Matthias Heitmann, Gastautor / 27.02.2016 / 16:30 / 5 / Seite ausdrucken

Überfremdung? Nein, Selbstentfremdung!

Was haben Flüchtlinge und Sachsen gemein? Beide sind nicht das Problem und haben daher auch keine Pauschalverurteilungen verdient.

Die Debattenkultur in Deutschland war nie besonders hochentwickelt. Doch die Selbstverständlichkeit und Promptheit, mit der mittlerweile pauschal gegen alle möglichen Bevölkerungsgruppen gehetzt wird, stellt einen neuen Tiefpunkt in der politischen Auseinandersetzung dar. Man interessiert sich kein bisschen mehr für den Einzelnen und für die genauen Standpunkte. Das Einzige, was zählt, ist die Herkunft, eine ganz bestimmte kulturelle Schablone, vielleicht noch die Sprache, und das reicht schon, um Menschen in Schubladen zu stecken.

Ja, natürlich gilt dies auch für den Umgang mit Migranten; ich meinte aber gerade die Vorurteile gegenüber den Sachsen! Denn was sich die Hamburger Morgenpost diese Woche erlaubt hat, als sie den Freistaat Sachsen als Schandfleck Deutschlands bezeichnete und auf der Deutschlandkarte braun einfärbte, ist selbst allerunterstes Pegida-Niveau. Ist das polemische Maschinengewehr erst einmal gefechtsbereit, wird es auch eingesetzt – von allen Seiten, gegen alle Seiten. Seit wann aber werden Pauschalverurteilungen damit gerechtfertigt, dass man damit möglicherweise den einen oder anderen zu Recht trifft?

Um Fremdenfeindlichkeit effektiv zu bekämpfen, sollte man versuchen zu begreifen, warum Fremdenfeinde so ticken, wie sie ticken. Fakt ist: Immer mehr Menschen fühlen sich heute „fremd im eigenen Land“. Zumeist sehen sie dieses Gefühl als logische Reaktion auf die „Überfremdung“, also auf den Zuzug von Ausländern, den sie für übermäßig halten. Interessant ist aber, dass dieses Fremdeln gerade auch in Regionen stark ist, in denen der Anteil an Migranten und Flüchtlingen vergleichsweise gering ist.

Natürlich kann man sich über diesen „Widerspruch“ arrogant amüsieren. Viele Menschen in Westdeutschland tun dies. Klugheit bringen sie damit nicht zum Ausdruck. Denn schaut man genauer hin, stellt man fest, dass das Gefühl der Fremdheit keineswegs eingebildet oder eingeredet, sondern absolut real ist. Spannend wird es bei der Frage nach dem Adressaten: Denn diese Fremdheit hat weniger mit Migranten zu tun als vielmehr mit der Erosion gesellschaftlicher Grundüberzeugungen und Gewissheiten. Diese Entwicklung, die für viele Menschen gerade in der Flüchtlingskrise deutlich wird, löst Befremden und Enttäuschung aus.

Deswegen ist es auch kein Widerspruch, dass das Fremdheitsgefühl gerade auch dort stark ist, wo es kaum Fremde gibt – also eher im ländlichen Raum und eben auch in Ostdeutschland. Hier wird es ganz besonders deutlich: Die Fremdheit kommt nicht von außen, sondern aus den Bruchstellen der eigenen Gesellschaft heraus. Die Menschen spüren dies, aber es fehlt das politische Vokabular, um dieses Phänomen sinnvoll einzuordnen. Die einzige verfügbare Erklärung für diese Entfremdung wird daher dort gesucht, wo Fremdheit klar identifizierbar ist – auch wenn das zu paranoide Vermutungsstürmen und zu wüsten Verschwörungstheorien führt.

Die mit der Fremdheit im eigenen Land einhergehende tiefe Verunsicherung erklärt auch das seltsame Gedruckse der Entfremdeten: „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber…“ ist keine Schutzbehauptung, sondern offenbart, dass sich die Entfremdung nicht nur auf die Gegenwart des Fremden beschränken lässt. Häufig geht der Fremdenhass einher mit einem wachsenden Hass auf die eigene Gesellschaft, in der man sich selbst abgehängt fühlt. Mit einer tiefen Bindung zur deutschen Kultur oder zur deutschen Geschichte hat die moderne Fremdenfeindlichkeit nur am Rande zu tun.

Das Problem ist also nicht eine von außen kommende „Überfremdung“, sondern eine innere „Entfremdung“ von der eigenen Gesellschaft. Und in dieser Entfremdung sind sich „Wessis“ und „Ossis“ ähnlicher, als sie denken. Wenn wir das nicht erkennen und nicht damit beginnen, Befürchtungen und Ängsten von Menschen ernsthaft zu begegnen, sondern ihnen weiterhin den Mund verbieten und sie gegeneinander aufhetzen, werden die Selbstentfremdung und die Entzweiung weiter fortschreiten. Wenn einem fast alle Menschen fremd sind, spielt es keine Rolle, wo sie herkommen.

Matthias Heitmann ist freier Publizist und lebt in Frankfurt am Main. Sein aktuelles Buch „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ ist im TvR Medienverlag Jena erschienen. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Dieser Artikel ist zuerst in der BFT Bürgerzeitung

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Stefan Fischer / 28.02.2016

Die Entfremdung findet nicht nur statt, weil zu viele Fremde kommen. Sie resultiert in erster Linie daraus, den Bürgern obrigkeitsstaatlich zu sagen wie sie zu Denken und zu Handeln haben und das auf breiter Linie. Für die Bürger im Osten dreht sich so die Zeit zurück. Man kennt diese ideologische Bevormundung noch sehr gut und will so etwas nicht wieder haben. Die Art und Weise des Umgangs mit der Flüchtlingskrise brachte nur das Fass zum Überlaufen. Sparkurs für den Bürger, trotz steigender Einnahmen, wurde von Oben verordnet. Für Andere ergießt sich nun das Füllhorn in Strömen. Sehet, duch diese bundesrepublikanische Selbstkasteiung waschen wir uns rein von unseren geschichtlichen Sünden. Der Bürger erwartet von den Regierenden politische Gesellschaftsentwürfe und nicht nur Verwaltungsakte und moralische Predigten.

Thomas Schade / 27.02.2016

Die deutsche Gesellschaft ist sich ihrer selbst nicht mehr bewusst. Wir kennen uns in unserer eigenen Kultur nicht mehr aus. Beispiel: vor Kurzem fuhr ich mit einem Fernbus auf der A4 nach Berlin. Ich saß im Bus mit einer Schulklasse aus Heidelberg. Eine Schülerin fragte,  als wir in Herleshausen kurz pausierten, wo wir denn gerade seien. Der iranisch stämmige Busfahrer sagte “Herleshause”. Der Lehrer der Schulklasse hätte nun ja angesichts des Überquerens der ehemaligen innerdeutschen Grenze ‘ne Menge erzählen können, zumal die Klasse am nächsten Tag, wie ich mitbekommen hatte, das ehemalige Stasi-Gefängis in Hohenschönhausen besuchen wollte. Aber: kein Wort dazu. Und ein paar Kilometer weiter kam die Wartburg in Sicht. Auch hierzu kein Wort vom Lehrer. Eine Klassenfahrt von Heidelberg nach Berlin ohne ein Wort zur innerdeutschen Grenze oder zur Wartburg mutet schon traurig an. Wenn Klassenlehrer das Wartburgfest vergessen haben und auch zu Luther nichts mehr sagen können, haben sie wahrscheinlich von der Hl. Elisabeth von Thüringen noch nie etwas gehört. Wir wissen doch nicht ‘mal mehr, wo hinein wir Fremde integrieren sollten. Und wenn das Wort “wir” gesagt wird, ist auf allen Seiten leider eher klar, wer damit nicht gemeint sein soll.

Franck Royale / 27.02.2016

Das mit der Selbstentfremdung sollte man noch weiter ausleuchten, denn die Ursache wird schnell klar: Man hat den Deutschen über Jahrzehnte jegliches Heimatgefühl und Bezug zur eigenen Kultur ausgetrieben - und nun kommen plötzlich Menschen, die eine neue Heimat suchen und darauf bestehen ihre Kultur mitzubringen. Die Westdeutschen haben sich schon lange entfremdet, die Ostdeutschen hatten ihre Heimat 1989 gerade neu entdeckt. Deswegen tut es im Osten mehr weh, als im Westen. Hier geht es nicht primär um “Befürchtungen und Ängste” von Menschen, hier geht es tatsächlich um Identität.

Hjalmar Kreutzer / 27.02.2016

Ach, Herr Heitmann, trotz des scheinbar verständnisvollen, geradezu psychotherapeutischen Tenors Ihres Artikels, da bringen Sie es doch wieder, das Klischee vom dumpfbackigen Provinzler, in Sachsen und anderswo, ich bin Märker, der die Veränderungen der Welt nicht versteht, sich entfremdet fühlt und deshalb am Biertisch schon mal zum Fremdenhasser wird. Nein, Herr Heitmann, der Ossi lebt nicht mehr im “Tal der Ahnungslosen”. Er hat sich nach dem Mauerfall doch ein wenig in der Welt umsehen können, und er brauchte gar nicht weit zu fahren: Zustände, wie man sie über Jahrzehnte in Neukölln oder NRW und anderswo unter dem falschen Etikett von Toleranz und Multikulti hat einreißen lassen, die in Wahrheit Monokulti sind, sukzessives Zurückweichen vor einer immer lauter und dreister auftretenden Forderung nach Sonderrechten im Namen einer totalitären Ideologie, diese Zustände will er in seiner Heimat nicht. Schritthalten mit den wirtschaftlichen und technischen und politischen Veränderungen einer sich modernisierenden Welt kann doch nicht heißen, daß man die eigene Lebensweise anpasst, um Verteter einer rückständigen Weltanschauung nur ja nicht zu beleidigen. Es heißt im Gegenteil, sich klar zu werden, was die eigene Lebensweise in einer modernen säkularen Gesellschaft ausmacht. Des weiteren möchte weder der Provinzler noch der Großstädter immer länger arbeiten, um die Wohlfahrt für fremde Leute zu finanzieren, die zu großen Teilen hierherkommen, um Alimentierung zu fordern.

Wolfgang Schlage / 27.02.2016

Auch ich fühle mich sehr fremd in meinem eigenen Land. Und ich bin weder Ostdeutscher noch “abgehängt”; mir geht es wirtschaftlich gut. Meine Entfremdung ist absolut nicht durch Migranten veranlasst. Sie ist verursacht durch jetzige Regierung und Medienelite, die die politische und publizistische Macht in Deutschland inne haben. Die so geballte Macht vertritt absurde Sichtweisen auf eine Reihe von Problemen und Bedrohungen Deutschlands und Europas. Die Sichtweisen sind geprägt sind durch vorrationale Attitüden, Wunschdenken und irrtümliche, selbstüberhöhende Moralität, so dass sie die Probleme nicht lösen, sondern zum Teil stark verschlimmern. Noch schlimmer ist, dass viele Menschen im Land diese Attitüden zu teilen scheinen; ob aus Einsicht, aus Obrigkeitshörigkeit oder aus einfachem Konformismus, ist mir nicht klar. Kritik prallt an dieser herrschenden Macht, die sich in ihre Hochmoral und ihr Wunschdenken eingemauert hat, einfach ab. Ihre Antwort auf Kritik ist es, Andersdenkende auf bisher unvorstellbare Weise zu beleidigen und zu diffamieren. Das betrifft zum großen Teil Deutsche, aber inzwischen sind unsere europäischen Nachbarn ebenfalls Zielscheibe dieser herabwürdigenden Kritik geworden. Es ist diese Kritikunempfindlichkeit zusammen mit der Herabsetzung und Diffamierung anderer sowie die Tatsache, dass die Mehrheit in Deutschland dem einfach nur zuschaut, die in mir die Fremdheitsgefühle auslöst: ich gehöre nicht dazu, aber bei so etwas möchte ich auch nicht dazugehören.

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