Jesko Matthes / 08.04.2018 / 17:00 / 2 / Seite ausdrucken

Abu Jihad von Oppenheim

Manchmal kapiere ich Zusammenhänge spät, sagt meine Frau, und sie fragt, natürlich rhetorisch: Wie kann ein gebildeter Mann wie du so verpeilt sein? Ein solches Gefühl hatte ich im Sommer 2011, allein auf der Berliner Museumsinsel: Menschen können gebildet und extrem „verpeilt“ sein, ohne es überhaupt zu ahnen. Ich begann mich zu fragen, wie sehr die eigene politische Einstellung mit familiären Dingen zu tun hat, mit privaten Interessen und Erfahrungen, sozialen Prägungen, dem Zeitgeist, wie sehr ein Leben bestürzend sein kann, und inwieweit man sich dessen bewusst werden, davor in Acht nehmen muss, voller guter Absichten ein bestürzendes Leben zu führen. Ich besuchte eine wunderbare, faszinierende Ausstellung: „Gerettete Götter“.

Die Sache führte in den Nahen Osten und begann eher abstrakt. Kurz zuvor hatte ich ein Buch der griechischen Archäologin Nanno Marinatos gelesen, die 2010 versucht hatte, mangels schriftlicher Überlieferung die Religion und die Herrschaftsform der minoischen Kreter aus dem kulturellen Kontext Anatoliens, der Levante und Mesopotamiens zu rekonstruieren. Und, tatsächlich, auch in den Reliefs und Statuen vom Tell Halaf sah ich sie, den hurritisch-aramäischen Sturmgott Teššup/Baal-Haddu mit dem Blitz und dem gehörnten Helm und die Sonnengöttin Hepat/Anat im reich geschmückten Rock. Ich schlenderte einen Moment lang nachdenklich durch die Ausstellung. Der Gedanke von der Mutter im blauen Mantel, die gleichzeitig Himmelskönigin und Meeresgöttin ist, ave maris stella, und ihrem Sohn, der den Sturm stillt, übers Wasser geht, Tausende speist, stirbt und aufersteht, ist älter als die Bibel. Doch mehr als so eine unpraktische Erwägung war mitzunehmen aus der Ausstellung. Viel mehr als nur eine einzige, schier unglaubliche persönliche Geschichte gehört zu ihr, und sie alle führen mitten in die deutsche Geschichte und in den Kern jener Konflikte, die bis heute das Tagesgeschehen bestimmen.

Das Wunder vom Tell Halaf

Die Wiedergewinnung der archäologischen Schätze des Tell Halaf, die über fünfzig Jahre als Trümmer in Kisten lagerten, grenzt an ein Wunder. Bei diesem Wunder halfen hoch motivierte Wissenschaftler und Studenten, dazu eine diffizile Informatik aus Datenbanken und 3D-Rekonstruktionen. In einigen Jahren sollen die Exponate vom Tell Halaf eine dauerhafte Bleibe auf der Berliner Museumsinsel finden. Wieder schlenderte ich durch die Ausstellung. Ich hatte die ersten Berichte über den syrischen Bürgerkrieg gelesen, über den IS. Der Tell Halaf liegt im äußersten Norden Syriens, direkt an der Grenze zur Türkei. Sein Entdecker und Ausgräber war ein Katholik aus Köln, Sproß der jüdischen Bankiersfamilie Sal. Oppenheim, der Jurist, Diplomat, autodidaktische Archäologe, Orientalist, Museumsdirektor, Lebemann und Agent Max Baron von Oppenheim. Mit Anfang dreißig kam er nach Kairo, lernte Arabisch, reiste bis zum Persischen Golf, grub vor und nach dem Ersten Weltkrieg den Tell Halaf aus, die aramäische Hauptstadt Guzana aus dem 10. Jahrhundert vor Christus, hielt sich nebenbei einen Harem einheimischer Frauen, die er später auf Basis der muslimischen „Ehe auf Zeit“ wieder verstieß, gründete sein eigenes Museum in Berlin, das 1943 mitsamt einem Großteil seiner Bibliothek einem Bombenangriff zum Opfer fiel, überlebte trotz seiner jüdischen Abstammung das „Dritte Reich“.

Lange hatte Oppenheim auf eine diplomatische Karriere gehofft. Doch seine jüdische Abstammung verhinderte bereits im antisemitischen Kaiserreich seine Beförderung. Trotzdem handelte Oppenheim als kaisertreuer Patriot, berichtete nach Berlin und konspirierte im Ersten Weltkrieg gegen England. Dort kennt man ihn, Oppenheim, noch heute als den erfolglosen deutschen Widerpart zu Lawrence von Arabien. Denn die Araber erhoben sich nicht, wie von Oppenheim vorgeschlagen und erhofft, in einem „Heiligen Krieg“ gegen England, sondern mit Lawrence gegen das Osmanische Reich, den Verbündeten Deutschlands. Dennoch trägt Max von Oppenheim bis heute den zweifelhaften arabischen Ehrentitel „Abu Jihad“, Vater des „Heiligen Krieges“.

Nur ein Mensch in seinem Widerspruch?

Oppenheim hat noch mehr dafür getan. Noch 1940 legte er, wie der Historiker Wolfgang Schwanitz schon vor Jahren nachgewiesen hat, eine zweite Denkschrift vor, die erneut den „Heiligen Krieg“ der Arabischen Nationalisten gegen England als Option Deutschlands zum Sieg im Nahen Osten zum Gegenstand hatte. Oppenheim stellte sich damit in den Dienst der Nationalsozialisten, vielleicht aus Patriotismus, vielleicht auch aus Angst, wer kann das wissen? Denn dass das Judentum, das schon sein Vater abgelegt hatte, und das ihn, den Sohn, dennoch verfolgte, längst selbst verfolgt wurde, kann ihm 1940, auf der Höhe der Macht Adolf Hitlers, nicht entgangen sein.

Der damals so sympathisch auftretende ältere Herr, der joviale Baron, der in herrlich germanistischem Englisch sein Tell-Halaf-Museum anpreist, und dessen legendärer, unerschütterlicher persönlicher Optimismus sogar die späte Auferstehung seiner zertrümmerten Sammlung vorausahnte, ist eine vieldeutige Gestalt, in der sich deutsche Geschichte und Schuld auf geradezu irrsinnige Weise bündeln. Diskriminierung gegen ein vergebliches jüdisches Bestreben nach Assimilierung und Anerkennung genauso wie persönliche Abenteuerlust, Forscherdrang, eine ambivalente und dennoch kritiklose Orientbegeisterung, größenwahnsinnige, imperiale Politik im Nahen Osten, deutsche Anstiftung zum islamistischen „Heiligen Krieg“, das herrliche Verdienst um wunderbare archäologische Funde. All das kulminiert und erstarrt in dem bestürzenden Leben Max von Oppenheims. Es blieb meine heiße Spur. Bleibend verunsichert, endlich angekommen im Kern der Konflikte, verließ ich die Ausstellung, die das alles nur andeutete, beinahe – wie ist das möglich? – ausschließlich die wissenschaftlichen Leistungen Oppenheims in den Vordergrund stellte, und begann zu lesen. Diese Verunsicherung über Max von Oppenheim scheint inzwischen – längst von den Ereignissen überholt – meine eigene geworden zu sein, die Verunsicherung Deutschlands, eines ganzen Kontinents.

Wenn eines Tages die wunderbare Sammlung Max von Oppenheims wieder auf der Berliner Museumsinsel zu besichtigen ist, dann freue ich mich darauf besonders, wenn keiner dieser im Rückblick so widersinnigen Aspekte seines reichen Lebens ausgeblendet wird.

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Martin Johannes Marhoff / 08.04.2018

Es gibt keine “Deutsche Schuld”! Auch für jeden Deutschen gilt die Unschuldsvermutung.

Gabriele Schulze / 08.04.2018

Danke für die sonntägliche Wissenszufuhr! Widersprüche aushalten ist in der Tat ein zivilisiertes Kerngeschäft.

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