicht aus der bloßen Verschlagwortung oder möglichst schnellen Vereinheitlichung des Konzepts.
Einen Fortschritt ohne Falsifikation gibt es nicht. Nicht die Umsetzung der Ideologie ist der Fortschritt, ihre Falsifikation ist der Fortschritt. Zusammengefasst sind also Erkenntnis, Entwicklung und Fortschritt ohne Interpretation bereits vorgefertigter Konzepte und ohne deren ständig drohende Falsifikation unmöglich. Das ist die eine, die wahre Seite. Die andere, die in die Unwahrheiten führt, vor denen zu warnen ist, zeigt gleichzeitig, dass diese Konzepte daher niemals den Status selbsterfüllender Prophezeiungen oder hermetischer Ideologien annehmen dürfen, denn die können sich als verhängnisvoll oder als falsch erweisen. Allerdings ist mir eine Falsifikation durch das von der historischen Erfahrung inspirierte Gedankenexperiment und das rechtzeitige Verlassen des bisherigen, als gefährlich oder falsch erkannten Weges in jedem Fall deutlich lieber als das frei flottierende Experiment, das sich am Ende selbst falsifiziert. Gesellschaftliche Experimente sind gefährlicher als Tierversuche: Sie sind Experimente am Menschen.
Ideologien können sich nicht behaupten
Der gefährlichste Trugschluss der Ideologen ist derjenige, nach der sich ihre Ideologie behaupten müsse; das kann sie gar nicht, wenn sie von der Wirklichkeit widerlegt wird. Daran, an der einfachen Regel der Falsifikation durch die Wirklichkeit, sind noch alle großen Utopien vom „Heil“ gescheitert. So bitter es ist, der Messias, an den ich glaube, ist noch nicht wieder erschienen. Glaube und Zweifel sind Geschwister, und für alle praktischen Zwecke bleibt die Vernunft das Mittlere zwischen ihnen. Nur so funktioniert Wissenschaft, und ich bin sicher, nur so funktioniert Politik.
Platon, Marx, Hitler und Stalin sind tot, und ich bin nicht gerade unglücklich darüber – auch wenn die einen nur Denker falschen politischen Denkens und die anderen Politiker falschen (lies: mörderischen) Handelns waren. Unsinn falsifiziert sich selbst, das ist die einfache Lehre der Evolution. Politik ist, so betrachtet, nicht mehr und nicht weniger als ein evolutionäres Experiment, eines auf der Basis einer riesigen statistischen Grundgesamtheit, einer Population.
Wer hier nicht bereit ist, mit der Falsifikation seines eigenen Konzepts zu rechnen, ist allerdings kein Politiker, sondern ein Ideologe, und damit der gesamten Dummheit seines eigenen alternativlosen Denkens hilflos ausgeliefert. Er ist nicht mehr als ein Kandidat für die Darwin-Awards. Furchtbar, das Element der Macht mitzudenken: Denn wer sie unter dieser Prämisse lange genug behält, der reißt Abertausende mit sich.
Und so ein einfaches, tiefgründiges, elegantes und schönes Konzept sollte nicht zu begreifen sein? Wem angesichts des Gesagten noch Lust geblieben ist, sich darüber zu amüsieren, dem empfehle ich einen Vergessenen, Curt Goetz, in der Rolle des Dr. med. Hiob Prätorius. Er sucht, ebenso pathetisch wie vergeblich, die Mikrobe der menschlichen Dummheit.