Ingo Langner
Wer dieses Buch an einer beliebigen Stelle aufschlägt, liest sich fest und kommt aus dem Schmökern nur schwer wieder heraus. Was nicht allein am Sujet liegt. Aber doch auch. Denn ob die menschliche Seele unsterblich ist oder mit dem Fleisch verwest, das ist seit Aristoteles ein grundlegendes Thema für Denker und Dichter. Johann Wolfgang von Goethes Doktor Faustus meinte gar, daß zwei Seelen „ach“ in seiner Brust Wohnung genommen haben. Und noch weitgehend unerforscht ist die zugegeben reichlich faustische Frage, ob dieser vielfach gelehrte prototypische Deutsche - der bekanntlich nicht allein Philosophie, Juristerei und Medizin, sondern „leider auch Theologie“ studiert hatte - deswegen meinte, eine seiner beiden Seelen getrost dem Teufel verschreiben zu können. Ebensowenig sicher wissen wir, ob es tatsächlich so etwas wie eine kollektive Volkseele gibt und falls ja, wie sich die der Franzosen von beispielsweise der englischen oder chinesischen unterscheidet.
Darum ist es um so verdienstvoller, daß wir diese komplexe Frage dank Thea Dorn und Richard Wagner nun selbst erkunden können. Zwar nicht gleich im internationalen Vergleich oder gar im Weltmaßstab, aber immerhin doch für den Teil Mitteleuropas, der seit Tacitus („De origine et situ Germanorum“) zum „teutschen“ Hoheitsgebiet gezählt wird. Denn das von Frau Dorn und Herrn Wagner gemeinsam verfaßte Buch – es trägt den ebenso schlichten wie vielsagenden Titel „Die deutsche Seele“ – gibt auf fünfhundertfünfzig Seiten beredt Auskunft über dieselbe.
Schon der apart gestaltete Umschlag, auf dem vorn der Titel in Goldprägung prangt und der uns rückwärtig das Autorenpaar in üppig ergrünter Landschaft zeigt, ist eine wahre Augenweide, und wenn es auf dem Cover anpreisend heißt: „So ein Buch hat es noch nicht gegeben“, ist das gewiß nicht übertrieben. Denn wann hätten je zwei deutsche Schriftsteller versucht, aus 64 Stichworten jenes Besondere, Einzigartige und durchaus auch Problematische zu destillieren, das Einheimische wie Fremde mit dem spezifisch Deutschen verbinden? Und weil allein die Aufzählung jener Stichworte schon eine Ahnung von dem geben kann, wovon das Buch handelt, seien sie hier ausnahmslos alle aufgezählt:
„Abendrot, Abendstille, Abgrund, Arbeitswut, Bauhaus, Bergfilm, Bierdurst, Bruder Baum, Buchdruck, Dauerwelle, Doktor Faust, Eisenbahn, E(rnst) und U(nterhaltung), Fachwerkhaus, Fahrvergnügen, Feierabend, Forschungsreise, Freikörperkultur, Fußball, Gemütlichkeit, German Angst, Grenzen, Gründerzeit, Grundgesetzt, Hanse, Heimat, Jugendherberge, Kindergarten, Kirchensteuer, Kitsch, Kleinstaaterei, Krieg und Frieden, Kulturnation, Männerchor, Mittelgebirge, Musik, Mutterkreuz, Mystik, Narrenfreiheit, Ordnungsliebe, Pfarrhaus, Puppenhaus, Querdenker, Rabenmutter, Reformation, Reinheitsgebot, Schadenfreude, Schrebergarten, Sehnsucht, Sozialstaat, Spargelzeit, Spießbürger, Strandkorb, Das Unheimliche, Vater Rhein, Vereinsmeier, Waldeinsamkeit, Wanderlust, Das Weib, Weihnachtsmarkt, Wiedergutmachung, Winnetou, Wurst, Zerrissenheit.“
Das muß ein arger Tropf sein, dem schon nicht bei dieser Liste die Leselust überfällt. Doch halt! Schon das Vorwort, gewissermaßen Packungsbeilage und Apotheker zugleich, spricht eine unmißverständliche Mahnung aus. „Dies ist ein Buch, in dem du nicht gewarnt wirst vor dem Deutschen“, heißt es dort. Denn „wir wollen dieses Land nicht in den Sektionssaal schieben, wir beugen uns nicht im weißen Kittel mit spitzem Werkzeug darüber, um einzig kranke Stellen herauszuschneiden und unter dem Mikroskop zu betrachten. Wir sind keine Pathologen – wir sind Beteiligte. Getrieben von der Sehnsucht, die Kultur, in der wir leben, in all ihren Tiefen und Untiefen, in ihrer Größe und Schönheit, in ihren Schrullen und Fragwürdigkeiten zu erkunden.“
Mit anderen Worten, dies ist keine Fundgrube für den notorischen deutschen Selbsthasser. Aber auch die aus der antagonistischen Fraktion, wir wollen sie einmal ganz allgemein „Deutschtümler“ nennen, werden auf ihre Kosten nicht kommen. Summa summarum halten nämlich alle Texte traumwandlerisch sicher jene Balance, die eine seriöse Seelenerkundung verlangt. Und seriös ist das quasi lexikalische Werk allemal. Es ist weder bleiern noch erdenschwer und obwohl der Ton durchgängig spielerisch schwebend ist, wird der selbstgestellte Forschungsauftrag nie eines Bonmots wegen verraten.
Wer historische Vergleiche schätzt, kann die „Seelenarbeit“ Thea Dorns und Richard Wagners mit dem Furor der französischen Enzyklopädisten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vergleichen. Allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Während die Herren D’Alambert und Diderot sich vorgenommen hatten, die Göttin einer atheistischen Vernunft auf die Altäre des dreieinigen Christengottes zu pflanzen, ist sich das deutsche Duo der Tatsache bewußt, daß sich mit den Mitteln einer bloß skeptisch-materialistischen Ratio keineswegs herausfinden läßt, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Während die antichristliche „Aufklärung“ der Enzyklopädisten sich zum Beispiel so las: „In den ersten Jahrhunderten gab es sechzig Evangelien, die fast alle gleich unverdaulich waren. Man verwarf sechsundfünfzig wegen ihrer Kindlichkeit und Albernheit. Gäbe es hierfür keinerlei Anhaltspunkte bei denjenigen, die man behalten hat?“, endet bei Dorn/Wagner der Artikel zum Stichwort „Mystik“ mit diesen Sätzen: „Die deutsche Gesellschaft hat heute keine gültige Mystik mehr aufzuweisen. Dafür importiert sie in auffallender Größenordnung die esoterischen Angebote aus aller Welt. Exotisch haben sie zu sein und schamanisch. Warum der Buddha, könnte man fragen und nicht Eckhart? Weil wir Kant und Hegel nachgerannt sind und alles andere vergessen haben? Oder schlimmer noch, es bloß politisch betrachten? Eine Kultur kann nur als Ganzes wirken. Wird etwas aus ihrem Körper entfernt, so wird es, auch wenn es nebensächlich erscheint, dem Ganzen fehlen.“ Das klingt doch, als hätten sich Thea Dorn und Richard Wagner auch selbst von dem Dreiklang „Sehnsucht, Neugier und Leidenschaft“ leiten lassen, den sie ihren Lesern wegweisend als Lektüreerleichterung empfehlen.
Unbedingt besonders hervorzuheben ist übrigens die überaus reiche und dramaturgisch großartige Bildauswahl. Diese unbedingt hellsichtig zu nennende Auswahl ist nämlich deshalb ein Glücksfall der besonderen Art, weil die Bilder den Text nicht einfach verdoppeln, sondern wie ein eigenständiger Film im Buch eine ganz eigene und eigenartige Rolle spielen. Von den mehr als zweihundert Illustrationen picken wir hier nur diese heraus: Unter dem Stichwort „Sehnsucht“ beispielsweise sehen wir Anselm Feuerbachs 1871 gemalte „Iphigenie“, die bekanntlich das Land der Griechen mit der Seele sucht und auf der gegenüberliegenden Seite ein mit dem Spruch „Nimm mich mit Kapitän auf die Reise …“ besticktes Sofakissen aus den 1950er Jahren, auf dem eine sommerlich gekleidete junge Frau vom Ufer aus einer auf dem Meer auf sie zusegelnde Jolle zuschaut. Großartig auch die Gegenüberstellung „Geschockte Germanen im heiligen Hain: Geismar, 723 und Stuttgart 2010“. Linker Hand fällt Bonifatius, zum Entsetzen eines germanischen Priesters und mit kühnem missionarischen Schwung die Donar-Eiche und rechts stehen sich zur nächtlichen Stunde schwäbisch-wutbürgerliche „Parkschützer“ und eine Hundertschaft hochgerüsteter Polizisten (noch) abwartend gegenüber.
Wie ernst und leicht zugleich das alles gemeint ist, zeigt auch die klappentextliche Selbstbeschreibung der beiden Autoren an: „Thea Dorn wurde 1970 im hessischen Offenbach geboren und wuchs in einem teil-protestantischen Haushalt auf. Als sie dreizehn war, erwachte ihre Liebe zu Richard Wagner. Die Hoffnung, eines Tages selbst als Brünhilde auf der Bühne zu stehen, mußte sie jedoch begraben. Sie studierte Philosophie und ging nach Berlin, wo sie den Schriftsteller Richard Wagner kennenlernte, der 1952 im rumänischen Banat geboren worden war und seine ersten 35 Lebensjahre dort als Katholik und Angehöriger einer verfolgten deutschen Minderheit verbracht hatte.“
Die oben zitierte vorwortliche Warnung scheint auf die Feuilletonchefs der deutschen „Qualitätszeitungen“ übrigens so dermaßen abschreckend gewirkt zu haben, daß weder in den wie stets ausführlichen Literaturbeilagen zu Frankfurter Buchmesse und zum Advent noch an einem anderen Ort „Die deutsche Seele“ rezensiert worden ist. Aus Gründen, über die wie hier nicht spekulieren wollen, wird das Buch journalistisch bislang ignoriert. Doch wie wir aus erster Hand erfahren haben, sieht es in an den Buchhandelsladenkassen ganz anders aus: schon in den ersten vier Wochen wurden zehntausend „deutsche Seelen“ verkauft. Und wir möchten abschließend dringend empfehlen, sich von dieser Kauflust anstecken zu lassen.
DORN, THEA; WAGNER, RICHARD:
Die deutsche Seele
Knaus Verlag, München 2011.
560 S., 26,99 €.