Henryk M. Broder / 20.01.2007 / 11:27 / 0 / Seite ausdrucken

Thea Dorn: Es gibt uns noch!

“What is it like to be an Enlightenment fundamentalist?”, “Wie ist es, ein Fundamentalist der Aufklärung zu sein?”, fragt Thea Dorn in einem Beitrag für das Wall Street Journal Europe. Hier die deutsche Textfassung:

What is it like to be a bat?“ fragte der Philosoph Thomas Nagel in seinem berühmten Essay von 1974. Die Antwort: Wir Menschen werden es nie wissen – solange wir nicht selbst Fledermäuse sind. Ich muss Sie enttäuschen. Auch ich bin keine Fledermaus. Aber ich zähle zu einer anderen Spezies, über die neuerdings fast ebenso viele Mutmaßungen angestellt werden wie über die lichtscheuen Säugetiere. Die Rede ist vom „Enlightenment fundamentalist“. Deshalb darf ich mit gewissem Recht hoffen, Auskunft in der Frage erteilen zu können: „What is it like to be an Enlightenment fundamentalist?“

  Wer unserer Spezies den Namen gegeben hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Vermutlich war es Professor Timothy Garton Ash, im Hauptberuf Historiker. Das Verdienst, als erster eine der Unseren öffentlich als „Fundamentalist“ bezeichnet zu haben, kommt allerdings einem anderen zu: Mohammed Bouyeri. Er schreibt: „I know for sure that you, Oh Hirsi Ali, will go down! I know for sure that you, Oh unbelieving fundamentalist, will go down!“

  Bouyeri ist im Hauptberuf nicht Historiker, sondern gläubiger Moslem, deshalb waren seine Zeilen auch nicht in der New York Review of Books erstzulesen, sondern in einem Brief. In einem Brief, den er der Adressatin allerdings nicht mit der Niederländischen Post zustellte, sondern mit einem Messer an die Brust Theo van Goghs heftete, nachdem er den Filmemacher zuerst erschossen und ihm dann die Kehle aufgeschlitzt hatte. Vielleicht hätte dieser Umstand ein Mitglied der Spezies „Oxford-Professor“ dazu bringen können, etwas vorsichtiger in seiner Begriffswahl zu sein, aber gut, wir sind nicht empfindlich. Als erstes Charaktermerkmal unserer Spezies darf ich Ihnen somit enthüllen: Uns sitzt die Hand weit weniger locker am Abzug als dem islamischen Fundamentalisten. Wieso wir mit jenem dennoch so eng verwandt sein sollen wie das Black Wildebeest mit dem Blue Wildebeest, erklärt unser Entdecker so: „But, the Enlightenment fundamentalist will protest, our faith is baised on reason! Well, the Islamist jihadists reply, ours is based on truth!“ Und schon stehen wir ganz schön dumm da: Mit gesenktem Schädel, Gehörn gegen Gehörn, so aussichtslos verkeilt wie zwei Gnus in der afrikanischen Savanne. Dabei weiß TGA, wie man sich ganz einfach aus der Verkeilung lösen könnte. Man, d.h. wir geben unseren „faith“ auf und verhandeln. Und deshalb weiß ich jetzt auch endlich, wie wir die Spezies, zu der TGA gehört, richtiger bezeichnen sollten: „Enlightenment negotiator“.

  Worüber dieser bereit ist zu verhandeln, hat er uns auch schon verraten: In die Frage, ob Muslime ihre Frauen unter den Schleier zwingen, sollten wir alte Europäer uns nun wirklich nicht einmischen. Und lassen wir hier vornehme Zurückhaltung walten, wird der „islamist jihadist“ nämlich im Gegenzug sofort bereit sein, uns in der Frage der Meinungsfreiheit entgegen zu kommen – die der Professor dann schon weniger gern verhandeln möchte. Da es ein weiteres Wesensmerkmal unserer Spezies ist, im Grunde freundliche Menschen zu sein, erspare ich TGA die nahe liegende Frage, ob seine Abgeklärtheit in Sachen Zwangsverschleierung etwas damit zu tun haben könnte, dass selbst der fundamentalistischste islamische Fundamentalist kaum je auf den Gedanken kommen wird, männlichen Oxford-Professoren das Kopftuch zu verordnen.

  Die zentrale Argumentationskette des „Enlightenment negotiator“ gegen uns geht so: Fakt ist, dass es in Europa immer mehr Muslime gibt. Also haben wir einen Teil von deren Wertvorstellungen zu übernehmen, ganz gleich, ob sie sich mit unseren beißen. Anders gesagt: Der Fusion-Trend, der die westlich urbanen Küchen so spielerisch erobert hat, soll auf das ethische Feld ausgeweitet werden. Keiner von uns möchte bestreiten, dass es eine kulinarische Bereichung darstellt, zu den morgendlichen baked beans statt Würstchen Falafel zu essen. Wie dagegen der Glaube ans vernunft-, freiheits- und gewissensbegabte Individuum fusionierbar sein soll mit dem Glauben, dass der Mensch nichts ist, wenn er sich nicht Allah unterwirft – das hat uns bis zum heutigen Tag kein noch so begnadeter Fusion-Koch erklären können. Wann immer wir uns anmaßen, Moslems nicht als fremdgesteuerte Herdentiere, sondern als zurechnungsfähige Individuen zu betrachten und von ihnen dementsprechend Verhaltensweisen zu verlangen, die eines zurechnungsfähigen Individuums würdig sind, zuckt der „Enlightenment negotiator“ nur mitleidig die Achseln: „It’s simply not realistic.“ Sieht so die „normative Kraft des Faktischen“ im 21. Jahrhundert aus? Oder ist es, um mit Nietzsche einen älteren Experten für Anti-Aufklärung zu zitieren, fatalistische „Unterwerfung unter das Tatsächliche“?

  Nun möchte ich dem „Enlightenment negotiator“ gar nicht unterstellen, dass ihn der Gedanke, eines Tages möglicherweise in einem islamischen Gottesstaat leben zu sollen, weniger schreckt als uns. Seine Abgeklärtheit bezieht der „negotiator“ vor allem aus der Hoffnung, dass es so schlimm schon nicht kommen wird. Ian Buruma, Autor klarsichtiger Werke wie „Occidentalism: The West in the Eyes of Its Enemies“, der bis vor kurzem selbst noch als Mitglied unserer Spezies galt, erklärt neuerdings, dass er den radikalen Islam für keine totalitäre Gefahr hält, zumindest nicht für Europa. Die gegenteilige Annahme setze ja voraus, dass die nächsten Generationen Einwanderer genauso schlecht integriert seien wie die vor ihnen, und, O-Ton Buruma: „Wir können nur hoffen, dass dies nicht der Fall sein wird.“ Wir können es nur hoffen? Zugegeben: Hier offenbart sich ein weiteres Wesensmerkmal unserer Spezies: In der Disziplin „Hoffen“ sind wir nicht besonders gut. Besser schon sind wir darin, klare Forderungen zu stellen, die verhindern sollen, dass eines Tages tatsächlich nur noch hoffen hilft. Und damit kommen wir zu der heiklen Frage, welche Mittel einzusetzen wir bereit sind, um den Forderungen der Aufklärung Nachdruck zu verleihen. Viele von uns sind ebensolche Verehrer wie Meister des Wortgefechts. Doch keiner von uns hat die Hoffnung, Worte könnten in jeder Situation die ausreichende Waffe sein. Oder, wie es unser oberstes Alpha-Female, Ayaan Hirsi Ali, beschreibt: „There is a pacifist ideology that violence should never be used in any circumstances, and so we should talk and talk and talk. Even when your opponent tells you, ‚I don’t want to talk to you, I want to destroy you’, the reaction is, ‚Please, let’s talk about the fact that you want to destroy me.“

  Ja, unter Umständen rufen wir „Enlightenment fundamentalists“ also durchaus dazu auf, Gewalt einzusetzen. Nämlich genau dann, wenn die gegnerische Seite den Boden des Diskurses längst verlassen hat und sich tief im Feld der Gewalt befindet. Aber keine Angst: Auch wenn wir für das Kopftuchverbot an öffentlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sind – keiner von uns will Köpfe rollen sehen. Robespierre gehört nicht in unseren Stammbaum, und keiner von uns hat eine Guillotine im Garten stehen.

  Ich denke, damit bin ich an der Stelle angekommen, an der ich Ihnen den versprochenen Blick auf den Grund unseres Fühlen und Denkens gewähren kann: Wir sehen, dass Europa auf dem besten Weg ist, sich abermals in ein Schlamassel hineinzumanövrieren, in dem die mühsam errichteten Deiche der Zivilisation aufs Neue brechen können. Und wir sind überzeugt, dass es nur einen Weg gibt, dies zu verhindern: Indem wir unmissverständlich und unnachgiebig für die Werte der Aufklärung einstehen und die Einhaltung dieser Werte von allen, die auf dem europäischen Kontinent leben, einfordern. Meinetwegen mag man das „fundamentalistisch“ nennen. Aber dann dürfen wir jeden, dem die Aufklärung tatsächlich am Herzen liegt und nicht Ängstlichkeit den Blick trübt, als Mitglied in unserer Spezies begrüßen.

  Zum Schluss lohnt es sich, noch ein paar Worte über unsere geographische Verbreitung zu verlieren. Es gibt nämlich Gerüchte, dass wir in Europa eigentlich nicht (mehr) heimisch seien. So erläuterte Ian Buruma anlässlich des Kontinentwechsels unseres Alpha-Female in einem New Yorker Radiointerview: “I think Ayaan Hirsi Ali belongs to America. Also because of her own personality. She is very much a sort of ‘pull yourself up by your bootstraps and reliance on your talents and energy’ and so on. And she’s a bit like Margaret Thatcher, actually, in the sense that both of them have very limited tolerance for people who are in similar circumstances who don’t have the ways or the intelligence or the push to make it themselves.”

  Margaret Thatcher: Eine heimliche Amerikanerin? Doch abgesehen davon – so redet der liberal-paternalistische Hirte, angetrieben von der Sorge, seine schwachen Schäfchen durch die „Last der Zivilisation“ zu überfordern. Wird unsere Ayaan deshalb so doppelt misstrauisch beäugt, weil ihre Biografie ein grandioser Beweis dafür ist, dass aus einem kleinen somalischen Mädchen, für das die Gemeinschaft eine Karriere als vollverschleierte Söhnefabrik vorgesehen hatte, ein stolzes, mutiges, höchst eigenwilliges Individuum werden kann? Und überführt sie also weniger durch ihre Reden, als vielmehr durch ihr gesamtes Leben all diejenigen der Kleinmütigkeit, die das Individuum permanent vor den Frösten der Freiheit schützen wollen? Sicher, nicht jeder hat das Zeug, eine Hirsi Ali zu werden. Doch wem ist geholfen, wenn man allen einredet, gar nicht erst versuchen zu sollen „to pull yourself up by your bootstraps“?

  Vielleicht hat Buruma ja Recht, und der Glaube ans Individuum, daran, dass ein Mensch sich entwickeln, an sich arbeiten, Selbstständigkeit lernen kann, ist heute nicht mehr europäisch, sondern amerikanisch. Vielleicht gehören wir „Enlightenment fundamentalists“ in Europa tatsächlich zu den aussterbenden Arten. Noch gibt es uns.

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