Das anorganische Geschehen hat etwas Beruhigendes. Nichts auf der Welt vollzieht sich mit solcher Zuverlässigkeit wie das Ballett der Gestirne im All. Eine Sonnenfinsternis verspätet sich nicht, hat keine Launen und ihre Dauer steht im voraus fest. Anders als bei einer medizinischen Operation muß man auch nicht um den Ausgang bangen. Wir sind heute, dank wissenschaftlicher Aufklärung, ein paar Ängste los. Doch sie kehren durch den Hintereingang wieder. Jetzt sind es die Sorgen um die Stromversorgung und ums Augenlicht, die das Fieber in die Köpfe bringen.
Bei den Schutzbrillen ließ sich das Fieber in Euro messen. Als die 20-Cent-Objekte aus Pappe und Folie letzte Woche knapp zu werden begannen, stieg ihr Preis – um im Bild zu bleiben – astronomisch. Erst ein Euro, dann zwei, dann acht, zum Schluß wurden im Internethandel 29 Euro pro Stück verlangt. Hauptzielgruppe waren natürlich die Schulkinder, und da es den staatlichen Schulen in Deutschland nicht möglich ist, die Versorgung zum Billigtarif durch Großeinkauf sicherzustellen, führte die unterschiedliche Ausstattung der Einzelnen zu zweifellos lehrreichen sozialen Verwerfungen in den Klassen.
So geht Erlebnispädagogik, aber sie ging noch weiter. In manchen Schulen grassierte eine solche Gefährdungshysterie, daß die Kinder in den Klassenräumen bleiben mußten, zum Teil mit geschlossenen Gardinen. Allenfalls durften sie auf Computerbildschirmen einen Internetstream des Himmelsspektakels verfolgen, was am Tag eins nach Böhmermann die medienkritische Kompetenz nicht gerade erhöht. Es gibt wohl weniges, was so sehr nach eigenem Augenschein verlangt, wie das Strahlen der Sonne – diese mythenstiftende innere Verbindung hat schon Platon postuliert und Goethe in den berühmten Vers gekleidet: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / die Sonne könnt‘ es nie erblicken“.
Die Sonne, die in den meisten Kulturen männlich gedacht und bezeichnet wird, ist das Energiezentrum, die Batterie unseres Daseins. Der Sonnengott verkörpert die Vorstellung von Allmacht, von gigantischer, gewaltiger Aktivität. Es gibt scheinbar nichts, was stärker wäre und dieser Aktivität wirksam entgegenstünde. Doch: Wasserdampf. Die wahren Gegenspieler der Sonne sind nicht Mond, Erde oder sonst welche Sterne, sondern die Wolken. Das wattige Nichts besiegt die stärksten Kräfte: in dieser Naturtatsache spiegelt sich viel Lebenserfahrung.
Und im Gegensatz zur Präzision des Sonnenlaufs lernen wir mit jeder Wetterprognose, wie unfaßbar und unberechenbar der Wolkenzug nach wie vor ist. Heute hat das mancherorts für Frustration gesorgt: Shades of grey, anstatt Eclipse-Ekstase. Übrigens hat sich auch der religiöse Streit von einst um das Mobilitätsverhältnis von Sonne und Erde inzwischen auf das Gebiet des Wasserdampfs verlagert. Die ganze Klimadebatte dreht sich im wesentlichen um die Wirkungen von Wolken. Und die alte Furcht vor Finsternissen trägt mittlerweile Namen wie Temperaturanstieg und Treibhausgase.