Fällt Belgien einmal auf, dann negativ. Warum gibt es das Land eigentlich? Und existiert es überhaupt noch?
Jedes europäische Land ist ja ein Sonderfall, das eine mehr, das andere weniger. Belgien, um ein Viertel kleiner als die Schweiz und mit beinahe elf Millionen Einwohnern voll wie ein Ei, ist so gesehen ein Sonderling unter Sonderlingen: Dass die islamistischen Schurken, die vorvergangene Woche Paris heimsuchten, ihre Taten im Brüsseler Quartier Molenbeek planten, dass Brüssel selbst sich wegen Terrorgefahr seit Tagen im Ausnahmezustand befindet, all das schreiben Beobachter der Schwäche des belgischen Staates zu: Einen «gescheiterten Staat» («failed state») nannte das Onlinemagazin politico.eu das Königreich und wählte damit ein Wort, das die angelsächsische Politikwissenschaft für Staaten wie Somalia oder Afghanistan geprägt hat. Frankreich müsse Molenbeek bombardieren, nicht das syrische Raqqa, liess sich passend dazu der französische Journalist Eric Zemmour vernehmen.
Wer Belgien begreifen will, muss mindestens bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückgehen: Damals erhoben sich die Niederländer unter ihrem Statthalter Wilhelm von Oranien gegen ihren Herrn, König Philipp II. von Spanien. Philipp war Habsburger und Katholik, die Bewohner der nördlichen Niederlande waren Calvinisten.
Die Niederländer im Süden, wo später Belgien entstehen sollte, waren dagegen katholisch und entschlossen, dies auch zu bleiben. Also blieb der Süden habsburgisch, die Niederlande wurden geteilt. Daran sollte sich bis 1815 nichts ändern, als Europas Herrscher auf dem Wiener Kongress die Ländereien des geschlagenen Napoleon unter sich aufteilten: Das Gebiet des heutigen Belgien kam damals von Frankreich zurück an die Niederlande.
Den Generalstaaten, wie sich die vereinigten Niederlande nun nannten, sollte indes kein langes Leben beschieden sein. 1830 erhoben sich die Pariser in ihrer Julirevolution gegen Karl X. Brüssel, wo man schon damals gern nach Paris blickte, zog alsbald nach: Am 4. Oktober wurde das Königreich Belgien proklamiert; den Namen für das neue staatliche Gebilde, das es in diesen Grenzen noch nie gegeben hatte, entnahm man Caesars «Gallischem Krieg».
So kühn, dass sie eine Republik gegründet hätten, waren die revolutionären Belgier allerdings nicht, weswegen rasch ein König hermusste. Die Wahl fiel wie immer, wenn im 19. Jahrhundert ein neues Königreich entstand, auf einen deutschen Fürsten, in diesem Fall auf Leopold von Sachsen-Coburg-Gotha. Dessen Familie galt als anglophil, was insofern praktisch war, als es dem jungen Belgien die Unterstützung Grossbritanniens sicherte. London war vor allem an einem interessiert: dass Belgien nie mehr französisch würde.
Karl Marx, der damals im Brüsseler Exil lebte, erklärte sich Belgiens Raison d’Etre auf seine Weise: Er sah das Land als genuines Geschöpf des Kapitalismus, geschaffen von frankophonen Grossindustriellen – zum eigenen Nutzen und dem der Antwerpener Kaufmannschaft. Eine Erklärung, die nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch war: Tatsächlich war es ein sehr ungewöhnliches Bündnis, das Belgien erfand und aufbaute, nämlich Liberale und Katholiken, eine Allianz von Bürgertum, Soutane und Geldsack.
Wirtschaftlich gesehen erwies sich die Neugründung zunächst einmal als grosse Erfolgsgeschichte. Der Bergbau machte die südliche, frankophone Wallonie reich, während in Flandern die Textilindustrie boomte. Bald schon war Belgien nach Grossbritannien der am stärksten industrialisierte Staat Europas; sein Eisenbahnnetz avancierte zum engmaschigsten der Welt.
Dass sich das kleine Land den europäischen Kolonialmächten zugesellte, hatte ebenfalls wirtschaftliche Gründe: König Leopold II. meinte, die Rohstoffe des Kongo seien genau das, was die belgische Industrie gebrauchen könne. Eine hehre zivilisatorische Mission, wie sie sich die übrigen Kolonialmächte wenigstens pro forma auf ihre Fahnen schrieben, interessierte ihn nicht.
Seine Landsleute standen dem afrikanischen Abenteuer skeptisch gegenüber. «Ein kleines Land mit kleinen Menschen», fluchte Leopold und kaufte sich den Kongo 1885 kurzerhand selber, als königliches Privateigentum. Erst 1909 übernahm der belgische Staat die Kolonie. Zehn Jahre zuvor hatte Joseph Conrad die Zustände im Kongo derart plastisch geschildert, dass die Weltöffentlichkeit schockiert war. Der Name seiner Erzählung hat sich längst für immer ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: «Herz der Finsternis».
Wie Kolonialherren traten manche Belgier auch im eigenen Land auf, obwohl das, was die frankophone Oberschicht den niederländischsprachigen Flamen antat, natürlich nicht im Entferntesten dem nahekam, was die Kongolesen unter belgischer Herrschaft erleiden mussten. Arroganz, Desinteresse und mangelndes Fingerspitzengefühl prägten gleichwohl auch hier das Handeln der Mächtigen; die Verletzungen, die damals entstanden, sind bis heute nicht vollständig verheilt.
Niederländisch war im jungen Belgien die Sprache der Bauern, Französisch diejenige der Politiker, Professoren und Wirtschaftskapitäne. Wer nicht Französisch sprach, stiess auf seinem Karriereweg schon frühzeitig an eine gläserne Decke. Erst 1888, fast 60 Jahre nach der Gründung des Landes, wurde die Sprache der Mehrheit derjenigen der Minderheit offiziell gleichgestellt. Doch die Diskriminierung blieb. Ihre Folgen konnten im Extremfall tödlich sein: Im Ersten Weltkrieg marschierten flämische Soldaten in den Tod, weil sie die Befehle frankophoner Offiziere nicht richtig verstanden.
Später, im Zweiten Weltkrieg, paktierten manche Flamen mit dem Teufel, so verhasst waren ihnen ihre südlichen Landsleute: Als im Mai 1940 die deutsche Wehrmacht in Belgien einmarschierte, gab es in Flandern gleich zwei Gruppierungen, die um die Gunst der Besatzer wetteiferten: De Vlag und der Flämisch-Nationale Verbund. Dem flämischen Nationalismus verschaffte dies einen üblen Leumund, der teilweise bis in die Gegenwart nachwirkt.
Gelegentlich wird Belgien mit der Schweiz verglichen: ein relativ kleines Land, in dem zwei grössere und eine kleinere Sprachgruppe (im Fall Belgiens sind dies die Deutschsprachigen im Osten) zusammenleben. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten auch schon erschöpft. Die Schweiz ist von unten her entstanden, aus dem Verbund der Städte, Gemeinden und Talschaften, während in Belgien ein Zentralstaat von oben her aufoktroyiert wurde.
Entsprechend fehlt Belgien eine Identifikationsebene, die in der Schweiz vorhanden ist, nämlich die der Kantone. Ein Schweizer kann gleichzeitig Genfer und Romand oder Berner und Deutschschweizer sein, während ein Belgier entweder Flame oder Wallone ist und nichts als das. Diese exklusive Konzentration auf die Sprachgruppe machte es den Belgiern schwer, sich zusätzlich auch noch als Belgier zu fühlen. «Sire, il n’y a pas des Belges», «es gibt keine Belgier», erklärte der wallonische Sozialist Jules Destrée bereits 1912 König Albert I.
Vielleicht ist nichts schrecklicher als die Rachegelüste dessen, der aus der Position des Unterdrückten in diejenige des Stärkeren gelangt ist. Und genau dies geschah in Belgien spätestens seit den Achtzigerjahren: Wie fast überall in Westeuropa begann auch in der Wallonie der Bergbau zum staatlich subventionierten Zuschussgeschäft zu werden, während das bisher eher ländlich geprägte Flandern einen industriellen Aufschwung erlebte.
Heute fühlt sich Belgien für einen flämischen Patrioten so an: Er zahlt den Nachfahren derer, die seine Vorfahren einst kujonierten, ihre Rechnungen. So etwas wie Anerkennung oder Respekt darf er dafür nicht erwarten: Wallonische Politiker, die sich die Mühe machen, Niederländisch zu lernen, sind an einer Hand abzuzählen. «Wenn der Bauer aufs Ross kommt…», dürfte umgekehrt mancher Wallone mit Blick auf die immer unduldsamer auftretenden Flamen seufzen.
Die zahlreichen Staatsreformen seit den Sechzigerjahren, die Belgien föderalisieren und den Sprachenstreit damit entschärfen sollten, erwiesen sich als ein endloses Herumdoktern an den Symptomen. Dem aufstrebenden Flandern tat das Mehr an Selbstbestimmung gut, die Wallonie begann, mehr und mehr vor sich hinzusiechen.
Der Nationalstaat wurde unterdessen zu einer leeren Hülle. Belgisch sind heute eigentlich nur noch das Königshaus und die Fussball-Nationalmannschaft. Selbst belgische Premierminister verstehen sich mittlerweile eher als Interessenvertreter ihrer jeweiligen Sprachgruppe: Der Flame Yves Leterme, Premier von 2009 bis 2011, war während seiner Regierungszeit vor allem damit beschäftigt, mehr Kompetenzen für Flandern zu fordern. Als wallonische Fernsehjournalisten ihn aufforderten, die belgische Hymne zu singen, stimmte er die Marseillaise an.
Vielleicht, so mag er sich dabei gedacht haben, gibt es Belgien ja schon gar nicht mehr.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung