Die Debatte zur ‘Flüchtlingskrise’ scheint mir so aufgeladen zu sein, da sie von Frau Merkel von Anfang an per Appell als moralische Aufgabe an die deutsche Zivilgesellschaft gerichtet wurde. Als eine Aufgabe, der man sich jetzt stellen muss (im Hintergrund schwingt mit: der man sich viel zu lange nicht gestellt hat) und deren Bewältigung oder Nichtbewältigung viel über das Wesen der deutschen Gesellschaft und europäischen Gemeinschaft aussagen wird. Bei der überwiegenden Mehrheit der politischen Parteien, der Medienvertreter sowie in weiten Teilen der Bevölkerung kam diese Botschaft und der damit verbundene moralische Appell für einige Wochen im September an. Dann begann sich abzuzeichnen, dass es sich hier nicht um eine einmalige Aufgabe der Integration von einigen 10.000 Kriegsflüchtlingen aus Syrien handelt. Die Aufgabe, an der sich Deutschland und die EU bewähren sollte, drohte zum Dauerzustand - ja, zur neuen Normalität - zu werden. Die Normalitäten des Alltags lassen sich jedoch dauerhaft nur pragmatisch und mit vielen Kompromissen bewältigen. Diese Sichtweise auf die Einwanderung nach Deutschland war jedoch für - und durch - die Kanzlerin nun verstellt. Hier teilen sich nun die Lager in zwei Grundausrichtungen: Die einen bleiben dabei, dass es sich um eine einmalige moralische Bewährungsaufgabe für Deutschland und die EU handelt - auch wenn diese Aufgabe größer ausfallen mag als ursprünglich angenommen. Die anderen nehmen eine pragmatische Perspektive ein: Man kann einmal einige 10.000 Menschen auf einmal aufnehmen, aber man kann daraus keinen Dauerzustand machen. Was einmalig moralisch naheliegend war, ist nicht dauerhaft moralisch geboten. Entscheidend ist der realistische Blick auf die eigenen Möglichkeiten und nicht der Appell, über das bisher als möglich Angenommene (im Sinne eines ‘Wir schaffen das erst recht!’) weit hinaus zu gehen.
Sarrazin gelingt es immer wieder, in klaren, knappen Worten die Lage auf den Punkt zu bringen. Vielen Dank dafür. Auch für den äußerst interessanten Artikel in der FAZ vom Montag (“Eine Atempause für Europa”).
Danke für die gewohnt klarsichtige Analyse Herr Sarrazin! Wünschenswert wäre eine Offenheit und Ehrlichkeit der Mächtigen, insbesondere eine ehrliche Kommunikation ihrer Vorstellungen und Absichten hinsichtlich einer angestrebten Gesellschaft. Das würde dem Bürger eine Meinungsbildung ermöglichen, auf dieser Grundlage wäre ggf. eine demokratische Entscheidungsfindung möglich. Seit Jahren beschleicht mich allerdings das Gefühl, die Regierenden halten die Bevölkerung für zu dumm und aus diesem Grund seien “Eliten” legitimiert, wesentliche Richtungsentscheidungen ohne Bürgerbefragung und -beteiligung zu treffen. Das Vorbild aus der Schweiz hinsichtlich direkter Demokratie gefällt mir da wesentlich besser als das betreute Wohnen hierzulande.
Die drohende Spaltung der Gesellschaft ist in der Tat eine reale Gefahr. Die „Blockparteien“ im Bundestag, die sich weigern den Bürgern eine Alternative zu bieten, haben in den Leitmedien auch noch treue Spießgesellen, die an der Spaltung nach Kräften mitwirken. Im Bundestag, wie auch in den Leitmedien fällt das für eine Demokratie lebenswichtige Regulativ aus. Man meint einem Kindergeburtstag beizuwohnen: Pegida, AfD und andere dürfen nicht mitspielen. Der Kuchen wird unter den besten Freunden verteilt, und basta! Jedem, der von außen an den Kuchen will, wird auf die Finger gehauen. In Frankreich hat sich gezeigt, dass Sozialisten und Republikaner bis zur Selbstaufgabe ihr Territorium verteidigen, auch um den Preis der eigenen Bedeutungslosigkeit. Ahnliches zeichnet sich auch in Deutschland ab. Tiefgreifende Veränderungen wird das aber letztlich nicht verhindern. Eher verschwinden traditionsreiche Altparteien in der Bedeutungslosigkeit.
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