Diese, unsere Zeit lässt alles im Plural erscheinen. Plötzlich ist von Kulturen die Rede, von Märkten und Religionen. Der Plural lässt alles gleichwertig erscheinen, und damit beliebig. So, als wären die Grundlagen des Abendlands zufällig, und der Rest der Welt ein faszinierender Basar im Blick des Flaneurs.
Heute, da jeder Pauschaltourist aus Mönchen-Gladbach sich spätestens nach seiner dritten Reise als Weltbürger versteht, ist alles zum Karneval erklärt und in Ranking-Listen zusammengefasst. Wer die meisten Bierdosen mit dem Zeh öffnet, und wer am schnellsten den „Faust“ rückwärts liest, ist dabei. Weltweit.
Je schneller man um den Planeten kommt, desto mehr ähnelt alles Tun einer Panik, und die Touristenfrage: Wo sind wir?, kann unversehens zur bedeutsameren Formel: Wer sind wir? geraten. Damit aber wäre man in der größtmöglichen Verlegenheitssituation. Wer diese, in den Augen der Einheimischen schlichte Frage, nicht zu beantworten weiß, wird umgehend ein empathisches Lächeln ernten.
Man kann nicht die eigene Kulturgeschichte der UNESCO überlassen. Und das auch noch mit der Begründung, man sei dort schließlich zahlendes Mitglied. Die UNESCO verwaltet zwar das kulturelle Welterbe im Auftrag der Vereinten Nationen, aber die Sinngebung ist ihre Aufgabe nicht. Darum müssen die Mitglieds-Nationen sich schon selbst kümmern. Was nicht zum nationalen Anliegen wird, bleibt global unberücksichtigt.
Kümmern wir uns also! Mit dieser Aufforderung könnte die Sache beigelegt sein. Nicht in Deutschland.
Was meinen wir überhaupt, wenn wir heute Deutschland sagen? Ist es nicht immer noch, fünfundsechzig Jahre danach, das alte Nachkriegs-Deutschland, die Nierentisch-Republik, der Adenauer-Staat?
Die deutsche Nachkriegszeit hat nicht wenige Merkwürdigkeiten aufzuweisen. Sie haben allesamt ihre Gründe in der Niederlage, wie sich unschwer feststellen lässt, ihre Deutung aber konnte dem Zeitgeist folgen. Die dominante Denkströmung jener Jahre, der Existentialismus, eignete sich, wie kaum eine andere, für die Verlierer. Der Krieg hatte nicht bloß das Töten zur Grunderfahrung gemacht, sondern auch den Tod.
Wenn die Stunde Null politisch war, so empfand man die Stunde Eins als Seinsfrage. Das Ausmaß der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) zeigte sich in einer Zusammenziehung der Begriffe. Leben war Leben, und auch Überleben, und aus Soll und Haben wurde Haben und Sein. Der “unbehauste Mensch“ (Hans Egon Holthusen) war weit mehr als der Obdachlose, und trotzdem war er auch das.
Der Existenzialismus hat das Politische zwar nicht eingeebnet, er hat es aber der Sinnfrage untergeordnet, und damit die Akzeptanz der Niederlage ermöglicht. Die Deutschen hatten den Krieg verloren, aber sie wurden, trotz des Vorwurfs des Völkermords, nicht aus der Völkergemeinschaft ausgeschlossen.
Sie blieben als Deutsche, völkerrechtlich zwar eingeschränkt, aber doch Teil der offiziellen europäischen Kultur. Auschwitz konnte nur als Ausnahme beschrieben werden. Man kann Bach zur Permanenz, das Konzentrationslager aber nicht zum Maß erklären. Das Böse lässt sich nur in Ort und Zeit denken.
Die Orte des Völkermords lagen bekanntlich nicht in Deutschland, sie waren geheim. Die Barbarei kann sich nicht selbst legitimieren, nicht einmal für sich. So tritt sie als letzte „Verteidigerin“ der Kultur auf. Mit größter Selbstverständlichkeit heißt es bis heute, Hitler habe in Manchem recht gehabt, und auf den Judenmord hätte er doch verzichten können.
Wahr ist, dass der reale Zustand der bis heute gefeierten Demokratie der Weimarer Republik, in der praktisch alle Parteien eigene paramilitärische Verbände unterhielten, ihm erst die politische Existenz und später die Machtübernahme ermöglichte. Hitler ist nicht eine Ausgeburt der deutschen Kultur, sondern das Ergebnis des Zusammenbruchs der deutschen Gesellschaft.
Es führt keine direkte Linie unserer Kulturgeschichte zu den Nazis, weder von der Hermannschlacht, noch von Luther, und schon gar nicht von Bismarck. Der Kulturgeschichte die Barbarei unterzujubeln, half den Deutschen der Nachkriegszeit allerdings bei der Selbstentlastung. So kam es zum Wirtschaftswunder einer schweigenden Mehrheit und zur akademischen Suche nach der Schuld der Kultur, und sogar zur Warnung vor der eigenen Staatssouveränität. Diese ideologische Mischung wurde im Nachkriegsdeutschland zu einem Intellektuellen-Ritual. Es kam zu einem ehrenamtlichen Antifaschismus, der in seinen Paradoxien antiwestliches Denken einschloss und den Totalitarismus sowjetischer Prägung mit der Endlosschleife der Utopie versah. In der prokommunistischen Nachfolge von Heinrich Mann und Bertolt Brecht richteten seine Exponenten eine Art Macht des Geistes in der geteilten deutschen Öffentlichkeit durch.
Ihre Haltung war wenig konsistent, aber umso provokativer. Die DDR betrachteten sie als soziales Experiment und die Bundesrepublik, in der sie lebten, galt ihnen als restaurativ. Der Kalte Krieg, der ursprünglich die Deutschen in den Augen der Amerikaner bewährungsfähig erscheinen ließ, bildete später den zwingenden Hintergrund für die Verballhornung der deutschen Kultur und ihrer Geschichte.
Die deutsche Gesellschaft war mit dem Problem der Kontamination ihrer Grundlagen durch die nationalsozialistischen Verbrechen konfrontiert. Daran konnte auch die Flucht in Arbeit und neuen Wohlstand nichts ändern.
Die deutsche Gesellschaft brauchte ihren Schnitt. Das war die Stunde Null, und sie wurde oft genug für die deutsche Kulturgeschichte insgesamt festgestellt. Eifrige Denker der Nachkriegszeit, die mit Vorliebe dem europäischen Zeitgeist folgten, hatten der deutschen Gesellschaft eine ganze Reihe von Denkverboten verordnet, die bis heute wirken. Die einschlägigen linksliberalen Intellektuellen in der alten Bundesrepublik hatten zwar keine politische Macht, aber sie bestimmten, wohin der Geist zu gehen habe und, vor allem, wohin nicht.
So bestimmten sie bald die öffentliche Debatte und damit die öffentliche Meinung. Nur im Deutschen gibt es den Begriff der schweigenden Mehrheit. Sie, die neuen Denker, waren für die Freiheit und gegen den Kapitalismus. So gerieten sie bald in die Fänge der Utopie. Die Utopie ersetzt Kultur durch Ideologie, sie vermisst diese ideologisch.
Eine erste Revision des Vorgangs ergab sich aus dem Ende des Kalten Kriegs und des Ost-West-Konflikts durch die deutsche Vereinigung. Einige der Wortführer der Intellektuellen-Fraktion wollten den Deutschen sogar das Völkerrecht absprechen. Es sollte uns, so Grass, wegen Auschwitz das nationale Existenzrecht nicht zustehen.
Der Kalte Krieg hatte immerhin die Westintegration der alten Bundesrepublik beschleunigt. Das war keine schlechte Voraussetzung für die deutsche Vereinigung. Deutschland war zwar politisch geteilt, seine Kultur aber blieb unteilbar. Auf sie beriefen sich selbst die Statthalter Moskaus in Ostberlin. Der deutsche Begriff „Kulturnation“ schloss so manche Lücke im Diplomatentratsch der Zeit.
Nach der Vereinigung und der Ausweitung der Geltung des Grundgesetzes auf das Beitrittsgebiet, wodurch Meinungsfreiheit, Demokratie und Marktwirtschaft auch in der ehemaligen DDR Fuß fassen konnten, blieb es beim Gestus der Intellektuellen- Warnung. Die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in den frühen Neunzigern wurden beinahe triumphierend als Beweis deutscher politischer Unmündigkeit ins Feld geführt. Angeblich war das vereinigte Deutschland eine Gefahr für Europa.
Nach den Erfahrungen der beiden letzten Jahrzehnte sollte man sich eher überlegen, was ohne Deutschland als stabilisierender Faktor in der Mitte Europas gewesen wäre. Europa ist längst nicht mehr das größere Gefüge, in dem wir aufgehoben sein könnten, Europa ist ein von uns Deutschen maßgeblich mitgestalteter Ort der Geschichte.
Unsere Verantwortung ergibt sich aus den Herausforderungen der politischen Gegenwart. Ihr müssen wir uns stellen, ohne Wenn und Aber. Die Bundesrepublik ist eine der beiden Führungsmächte Europas. Die Deutschen können das nicht weiter ignorieren.
Der Staat Bundesrepublik gilt weltweit als Erfolgsmodell. Deutschland hat heute eine vergleichsweise gut eingerichtete Gesellschaft, die aber auch den Verführungen des Zeitgeistes folgt und manchmal die extremistische Gewalt nicht unter Kontrolle hat. Nach dem Rückzug der Ideologien des 20. Jahrhunderts, nach ihrem Verfall, hat sich auch in Deutschland das politisch Korrekte als Kontrollrahmen etabliert. Es verhindert die vollständige Akzeptanz der Wahrheit und schließt in entscheidenden Punkten an die Nachkriegsideologie der Schuld an.
Wodurch ist man Deutscher? Wodurch Europäer? Wer seine Ideen erfolgreich umsetzen will, braucht die Kollektivität. Ihre Sprache. Diese wird geprägt von der jeweiligen Kultur, der Ursprung dieser Kultur wiederum liegt in der Religion. Eine Mentalität ist Ausdruck von Religion und Kultur, aber auch der Versuch sich in ihnen zu orientieren. Die Mentalität versucht den Möglichkeiten von Kultur und Religion gerecht zu werden .
Die allzu oft glorifizierte Moderne neigt dazu, Gesetzmäßigkeiten zu ignorieren. Manche glauben sogar die Statik umgehen zu können. Die Moderne liebt die Doppeldeutigkeit. Sie feiert das Individuum, um es gleichzeitig der Unterordnung preiszugeben. Zu den schlimmsten Folgen des Totalitarismus in Deutschland gehört das Auseinanderfallen von Gemeinschaft, Gesellschaft und Öffentlichkeit.
Was aber wäre eine Gesellschaft ohne ihre Öffentlichkeit? Sie korrigiert und sanktioniert das Verhalten, orientiert sich aber an der Sinngebung durch die Gemeinschaft. Gesellschaft ist zwar umfassender als Gemeinschaft, aber ohne diese ist sie leer. Nur wer den Weg aus der Gemeinschaft in die Gesellschaft findet, ohne die Gemeinschaft zu verlieren, dem ist der Staat geschenkt. Der Staat der Deutschen ist heute ein Staat des Westens, und das ist gut so.
(Der Text erschien ursprünglich in Die Tagespost)