Vera Lengsfeld / 06.10.2017 / 14:06 / Foto: Martin St-Amant / 12 / Seite ausdrucken

Sturmchaos? Nein, Totalversagen bei der Bahn

Die Bahn hatte mal den schönen Werbeslogan "Alle reden vom Wetter, wir nicht". Das war 1966. Inzwischen ist aus der Werbung Satire geworden. Gestern gab es in einigen Gebieten Norddeutschlands einen etwas stärkern Herbststurm. Wie viele Bahnstrecken durch umgefallene Bäume oder Äste in den Oberleitungen tatsächlich beeinträchtigt waren, müsste ein Untersuchungssausschuss feststellen. Weitaus schlimmer als der Sturm und seine unmittelbaren Schäden war das Totalversagen der Deutschen Bahn. Vorsorglich wurde der gesamte Zugverkehr in Nord- und Mitteldeutschland lahm gelegt. Noch schlimmer war, dass tausende Passagiere vom verhängten Zugstopp nicht informiert wurden. Ab 14.00 war gestern die Zufahrt nach Berlin weiträumig gesperrt. Um 17.12 Uhr stieg ich in Erfurt in den ICE nach Berlin. Es gab keinerlei Hinweis darauf, dass der Zug sein Ziel nicht erreichen konnte – und das drei Stunden nach der verhängten Sperrung!

Auch beim Stopp in Halle eine Stunde später wurden wir nicht gewarnt, zahlreiche Passagiere stiegen zu, obwohl der Zug nur 15 km hinter Halle auf freiem Feld angehalten wurde. Zwei Stunden später erlebten die Fahrgäste im ICE nach Berlin das Gleiche: Mit keinem Wort wurde in Erfurt, mittlerweile war die Sperrung schon fünf Stunden alt, gewarnt, dass man nicht ans Ziel kommen würde. Nur gab es diesmal in Halle eine Durchsage, dass es zu Verspätungen kommen könnte.

Auf der Bahn-App wurde erst eine Verspätung von 120, später von 200 Minuten angeben. Wer keine App hatte, erfuhr nichts. Stundenlang standen wir auf freiem Feld, ohne zu wissen, wie es weiter gehen würde. Nach zwei Stunden setzte der Lokführer den Zug zurück, so dass er im Bahnhof von Landsberg zum Stehen kam. Er öffnete die Zugtüren, so dass wenigstens die Möglichkeit bestand, auf dem Bahnsteig etwas frische Luft zu schnappen oder zu rauchen.

Zweimal kam der Hinweis, dass eventuell ein Regionalexpress hielte, der nach Halle fahren würde. Aber es wurde nicht gesagt, dass man den besser nehmen sollte. Also blieben die meisten Passagiere, wo sie waren. Gegen 22 Uhr, also nach vier Stunden, kam die Durchsage, dass der Zug zurück nach Halle fahren würde, nachdem die Fahrgäste des nachfolgenden ICE aufgenommen wären. Der stand schon längere Zeit auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig. Es dauerte trotzdem über eine halbe Stunde, ehe sich unser Zug in Bewegung setzte. Wir kamen erst kurz vor 23 Uhr in Halle an, als es keinerlei Anschlüsse mehr gab.

Ein ICE als „Hotelzug“ auf dem Bahnhof

Unser ICE sollte als „Hotelzug“ auf dem Bahnhof verbleiben. Ich hatte keine  Lust, die Nacht in einem rappelvollen Zug zu verbringen, wo die Zugtoiletten kaum noch benutzbar waren und begann sofort, nach einem Hotelzimmer zu suchen. Ich hatte Glück und bekam das letzte Zimmer im B&B am Hallorenring. Mit ein paar anderen Mitreisenden, gelangte ich auch problemlos dorthin. Wir waren sicher, am anderen Morgen weiterfahren zu können. Welch ein Irrtum!

Morgens um sechs Uhr galt mein erster Blick der Bahn-App. Die informierte mich, dass bis zum Mittag keine Züge nach Berlin fuhren. Aber der Sturm hatte doch längst aufgehört? Ich fuhr zum Bahnhof, wo ich kurz vor sieben Uhr ankam. Die Hoffnung, dass die Bahn über Nacht einen Notdienst für ihre gestrandeten Reisenden eingerichtet hätte, wurde enttäuscht. Ich musste mich in eine lange Schlange am Informationsschalter einreihen. Schließlich erfuhr ich, dass es Taxigutscheine für die Fahrt nach Berlin geben würde.

Leider seien aber gerade keine Taxis da. Ich hatte aber vor dem Bahnhof welche stehen sehen. Nein, man müsse auf einen Anruf von der Taxizentrale warten, erst dann könnten die Gutscheine ausgegeben werden. Ich solle mich solange gedulden. Dazu hatte ich keine Lust. Ich ging zum Taxifahrer, der als erster in einer kurzen Reihe stand und fragte ihn, ob er nach Berlin fahren würde. Als er bejahte, rief ich das laut aus und sofort waren drei weitere Passagiere vom Vorabend da, die mitkommen wollten. Endlich bekamen wir unseren Gutschein.

Die Fahrt nach Berlin verlief, abgesehen von den Baustellen-Staus, weitgehend problemlos. Als wir gegen 10.30 in der Hauptstadt ankamen, fuhr die S-Bahn aber immer noch nicht. Wir hatten ungeheure Sturmschäden erwartet, weil in Berlin der Notstand ausgerufen worden war. Allerdings konnten wir nichts dergleichen entdecken. Der Taxifahrer war so nett, mich an einer Bushaltestelle rauszulassen, von der ich meine Fahrt nach Hause antreten konnte. Auch der junge Mann, der mitgefahren war, konnte mit der U-Bahn sein Ziel erreichen. Unsere anderen beiden Mitreisenden wollten allerdings nach Rostock. Ob sie inzwischen wohl angekommen sind?

Nicht der Sturm, sondern menschliches Versagen hat die größten Schäden angerichtet. Wegen eines lokal begrenzten Sturms wurde das halbe Land kurzerhand lahmgelegt.Ich wwage mir gar nicht auszudenken, was los ist, wenn es wirklich einmal zu einem flächendeckenden Unwetter kommt. Was sagt das über unsere Infrastruktur aus, wenn sie nur noch bei schönem Wetter einigermaßen funktioniert?

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Gerhard Amrhein / 06.10.2017

Der Text sagt, denke ich, noch mehr über spezifisch deutsche Befindlichkeiten aus als über den sicherlich diskussionswürdigen Zustand der deutschen Infrastruktur. Derlei Ereignisse sind hierzulande ja gottlob ausgesprochen selten, was allerdings auch dazu führt, dass man nicht wirklich damit rechnet. Die Bahn mit ihrer - anders als dies etwa Frankreich oder Japan der Fall ist - eher kleinteiligen Struktur ist ein kompliziertes und fein abgestimmtes, im Problemfall aber auch schwer zu steuerndes Netzwerk. Wenn dann die dunklen Kiefernwälder des Märkischen Sandes auf Gleise und Leitungen fallen, wäre ausreichende Information wünschenswert - ist nicht passiert, hat halt irgendwo jemand gepennt. Kann passieren. Kann man sich drüber aufregen - man kann es allerdings auch bleiben lassen und mit Humor nehmen, die Bäume werden so oder so nicht von selber wegspazieren (ja, Frau Lengsfeld, die liegen auch noch da, wenn der Sturm schon weg ist; und eine Oberleitung ist auch eine Leitung - wenn der Baum im Brandenburgischen umgefallen ist und nach Berlin führt, wird da nichts geleitet, auch wenn die Autorin keinerlei Schäden entdeckt hat). Jedenfalls - sich etwa bei den Taxis vorzudrängeln, wäre etwa einem Briten nie im Leben eingefallen. Man kann das Eigeninitiative nennen, ich nenne es schlicht egoistisch. Von den Zugausfällen waren Hunderttausende betroffen, im Netz sind teils bezaubernde, teils banale Geschichten dazu zu lesen. In welche Kategorie diese fällt, möge jeder selbst entscheiden.

Winfried Sautter / 06.10.2017

Weitergedacht, kommen einem tatsächlich Horrorszenarien in den Sinn: Was etwa, wenn die fragile Infrastruktur der “erneuerbaren Energien” zusammenbricht? Dieselgeneratoren werden wir dann auch nicht mehr haben ...

Wolfgang Richter / 06.10.2017

Und munter treiben “Wir” die Modernisierung der Republik weiter, Glauben an das technisch Machbare von allem (trotz der floppenden Digitalisierungsversuche u. technischen Wunderwerke vom Schlage BER u.a.)  zur Rettung des Weltklimas gerade in Richtung mobiler Umrüstung auf das E-Vehikel. Man stelle sich vor, die Mehrheit der zuletzt von den diversen Hurrikanes betroffenen US-Amerikaner hätten die Evakuierungen von mehreren Millionen Bürgern mit ihren e-motorisierten Teslas bewältigen sollen, mit voran gestellten langen Wartezeiten für Batterieaufladung u, Nachladestopp an irgend einem Highway. Vermutlich hätte die göttliche Instanz, so sie für Gebete erreichbar gewesen wäre, sich erbarmen lassen, die Stürme zur Ermöglichung der erforderlichen Ladezeiten ein paar Ehrenrunden über dem großen Wasser drehen lassen, zur Vermeidung der längeren Stromausfallzeiten.

P. Hoffmann / 06.10.2017

Da kann ich nur voll + ganz zustimmen.

Frank Müller / 06.10.2017

Mein Eindruck, früher hatten wir mehr Leute die etwas konnten. Menschen also die von der Pike auf gelernt hatten. Diese Könner werden durch Experten ersetzt. Wir sind ein Land der Experten und Aktivisten. Können wird nicht mehr gebraucht. Der Experte kann ja im Nachhinein erklären was schief gelaufen ist. Hätten wir mehr Könner und Macher, dann wären die ganzen Experten wohl arbeitslos.

Andreas Vauh / 06.10.2017

als ELA 2014 übers Land fegte, endeten die Züge aus dem Sueden in Mannheim. bei der Weiterfahrt mit dem Taxi bemerkte man, dass es bis Koeln eigentlich ruhig war.,wäre der Zug bis Koeln durchgefahren, hätte man glatt 5 Stunden Verspaetung gespart… - so gesehen nichts Neues ...

Nadine Helmdach / 06.10.2017

Willkommen im Wunderland, das vor Experten nur so strotz. Wir sinken vom Mittelmaß ins…..., ja wohin eigentlich? Aber wir schaffen und beherrschen das - man muss nur ganz fest daran glauben und sehr viel schwarzen Humor haben, damit man diese Realität ertragen kann. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat - neue Überraschungen aller Art, nichts ist mehr unvorstellbar. Nun frage ich mich, was passiert bei einem Hurrikan oder anderen Katastrophen? 

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