Vera Lengsfeld / 09.01.2013 / 10:19 / 0 / Seite ausdrucken

Teufelsberg

Auf den Berliner Teufelsberg steht man auf den Trümmern des zerstörten Berlins. An diesem symbolischen Ort, das neu erstandene Berlin als Verheißung des Lebens in der Ferne sichtbar, hat Sophie Dannenberg den Handlungsort ihres neuen Romans verlegt. Hierher, in die von einem englischen Stararchitekten gebaute Cadea- Klinik kommen alle, die mit den Trümmern ihrer Existenz nicht fertig werden. Hier erfahren sie, wovor Dannenberg schon auf der ersten Seite warnt: „Selbsterfahrung hilft nur denen, die den Sinn im Vorgeformten erfahren“. Für die anderen gilt: „Wer tiefer gräbt, begibt sich in Gefahr. Denn mörderisch ist nicht die Krankheit, sondern die Heilung.“

Eine durchaus gemischte Truppe hat sich versammelt: Da ist Lotti , die seit 66 Jahren auf ihren in den letzten Kriegstagen verschollenen Verlobten wartet, der Kriminalkommissar Friedrich, der den Tod seiner Frau nicht wahrhaben will, der geniale Wissenschaftler Xaver, der mit seiner Hochbegabung nicht fertig wird, Beate, die glaubt, ihre Zahnimplantate wüchsen ihr aus dem Mund, Sylvia, die den Verstand verloren hat, weil sie spürte, dass ihr Partner sie betrügt, Annika, die sich selbst verstümmelt, weil sie zu jung an den ganz falschen Mann geraten ist und Falko, der Knastbruder, der sich wegen angeblicher Suizidgefahr selbst eingewiesen hat, um betuchten Privatpatientinnen ihr Geld abzuschwatzen.

Um diese Gruppe rankt sich ein ganzes Figurenensemble von medizinischem Personal unter der Leitung von Prof. Vosskamp, Patienten aus der geschlossenen Abteilung und der Station B der Kassenpatienten. Dannenberg schildert die letzte Woche vor der großen Katastrophe. Wie Thomas Mann im Zauberberg gelingt es ihr, in diesem Minikosmos die ganze Welt einzufangen. Sie zeichnet jede Figur mit vielen Details,  liebevoller Präzision und erstaunlicher medizinischer Kenntnis, ohne ein einziges Mal denunziatorisch zu werden. Zum Schluss sind die Personen so lebendig, daß man glaubt, sich in ihre Gedanken einfühlen zu können. Als für jeden Einzelnen die Selbsterkenntnis kommt, ist sie nicht das Resultat des Könnens der Mediziner, sondern der Interaktion der Patienten.

Annika bemerkt als Erste und Einzige, dass Xaver eine bestürzende Entdeckung gemacht hat. Der Berg ist in Bewegung geraten, er wird die Klinik zerstören. Xavers Expertise, die er dank seiner überragenden Fähigkeiten gegen alle Widerstände anfertigen kann, wird vom Chefarzt achselzuckend beiseite gelegt. Die Evakuierung, auf die Xaver drängt, findet nicht statt.
Friedrich erkennt in einem lichten Moment, das sein Zimmergenosse Falko kein richtiger Patient, sondern ein Betrüger ist. Sylvia entscheidet sich, nichts Näheres über die außerehelichen Eskapaden ihres Mannes wissen zu wollen. Beates Problem sind nicht die Zähne, sondern ihre Unfähigkeit, ihre erwachsene Tochter loszulassen und ein eigenes Leben zu führen. Lotti klammert sich an den verschollenen Verlobten, weil ihr die Massenvergewaltigungen im besiegten Berlin einen unauslöschlichen Ekel vor Männern eingeflößt haben. Falko muss dagegen erfahren, dass man sich zwar freiwillig in eine Klinik begeben, sie aber nicht auf eigenen Entschluss wieder verlassen kann. Wenn die Cadea einmal hat, den lässt sie nicht mehr so schnell los.

Im großen Finale lädt Chefarzt Vosskamp zur Philosophischen Sonntagsrunde ein, die er selbst ins Leben gerufen hatte, um Prominente für die geplante Privatklinik neben der Cadea zu interessieren. Diesmal ist er selbst der Hauptredner. Da seine diesbezüglichen Fähigkeiten längst versiegt sind, musste er seine Rede einem Lohnschreiber überlassen. Als der statt des erhofften Textes nur Statistiken liefert, kommt Vosskamp die Idee, dem genialen Xaver eine Schreibtherapie zu verordnen. Der ist aber mit seiner Expertise über die Bewegungen im Berg beschäftigt und reicht den Auftrag an Falko weiter, der einfach einen Text aus einer philosophischen Zeitschrift kopiert und mit einer neuen Überschrift versieht.

Pech für Vosskamp ist, dass am Sonntag unter dem sichtlich beeindruckten Publikum sich auch der Verfasser des philosophischen Artikels, den der Chefarzt als seine Rede präsentiert, befindet.
Während Vosskamp nach dem langen Schlussapplaus als Plagiator entlarvt wird, gerät der Boden unter dem Baukran, der an der Privatklinik arbeitet, ins Rutschen, stürzt um und zertrümmert den Vortragssaal. Vosskamp überlebt das, im Gegensatz zu seinen Patientinnen Lotti, Beate und Annika, aber er will seine Blamage nicht ertragen. Er macht das,  woran er seine Patienten, notfalls durch Fixierung, gehindert hat: Selbstmord. In seinen letzten Sekunden wird ihm klar, dass er weniger der Blamage, als der Beliebigkeit entkommen will. Vosskamps großer innerer Monolog in den letzten Augenblicken seines Lebens sind ein genialer Abschluss eines großartigen Romans. Sophie Dannenberg hat sich mit ihrem Buch in die erste Liga der deutschen Schriftsteller geschrieben.

Sophie Dannenberg: „Teufelsberg“, Berlin 2012

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