Von Erik Lommatzsch.
Wenn dem Namen Thomas Dehler in der Öffentlichkeit in jüngerer Zeit überhaupt Präsenz zukam, dann höchstens im Zusammenhang mit der Bundesgeschäftsstelle der FDP, dem „Thomas-Dehler-Haus“. Das hat sich seit März dieses Jahres allerdings auch erledigt. Es erfolgte eine Umbenennung, Hans-Dietrich Genscher ist nunmehr Namenspatron. Dass Genscher in der Geschichte der Bundesrepublik vor allem durch seine lange Amtszeit als Außenminister eine nicht unerhebliche Rolle spielte, ist wohl schwer zu bestreiten. Mit dem Generationenwechsel – Genscher war gut dreißig Jahre jünger als Dehler – ist man aber wohl auch einen sperrigen Altliberalen losgeworden. Heute hätte er wohl Glück, wenn seine Verlautbarungen und die Ziele, für die er als Parlamentarier kämpfte (ja, kämpfte!) lediglich als „unzeitgemäß“ bezeichnet werden würden.
Der gebürtige Franke, Jahrgang 1897, wirkte als Rechtsanwalt in Bamberg. Politisch engagierte Dehler sich in der Zeit der Weimarer Republik in der linksliberal orientierten DDP. In der NS-Zeit stand er zu seiner jüdischen Ehefrau (die er damit vor der Deportation schützte) und betätigte sich in einer liberalen Widerstandsgruppe. Durch seinen Weg hatte er klar zum Ausdruck gebracht, auf welcher Position er selbst weltanschaulich stand. Später zeigt er sich, hier ganz Liberaler, wenig eifernd, wenn es um die juristische „Vergangenheitsbewältigung“ derer ging, die ab 1933 im Strom mitgeschwommen waren und sich nun, da zu besserer Einsicht gelangt, am Aufbau des demokratischen Gemeinwesens beteiligen wollten.
Ab 1946 führte er die bayerische FDP, von 1949 bis 1953 amtierte er als erster Justizminister der Bundesrepublik. Als Bundesvorsitzender seiner Partei und stellvertretender Bundestagspräsident fungierte er. Auch im eigenen Lager wurde Dehler wohl nicht immer als der einfachste Zeitgenosse empfunden. Leise Töne waren nicht so seine Art.
Dehler war zu Beginn der Meinung, dass Adenauer in erster Linie die deutsche Einheit im Blick habe. Den Kurs des Kanzlers hatte er zunächst unterstützt, auch dessen Zurückweisung der Avancen Stalins von 1952 als „Störmanöver“. Stalin hatte ein vereintes Deutschland unter der Bedingung der Neutralität angeboten – ein Angebot, dessen Zweck in der Geschichtswissenschaft nach wie vor umstritten ist. Adenauers Präferenzen lagen allerdings wohl von Anfang an anders als von Dehler vermutet. Der Kanzler hatte vor allem die Einbindung seines Teilstaates in das westliche Bündnissystem und die europäischen Strukturen im Blick. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges wurde schnell offensichtlich, dass sich das reale politische Handeln immer stärker von der – offiziell stets aufrecht erhaltenen – Einheitsrhetorik abkoppelte.
Auch in Europa bleiben die Staaten die Protagonisten
Die deutsche Einheit war Thomas Dehler – und hier unterschied er sich von Adenauer – ein Herzensanliegen. Die Differenz in dieser Frage war auch die eigentliche Ursache des Koalitionsbruchs von 1956. Bis an sein Lebensende sollte Dehler vehement immer wieder an die nationale Aufgabe mahnen. Dies tat er auch in Zeiten, als man die Angelegenheit – spätestens mit dem Mauerbau im August 1961 – sowohl in der Bundesrepublik als auch in der westlichen Hemisphäre weitgehend für erledigt erachtete und sich im Gegebenen einrichtete.
In seiner damals beinahe zur Legende gewordenen „Abrechnung“ mit Adenauer, dem er vorwarf, das Ziel der deutschen Einheit aufgegeben zu haben, führte Dehler im Januar 1958 im Bundestag aus: „Wie schlecht ist es schon um die deutsche Einheit bestellt! ... Ja ich möchte schon fragen: Ist das deutsche Volk, ist gerade auch das Volk der Bundesrepublik noch angerührt von dieser heiligen Aufgabe, die deutsche Einheit wieder herbeizuführen? ... Wenn nicht das deutsche Volk leidenschaftlich eine Einheit sein will, dann geben wir dieses nationale Ziel der deutschen Einheit auf!“
Der Vorstellung des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle eines „Europas der Vaterländer“ schloss sich Dehler an, er fügte sogar noch „das Vaterland zuerst!“ hinzu. Europa müsse seine Kräfte sammeln, „aber nicht in der Form des Aufgehens in konzentrierten Instanzen, in Bürokratien, sondern im organischen Zusammenwirken der Völker.“ Schon im Oktober 1953 hatte Dehler geäußert: „Das Gesetz, nach dem nun nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch in diesem Jahrhundert unsere Staaten angetreten sind, ist das Gesetz, daß die Menschen einer Geschichte, eines Volkes, einer gemeinsamen Sprache und Kultur zu ihrem Staate wollen. Auch im europäischen Verbande werden diese nationalen Staaten die politischen Protagonisten sein, und es wäre falsch, wenn man unserer Jugend als Surrogat eines echten Staatsgefühls den Gedanken Europa vor Augen stellen wollte.“
Zwischen Nationalismus, den er für überwunden erachtete, und dem Gedanken des Nationalen wusste Dehler zu unterscheiden, was damals wohl weniger erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig war als heute. Daher konnte er auch äußern: „Ein Volk, das sich nicht selbst bejaht, wird untergehen.“ Falls es während der Lektüre der Zitate in Vergessenheit geraten ist: Thomas Dehler war Zeit seines Lebens Liberaler.
Heute vor 50 Jahren, am 21. Juli 1967, ist er gestorben, drei Monate nach Adenauer, dem er zunächst politisch gefolgt war und den er dann auf das Heftigste bekämpfte. Er scheute sich dennoch nicht, dem ersten Nachkriegskanzler, der über lange Jahre sein Hauptgegner war, öffentlich staatsmännische Größe zuzugestehen. Auch diesbezüglich war Thomas Dehler offenbar ein Mann aus einer anderen Zeit.
Mehr über Thomas Dehler erfährt man bei: Rainer Zitelmann, Thomas Dehler: „Ein Volk, das sich nicht selbst bejaht, wird untergehen“, in: Ders., Adenauers Gegner. Streiter für die Einheit, Erlangen 1991, S. 115-148. Es handelt sich um einen pointierten Überblick, hier finden sich auch die in den Text aufgenommen Zitate sowie weitere. Noch viel mehr über Dehler liest man bei: Udo Wengst, Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München 1997.
Erik Lommatzsch ist Historiker und lebt in Leipzig.