Henryk M. Broder / 24.01.2016 / 09:27 / 4 / Seite ausdrucken

Tamara, bitte melden!

Ich will noch einmal auf die “Tagesthemen” vom 19.1. zurückkommen, nicht wegen der Ventilatoren aus dem schwäbischen Künzelsau, die inzwischen nach Polen ausreisen durften, sondern des Kommentars, oder, wie man in Köln sagt, wegen dem Kommentar, weil man sich an allem gewöhnt, auch an die forsche Ahnungslosigkeit der Tagesthemen-Kommentatoren.

Diesmal war Tamara Anthony an der Reihe, Fachfrau für “Arbeit und Soziales (Gewerkschaften), Finanzen, Gesundheit, Linkspartei”. Und Antisemitismus, seit sie “in einer Kneipe” in Hamburg “selbst erlebt (hat), wie weit der deutsche Antisemitismus in unserer Gesellschaft verwurzelt ist”. Genau genommen müsste es nicht “wie weit” sondern “wie tief” heißen, da ja von Wurzeln die Rede ist. Da es aber für Frau Anthony, die weder einen Davidstern um den Hals noch eine Kippa auf dem Kopf trägt, das erste Mal war, dass sie antisemitisch angemacht wurde, und das auch noch von einem “Anzugträger”, muss der Schock sehr tief gesessen oder die Überraschung sehr weit gereicht haben, hatte sie doch bis dahin angenommen, dass judenfeindliche Ressentiments “längst überwunden seien”. Werch ein Illtum! Kann schon mal passieren, wenn man/frau statt auf eine Al-Kuds-Demo in Berlin oder eine Veranstaltung mit Inge Höger und Annette Groth zu gehen, “eine Kneipe im schicksten Viertel Hamburgs” frequentiert.

Ich will aber auf etwas Anderes hinaus. Frau Anthony sagt, sie habe “Angst, dass diese Leute sich durch Pegida & Co nun auch noch bestärkt fühlen”. Das ist wirklich sehr weit hergeholt oder tief gegriffen. Ein fescher Hamburger “Anzugträger” soll sich durch “Pegida & Co” bestärkt fühlen? Durch das Pack, den Mob, den Abschaum, vor dem sogar Angela Merkel und Margot Käßmann gewarnt haben?

Nun kann man inzwischen über nichts in Deutschland reden, ohne sich von Pegida & Co zu distanzieren. Weil man sonst in den Verdacht gerät, für Pegida & Co zu sein, egal worum es geht. Wenn aber diese Bewegung so gefährlich ist, dann müsste es doch inzwischen eine Reihe von Ermittlungsverfahren und Urteilen wegen Volksverhetzung, Aufforderung zur Gewalt und ähnlicher Tatbestände geben. Ich habe deswegen unseren Justizminister, Heiko Maas, angeschrieben und ihn gebeten, mir mitzuteilen, wie viele solcher Ermittlungsverfahren derzeit geführt werden und wie viele Urteile gefällt wurden. Maas, der seinerseits keine Gelegenheit versäumt, die Pegida mit dem Gottseibeiuns gleichzusetzen, ließ mir durch einen seiner Sprecher mitteilen, er hätte von solchen Verfahren keine Kenntnis, ich sollte mich an die Länderjustizminister wenden.

Wie kann so etwas sein? Da tobt ein fremdenfeindlicher Mob jeden Montag durch Dresden (manchmal auch durch Leipzig und andere Städte), verbreitet Angst und Schrecken, lässt eine Schneise der Verwüstung zurück, dass es sogar den Autonomen aus Connewitz graust, und der Justizminister weiß nicht, ob und wie viele Ermittlungsverfahren/Urteile es gibt? Und das in einem Land, in dem alles statistisch erfasst wird, die Zahl der Autounfälle unter Alkoholeinfluss, das Durchschnittsalter der ZDF-Zuschauer und die Wahrscheinlichkeit, dass ein ICE keine Verspätung hat?

Wenn ich mich nicht sehr täusche, sind nur zwei Anzeigen wegen Volksverhetzung gestellt worden, gegen Pegida-Gründer Lutz Bachmann, der inzwischen auf eigene Rechnung unterwegs ist, und die Pegida-“Frontfrau” Tatjana Festerling. Aber reicht das, um einen “Generalverdacht” gegen die ganze Pegida zu rechtfertigen?

Wenn es Heiko Maas nicht weiß, dachte ich, dann müsste es Tamara Anthony wissen. Ich habe sie deswegen zweimal angeschrieben und höflich gebeten, mir zu sagen, worauf ihre Angst fusst, der Hamburger “Anzugträger” könnte sich durch “Pegida & Co” ermuntert fühlen. Sie hat nicht reagiert.

Ich nehme zu ihren Gunsten an, dass sie damit beschäftigt ist, sich in eine neue Studie zu vertiefen, in der das Phänomen Pegida recht differenziert mit vielen Einerseits-Andererseits dargestellt wird.

Was die Pegida-Demonstranten eint, sind «Ressentiments gegenüber Muslimen, Asylbewerbern, Ausländern sowie Hass- und Hetzreden, die sich gegen die politischen und medialen Eliten der Bundesrepublik richten». Gemäss der Dresdner Studie passt das Etikett «rechtsextrem» nicht auf Pegida. Diese operiert zwar mit Nationalismus und Chauvinismus sowie Fremden- und Islamfeindlichkeit. Pegida ist aber nicht zugleich antidemokratisch, diktaturaffin oder gar neo-nationalsozialistisch… Vielen Demonstranten gehe es auch nicht um die Reden, sondern um «eine Form ritueller Gemeinschaftsförderung». Die von Ohnmachtsgefühlen geplagten Pegida-Anhänger gingen an die Demonstrationen, «um sich zwei Stunden an der frischen Luft Erleichterung zu verschaffen». Das «montägliche Ritual» sei für sie wichtig geworden.

Für ein Verbotsverfahren dürfte das nicht reichen. Allenfalls für einen Kommentar in den Tagesthemen.

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Leserpost

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Ferdi Krüger / 26.01.2016

Man könnte noch hinzufügen, dass PEGIDA in den sog. “19 Punkten”, wenn man sie heute liest (und SELBST wenn man sie damals gelesen hätte) NICHTS Indiskutables oder gar BÖSES verlautbart hat.  Aber natürlich haben die Medien sich den LÜGENPRESSE- Vorhalt nicht gefallen lassen und Frau Merkel nicht das WIR SIND DAS VOLK wegnehmen lassen wollen. Mit aller Definitionsmacht und dem kompletten Arsenal der Rabulisten-Rhetorik wurde auf das Häuflein der Unverfrorenen eingedroschen! Man hat es damit auch größer und sogar relevant gemacht (AFD), OHNE es IM ANSATZ auch nur ernstzunehmen. Schüchterne Ansätze dazu konnte man höchsten 1x lesen. Wobei die überwiegende Mehrzahl der Menschen sich einfach nur verhetzen ließ, anders kann ich es nicht ausdrücken, wenn Freunde von mir sich mit allen Anzeichen des Abscheus geweigert haben, auch nur das Papier in die Hand zunehmen, auf welchem ich die 19 Punkte abgedruckt habe.

Rainer Franzolet / 26.01.2016

Nun ja, mir stellt sich bei dem Thema immer eine völlig andere Frage. Man kann überall nachlesen, das bei den Gegendemonstrationen gegen Pegida immer viel Randale gemacht wird. Ohne Gewalt geht das so gut wie nie vonstatten.  Übergriffe gegen AfD Leute, deren Autos werden abgefackelt, Büros verwüstet, Familien bedroht mittlerweile gibt es sogar Morddrohungen. Besonders hervor tut sich dabei die Antifa. Es gibt Gerüchte das ein Sohn von Herrn Maas da auch mit macht. Da der ältere aber erst 14 sein kann scheint mir das nicht glaubwürdig zu sein. Hinter der Antifa findet man aber vor allem Jusos, Grüne, Gewerkschaften. Lt. Wikipedia war her Maas ja selber Jusovorsitzender. Die Antifa treibt ja ihren Krawall auch schon länger. Welche Verbindungen bestehen denn da noch? Wieso diese Kuscheljustiz mit Krawallmachern bei der Antifa und die Hetze gegen Pegidaspaziergängern? Vielleicht könnte ja Herr Broder oder ein anderer Prominenter das mal thematisieren oder direkt nachfragen. Mir wird da sicherlich niemand eine Antwort geben. Höchstens eine Sperrung bei FB wäre wohl für mich drinn.

Hagen Boll / 25.01.2016

Ich muss hier als Hobbybotaniker widersprechen: “”..., wie weit der deutsche Antisemitismus in unserer Gesellschaft verwurzelt ist”. Genau genommen müsste es nicht “wie weit” sondern “wie tief” heißen, da ja von Wurzeln die Rede ist.” Bei Antisemiten handelt es sich IMMER um Flachwurzler, also in der Tat: “wie weit”.

Wolfgang Richter / 25.01.2016

Was ist von einer staatlichen Ordnung zu erwarten, in deren Wirkungsbereich -wie man gerade aus den Medien bezüglich einer gescheiterten Beraubung eines Geldtransporters entnehmen konnte- seit gut 20 Jahren u. a. 3 Noch- oder Ex-Terroristen der RAF offenbar unbehelligt von den diversen, angeblich effizient arbeitenden Sicherheitsbehörden durch sämtliche Verwaltungsnetze schlüpfen u. nachwievor guerillamäßig bewaffnet auf- u. abtauchen, um Straftaten zu begehen. In einer derart strukturierten staatlichen Unordnung kann man nicht erwarten, daß ein Bundesjustizminister über ein paar Demo-Straftaten Bescheid wissen könnte. Er muß vermutlich gerade an einer anderen Baustelle gerade heftigst relativieren. Insgesamt lassen die zuletzt öffentlich gewordenen Lapsus im Bereich “Öffentliche Sicherheit” im Hinblick auf den Stand der Sicherheit in Bezug auf Zuwanderung u. ggf. mit einreisenden “bösen Buben” (oder Damen) eher Ungutes erwarten.

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