Thilo Sarrazin / 09.03.2016 / 17:48 / Foto: Lviatour / 9 / Seite ausdrucken

Abendessen mit Freunden. Oder: Tisch in Flammen

Neulich ein Abendessen bei Freunden, elf Menschen am Tisch. Wie in diesen Tagen unvermeidlich, kommt das Gespräch auf die Flüchtlingskrise. Ein Wort gibt das andere, und schon scheint der Tisch in Flammen zu stehen. Ein Gast zieht die Notbremse: so könne man nicht diskutieren. Betretene Gesichter. Das Gespräch zerfällt in kleinere Gruppen, wendet sich unverfänglichen Themen zu. Der Fehdehandschuh wird nicht wieder aufgenommen, niemand möchte schlechte Gefühle provozieren.

Die kurze Debatte war chaotisch. Sie streifte nur die Faktenlage und wurde schnell feindselig, als zwei konträre Sichtweisen offenbar wurden:

Die einen haben Angst um Deutschland. Sie treibt die Sorge um, was eine ungeregelte, massenhafte Einwanderung kulturell fremder Gruppen aus dem Nahen Osten und Afrika auf lange Sicht aus unserem Land macht. Die Wahrscheinlichkeit einer europäischen Lösung erscheint ihnen gering und ein Setzen auf diese Möglichkeit zu riskant. Die Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen und der Verzicht auf einige Vorzüge des Schengen-Raums ist für sie ein geringer Preis, wenn so die Zuwanderung beherrscht werden kann.

Die anderen hängen am Projekt Europa und wollen am liebsten der ganzen Welt helfen. Sie sehen das europäische Einigungswerk und die internationale Solidarität zusammenbrechen, wenn der deutsche Tourist auf dem Weg zum Gardasee am Brenner wieder seinen Personalausweis vorzeigen muss, und sie fürchten um Wohlstand und freien Handel, wenn an der Grenze die Frachtbriefe der Lastwagen vorzulegen und ggf. zu scannen sind.

Wenn tiefe Emotionen im Spiel sind, fällt es den meisten Menschen offenbar schwer, sich Stück für Stück mit den Fakten auseinanderzusetzen und so zu einer Meinung stufenweise vorzudringen. Die alte englische Benimmregel, dass man in "polite company" über Politik nicht sprechen soll, hat ihre Berechtigung. Aber in Ausnahmesituationen wird Konversation leicht zum Geschwätz, wenn sie jene Themen künstlich vermeidet, die doch die meisten innerlich beschäftigen. Dann geht die Spaltung der Gesellschaft schnell durch Freundeskreise und Familien und muss auch ausgehalten werden, wenn es weitergehen soll.

Angela Merkels Stärke war es stets, durch Auftreten, Sprechweise und zurückhaltende Diktion für jede Debatte wie Baldrian zu wirken. Wer nicht darauf einging - etwa beim Atom-Ausstieg, bei der Euro-Rettung oder bei der Öffnung der Grenzen für die Flüchtlinge - wurde schnell zum alarmistischen Spielverderber oder wirkte gegenüber "Mutti" Merkel wie ein unverantwortlicher Unruhestifter.

Hier deutet sich eine tektonische Verschiebung an: Der steile Aufstieg der AfD in den Meinungsumfragen setzte im September mit der Grenzöffnung durch Angela Merkel ein. Er ist umso bemerkenswerter, weil die AfD noch weit von der inneren Ordnung einer etablierten Pertei entfernt ist und auch ihre Abgrenzung vom rechten Rand der Gesellschaft noch teilweise unklar ist.

In der Flüchtlingskrise wirken CDU, SPD, Grüne und Linke wie Blockparteien. Ihre Aussagen unterscheiden sich nicht. So befeuern sie durch ihr Verhalten den Aufstieg der AfD, den sie gleichwohl beklagen. Die AfD liegt mittlerweile in allen Bundesländern bei 9 bis 12 Prozent, in Sachsen Anhalt sogar bei 17 %. Dort könnte sie bei der Landtagswahl am 13. März die SPD überflügeln.

Überhaupt wird die SPD zum Hauptleidtragenden des AfD-Aufstiegs. Die CDU leidet zwar auch, aber sie hat einfach mehr zuzusetzen. Für die SPD dagegen ist die Lage zum Verzweifeln. In Baden-Württemberg ist sie an der Regierung beteiligt, hat fleißige Minister und trotzdem in den Umfragen für die nahe Landtagswahl nur schockienende 16 Prozent. Im Bund liegt sie jetzt bei 23,5 Prozent. Als typische Partei der "kleinen Leute" hat die SPD in den letzten Jahren fortlaufend Stimmen an die Linke, die Grünen und die CDU abgegeben, und jetzt scheint ein wesentlicher Teil ihrer Restwählerschaft zur AfD überzulaufen.

Der kleine Mann weiß instiktiv, dass ein Euro nur einmal ausgegeben und auch der Sozialstaat nicht unbegrenzt ausgedehnt werden kann. Er ahnt, dass die Kosten für die Flüchtlinge zumindest teilweise zu seinen Lasten gehen und hat Angst vor mehr Konkurrenz am unteren Ende des Arbeitsmarktes. So handelte Sigmar Gabriel vor einigen Tagen politisch ganz richtig, wenn auch finanzpolitisch verantwortungslos, als er forderte, die steigenden Ausgaben für die Flüchtlinge mit mehr Leistungen für Rentner und Arme zu flankieren. Natürlich glaubt ihm keiner, dass alles gleichzeitig finanzierbar ist. Niemand weiß, ob sein Vorstoß, die sich auftuende Spaltung in der Gesellschaft mit mehr Geld zuzuschütten, der SPD eher schadet oder nützt.

Angela Merkel dagegen hielt am letzten Sonntag bei Anne Will erneut an ihrer Baldrian-Strategie fest, und die freundliche Moderatorin kam ihr dabei entgegen. Kritische Fragen wie das Ausbildungsniveau, der kulturelle Hintergrund, die regionale Herkunft und die Geschlechterproportion der Flüchtlinge wurden weitgehend ausgeklammert. Angela Merkel konnte auf kurze Fragen lange Antworten geben. Ständig sprach sie von Europa, kaum dagegen von Deutschland. Aber die Baldrian-Strategie schien selbst bei der Moderatorin kaum zu verfangen. Die Gesichter der Zuhörer blieben ernst, ihr Beifall war spärlich.

Angela Merkel, die ewig Vorsichtige, hat die größte Spaltung der deutschen Gesellschaft seit den Ost-Verträgen vor 45 Jahren verursacht und sich zudem im Sturm quasi an den Mast des Schiffes gebunden. Der Ausgang ist offen - für Deutschland wie für die Kanzlerin.

Zuerst erschienen in der Züricher Weltwoche

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Paul Gerhath / 09.03.2016

Die Debatte zur ‘Flüchtlingskrise’ scheint mir so aufgeladen zu sein, da sie von Frau Merkel von Anfang an per Appell als moralische Aufgabe an die deutsche Zivilgesellschaft gerichtet wurde. Als eine Aufgabe, der man sich jetzt stellen muss (im Hintergrund schwingt mit: der man sich viel zu lange nicht gestellt hat) und deren Bewältigung oder Nichtbewältigung viel über das Wesen der deutschen Gesellschaft und europäischen Gemeinschaft aussagen wird. Bei der überwiegenden Mehrheit der politischen Parteien, der Medienvertreter sowie in weiten Teilen der Bevölkerung kam diese Botschaft und der damit verbundene moralische Appell für einige Wochen im September an. Dann begann sich abzuzeichnen, dass es sich hier nicht um eine einmalige Aufgabe der Integration von einigen 10.000 Kriegsflüchtlingen aus Syrien handelt. Die Aufgabe, an der sich Deutschland und die EU bewähren sollte, drohte zum Dauerzustand - ja, zur neuen Normalität - zu werden. Die Normalitäten des Alltags lassen sich jedoch dauerhaft nur pragmatisch und mit vielen Kompromissen bewältigen. Diese Sichtweise auf die Einwanderung nach Deutschland war jedoch für - und durch - die Kanzlerin nun verstellt. Hier teilen sich nun die Lager in zwei Grundausrichtungen: Die einen bleiben dabei, dass es sich um eine einmalige moralische Bewährungsaufgabe für Deutschland und die EU handelt - auch wenn diese Aufgabe größer ausfallen mag als ursprünglich angenommen. Die anderen nehmen eine pragmatische Perspektive ein: Man kann einmal einige 10.000 Menschen auf einmal aufnehmen, aber man kann daraus keinen Dauerzustand machen. Was einmalig moralisch naheliegend war, ist nicht dauerhaft moralisch geboten. Entscheidend ist der realistische Blick auf die eigenen Möglichkeiten und nicht der Appell, über das bisher als möglich Angenommene (im Sinne eines ‘Wir schaffen das erst recht!’) weit hinaus zu gehen.

Max Wedell / 09.03.2016

Sarrazin gelingt es immer wieder, in klaren, knappen Worten die Lage auf den Punkt zu bringen. Vielen Dank dafür. Auch für den äußerst interessanten Artikel in der FAZ vom Montag (“Eine Atempause für Europa”).

Thomas Klingelhöfer / 09.03.2016

Danke für die gewohnt klarsichtige Analyse Herr Sarrazin! Wünschenswert wäre eine Offenheit und Ehrlichkeit der Mächtigen, insbesondere eine ehrliche Kommunikation ihrer Vorstellungen und Absichten hinsichtlich einer angestrebten Gesellschaft. Das würde dem Bürger eine Meinungsbildung ermöglichen, auf dieser Grundlage wäre ggf. eine demokratische Entscheidungsfindung möglich. Seit Jahren beschleicht mich allerdings das Gefühl, die Regierenden halten die Bevölkerung für zu dumm und aus diesem Grund seien “Eliten” legitimiert, wesentliche Richtungsentscheidungen ohne Bürgerbefragung und -beteiligung zu treffen. Das Vorbild aus der Schweiz hinsichtlich direkter Demokratie gefällt mir da wesentlich besser als das betreute Wohnen hierzulande.  

Thomas Schenk / 09.03.2016

Die drohende Spaltung der Gesellschaft ist in der Tat eine reale Gefahr. Die „Blockparteien“ im Bundestag, die sich weigern den Bürgern eine Alternative zu bieten, haben in den Leitmedien auch noch treue Spießgesellen, die an der Spaltung nach Kräften mitwirken. Im Bundestag, wie auch in den Leitmedien fällt das für eine Demokratie lebenswichtige Regulativ aus. Man meint einem Kindergeburtstag beizuwohnen: Pegida, AfD und andere dürfen nicht mitspielen. Der Kuchen wird unter den besten Freunden verteilt, und basta! Jedem, der von außen an den Kuchen will, wird auf die Finger gehauen. In Frankreich hat sich gezeigt, dass Sozialisten und Republikaner bis zur Selbstaufgabe ihr Territorium verteidigen, auch um den Preis der eigenen Bedeutungslosigkeit. Ahnliches zeichnet sich auch in Deutschland ab. Tiefgreifende Veränderungen wird das aber letztlich nicht verhindern. Eher verschwinden traditionsreiche Altparteien in der Bedeutungslosigkeit.

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