Chaim Noll / 24.03.2015 / 07:00 / 5 / Seite ausdrucken

Sharia und Smartphone: Islamischer Aktivismus als Reflexion westlicher Muster

Von Chaim Noll

Dieser Tage über die Entwicklungen im Mittleren Osten verbindliche Aussagen zu versuchen, ist eine undankbare Aufgabe. Selbst die „Islam-Kenner“ und „Nahost-Experten“ an deutschen Universitäten und Instituten, die Michael Lüders und Udo Steinbach, früher nicht zögerlich mit euphorischen Prognosen über Möglichkeiten am Golf oder am Bosporus, gestehen ein, dass die Situation chaotisch und kaum noch kalkulierbar ist. Nachdem der westliche Denkansatz vieler Experten Jahrzehnte lang auf das postkoloniale Schema fixiert war – um ihre Emanzipation bemühte „junge Nationalstaaten“ im Konflikt mit dem sie bedrohenden westlichen Imperialismus (verkörpert in erster Linie durch die Vereinigten Staaten und Israel) – hat man mit einiger Verspätung das neue Paradigma angenommen, wonach die Konflikte der Region vor allem auf inner-islamische Interessengegensätze zurückzuführen sind.

Innere Spannungen, Zerwürfnisse und Kriege haben den Islam von Anbeginn an gekennzeichnet, seit sich diese Bewegung im siebenten und achten Jahrhundert flutwellenartig über den Mittleren Osten, Teile Asiens, Afrikas und Europas ausbreitete. Das erste Zerwürfnis schon in der Basis, entstanden im siebten Jahrhundert aus dem Nachfolgestreit um das Amt des ersten Kalifen, im Laufe der Zeit zu einem – theologisch nicht mehr zu heilenden – religiösen Schisma vertieft: der Bruch zwischen Shiiten und Sunniten. Diese beiden Lager stehen sich auch heute als Hauptkräfte der islamischen Sphäre gegenüber, auf der einen Seite der shiitische Iran mit seinen Satelliten, auf der anderen Saudi-Arabien und die sunnitischen Golf-Staaten mit ihrer Anhängerschaft. Beide Seiten rüsten in bisher unbekanntem Ausmaß militärisch auf, selbst winzige Staaten wie Katar oder Abu Dhabi versehen sich mit Jagdflieger-Geschwadern und Panzertruppen. Das sunnitische Lager ist in sich wiederum vielfach gespalten, durch religiöse wie politische Unvereinbarkeiten. Bekannt ist die tiefe Aversion des wahabitischen Hauses Saud gegen die salafistischen Muslim-Brüder, die durch zunehmenden Einfluss Saudi-Arabiens auf Ägypten zum Sturz der dortigen Muslim-Brüder führte, obwohl diese zuvor durch Wahlen zur Macht gelangt waren. Aus eher wirtschaftspolitischen Erwägungen versucht der reiche Zwergstaat Katar einen Sonderweg zwischen den beiden Blöcken (in einer überraschenden Allianz mit der Türkei), der ernsthafte Spannungen mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Emiraten auslöst, neuerdings bewaffnete Konflikte, ausgetragen über Stellvertreter und an Tausende Kilometer entfernten Orten: In Libyen kämpfen derzeit die von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützten Milizen aus Sintan westlich der Hauptstadt Tripolis gegen die von Katar bezahlten Rebellen aus Misrata. Katar gilt auch als Sponsor der al-Nusra-Front im Irak und in Syrien, die kürzlich von den Emiraten zur „Terror-Organisation“ erklärt wurde (wie mehrere Dutzend andere, meist sunnitische Organisationen, darunter „Islamischer Staat“ und Muslimbrüder), begleitet von Ankündigungen, sie mit aller Macht zu bekämpfen. 

Shiiten und Sunniten sind jedoch bei weiten nicht die einzigen religiösen Fraktionen, in die der Islam aufgespalten ist, es gibt zahlreiche Minderheiten, zum Teil in Millionenstärke und in einzelnen Ländern von beträchtlichem Einfluss, wie Alawiten, Aleviten, Ahmadiya, Ibaditen, Drusen, Jesiden, Bahai und andere, wobei einige dieser Richtungen von anderen nicht als Muslime anerkannt und aus diesem Grund gewaltsam verfolgt werden. Selbst Richtungen, die man in Europa unter summarischen Begriffen zusammenfasst wie „Salafismus“, sind in sich in zahlreiche, in religiöser Intransigenz erstarrte Gruppen gespalten, die einander erbarmungslos bekämpfen. Da die Islamisierung des Mittleren Ostens zunimmt und sich jede Fraktion in den ihr eigenen Fanatismus hineinsteigert, nimmt auch die Erbitterung zu, in der Staaten und kämpfende Milizen gegeneinander Krieg führen.

Eine weitere Ursache für die permanente Unruhe in der islamischen Sphäre sind die ethnischen Spannungen zwischen den zahlreichen Völkern, die der Islam zwar auf seine Weise zusammenklammert, aber untereinander nicht befrieden kann. Schon in der Abbasiden-Zeit, im späten achten Jahrhundert, entstand die Shuubija, das Drängen der Völker, die der Islam eroberte, gegen die eigentlichen Erfinder der Bewegung, die Araber. Deren Bedeutung und Ansehen sank, je mehr sich das Reich ausbreitete. Perser, Türken, nordafrikanische Berber, Mongolen und andere Nicht-Araber, die sich die islamische „Umma“ einverleibte, strebten innerhalb des Völkergemischs nach Macht und Einfluss. Zwar predigte Mohammed auf seiner Abschiedswallfahrt die „Gleichheit aller Gläubigen“, doch in Wahrheit vertieften sich durch die Jahrhunderte die Traditionen gegenseitiger Verachtung, wie der Islam-Forscher Ignaz Goldziher in seinen „Mohammedanischen Studien“ mit zahlreichen Zitaten aus dem Sprichwortschatz muslimischer Völker belegt (so galten Araber türkischen Autoren als „heulende Wölfe und schweifendes Gewild, einander gegenseitig aufzehrend und in ewigem Kampf gegeneinander begriffen“) oder die europäischen Mekka-Reisenden Johann Ludwig Burckhardt und Richard F. Burton aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert überliefern (beide berichten, die Bewohner Mekkas hätten über Jahrhunderte im arabischen Raum das Gerücht genährt, persische Pilger beschmutzten und desekrierten den heiligen Kaaba-Stein). Im türkisch-osmanischen Reich wurden die arabischen Stämme verächtlich und schlecht behandelt („Die Araber sind in dem türkischen Vielvölkergebilde zerlumpte Untertanen und bleiben es bis ins frühe 20. Jahrhundert“, schreibt der Schweizer Islamwissenschaftler Thomas Widmer), daher nahmen sie im Ersten Weltkrieg die Partei der Briten und vertrieben gemeinsam mit ihnen die türkischen Glaubensbrüder von der arabischen Halbinsel.

Wie wenig der Islam imstande ist, multi-ethnische Bevölkerungen in der gerade von Muslimen oft beschworenen „Würde“ und Gleichberechtigung leben zu lassen, zeigen die Beispiele Syrien und Irak. Nur mit blutiger Gewalt konnten die lange vom Westen tolerierten Regimes der Baath-Partei die inneren Spannungen unter den disharmonierenden Populationen unterdrücken. Beide Staaten waren Resultate des Ersten Weltkriegs, der mit der Zerschlagung des letzten islamischen Großreiches geendet hatte, des osmanischen, beide Kreationen des Völkerbunds und der San-Remo-Konferenz, mit willkürlichen, auf dem Reißbrett gezogenen Grenzen, konstruiert nach dem Vorbild europäischer Nationalstaaten, von den Mandatsmächten Großbritannien und Frankreich in diesem Sinne entwickelt. Also klassische „Entwicklungsländer“ oder, wie man diese Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts gern nannte, „junge Nationalstaaten“. Nur dass es sich bei „Irakern“ und „Syrern“ nicht um Nationen oder Völker handelte, sondern um komplizierte Multi-Ethnien. Auf dem Gebiet des Staates Irak leben vor allem Sunniten, Shiiten und Kurden, meist in getrennten Bezirken und Jahrhunderte alter Abgrenzung, auf dem Gebiet Syriens ist die Bevölkerung noch heterogener, auch religiös zersplitterter, mit einer sunnitischen Mehrheit und zahlreichen Minderheiten, Alawiten, Kurden, Armeniern, christlichen Aramäern und Assyrern, Turkmenen, Tscherkessen, ferner einigen hunderttausend palästinensischen Flüchtlingen (die, wie in den meisten arabischen Ländern, bis heute in provisorischen Lagern leben und niemals gesellschaftlich integriert wurden). Die alawitische Minderheit kontrolliert den strategisch wichtigen Küstenstreifen und ist bei der sunnitischen Mehrheit besonders verhasst, weil ihr der Diktator Assad und der herrschende Offiziers-Klüngel entstammen. In beiden Ländern konnte das Phantasma „Nationalstaat“ immer nur durch brutale Unterdrückung großer Bevölkerungsteile aufrecht erhalten werden, mit westlicher Unterstützung, um die fragilen, fragwürdigen Gebilde als Wirtschafts- und Investitionsräume halbwegs intakt zu halten. Im Grunde sind die meisten muslimischen Staaten nur in der Außenwahrnehmung Staaten in unserem Sinne, von innen, von den unterdrückten Völkern, werden sie weitgehend weder so wahrgenommen noch anerkannt. Die populäre Abkehr vom Konzept „Staat“ und die gleichzeitige Rückkehr zu den in der Region seit Jahrhunderten überlieferten Kampf- und Herrschaftsstrukturen war eine Frage der Zeit.

Das inner-islamische Chaos erzeugt neue Kampfgruppen, Fronten und Allianzen, denen zu folgen größte Aufmerksamkeit und Kenntnis der Region erfordert und die sich nicht selten, ehe man sie im Westen wahrgenommen und ihre Motive und Hintergründe verstanden hat, bereits wieder auflösen. Insgesamt ist ein Prozess der Fragmentierung zu beobachten, der zunächst den Eindruck von Beweglichkeit erweckte. Westliche Beobachter sind geneigt – aus den Erfahrungen ihres Lebens in demokratischen Gesellschaften –, in Bewegung etwas Lebendiges, Erneuerung und positive Veränderung Evozierendes zu sehen (wie sich etwa in der kurzsichtigen Begeisterung westlicher Medien und Nahost-Experten bei Ausbruch des sogenannten „Arabischen Frühlings“ zeigte), doch es gibt Bewegungen, die ins Nichts führen, Bewegungen der Auflösung und des Zerfalls. Auch in einem Kadaver ist Leben, zeitweise sehr aktives. Die Auflösung und Demolierung von Staaten ist oftmals mit Bildern von beeindruckendem Aktivismus und hochfliegender Erregung verbunden. Doch am Ende bleiben Trümmerlandschaften zurück, in denen menschliches Leben fürs erste nur noch schwer möglich ist.

Der Prozess der Fragmentierung bedeutet nicht nur die Auflösung bisher bestehender Staaten (wie Irak, Syrien, Libyen), die territorial und strukturell zerfallen, ihre Grenzen verlieren, ihre Infrastruktur einbüßen, wirtschaftlich ruiniert werden, keine Sicherheiten und Garantien für bisher verbindliche Verträge und Abkommen mehr gewähren können etc. Im weiteren Verlauf erfasst die Fragmentierung auch die neuen Organisationen und kämpfenden Milizen, die sich zunächst als Kräfte des Aufbruchs gerieren, dann aber ebenso unbarmherzig inneren Brüchen und Sezessionen zum Opfer fallen. Aus al-Qaida spaltete sich al-Nusra ab, aus dieser wiederum der „Islamische Staat“, und auch er wird vom Prozess der Fragmentierung, der ihn hervorbrachte, wachsen und furchterregend werden ließ, am Ende nicht verschont bleiben, sondern von inneren Kämpfen und Spaltungen geschwächt werden, von der unaufhaltsamen Zerrissenheit, die den gesamten Vorgang des islamischen „Aufbruchs“ charakterisiert.

Was nicht ausschließt, dass die neu entstehenden Gruppen, Fronten, Organisationen und Milizen trotz aller blutigen Rivalität bei Gelegenheit gegen Dritte, vor allem gegen pro-westliche Kräfte kooperieren, in oft schwer durchschaubaren Zweck-Allianzen und zeitweiligen Absprachen, die den Vorgang noch unübersichtlicher machen. Solche Zweck-Bündnisse sind alte arabische Tradition, genannt Tahaluf, ein System des Beistands unter verfeindeten Stämmen, das schon Mohammed zu überwinden suchte (denn von nun an sollten, geeint unter dem Banner des gemeinsamen Glaubenskampfes, die Rivalitäten und Bündnisse unter den Stämmen gegenstandslos sein: la hilfa fi l-islam, keine Schwur-Gemeinschaften mehr außer dem Islam selbst). Eine Kulturleistung, die der Islam zwar angestrebt, aber nicht erbracht hat: die Struktur der muslimischen Gesellschaften blieb tribalistisch. Sie basiert bis heute auf dem Prinzip der Stammeszugehörigkeit, der Klientel-Wirtschaft, Blutsbande und gewalttätigen Bündnisse. Worin, neben den vorerwähnten Gründen religiöses Schisma und ethnische Spannungen, eine dritte Ursache permanenter inner-islamischer Zerrissenheit besteht. Selbst dort, wo weder Brüche in der Glaubensauffassung noch die Disharmonie zwischen unverträglichen Ethnien zu Gewalt und inneren Kämpfen führen, sorgen die Rivalitäten unter den Stämmen dafür, ihre oftmals über Jahrhunderte überlieferten Feindschaften und Blutfehden. Wie heute in Libyen, wo nach dem Sturz des Mubarak-Regimes die verfeindeten Clans ihre alten Stammeskriege wiederaufgenommen haben, jeweils unterstützt von Geldgebern aus den reichen islamischen Staaten und anderswo.

Womit auch der vierte Grund der inner-islamischen Zerrissenheit erwähnt wäre: die Spaltung der „arabischen Gemeinschaft“ in extrem reiche und extrem arme Staaten, entstanden vor allem auf Grund der ungleichen Verteilung der Öl- und Gasvorkommen, auf die sich der Beitrag dieser Länder zur Weltwirtschaft bis heute beschränkt. Im Grunde handelt es sich bei der heutigen „arabischen Welt“ um eine aufgeblasene Monokultur mit einem – wie auch muslimische Kritiker feststellen – extrem geringfügigen Beitrag zur weiteren Kulturentwicklung der Menschheit oder deren dringlichen Problemlösungen, so gesehen eine parasitäre Staatengruppe. Dabei entwickeln die öl- und gasreichen Staaten wie Saudi Arabien, Iran, Katar oder die Vereinigten Emirate zunehmend imperialistische Ambitionen, indem sie sich Satelliten und Stellvertreter unter den ärmeren Staaten und kämpfenden Milizen kaufen und mit diesen lokale Kriege oder Aufstände auslösen. (Die Idee einer Destabilisierung des Gegners durch islamische Revolten wurde zuerst vom deutschen Baron Max von Oppenheim entwickelt, einem Beamten des kaiserlichen Auswärtigen Amtes, der durch instigierte Aufstände, einen sogenannten „künstlichen Jihad“, die Engländer aus dem arabischen Raum zu vertreiben hoffte – Ironie der Geschichte war, dass dieser Vorgang zwar in Gang kam, doch in genau entgegengesetzter Richtung: die rebellierenden arabischen Stämme schlugen sich auf Seite der Briten und besiegten gemeinsam mit diesen die Türkei, Deutschlands Verbündeten.) Es gehört zu den Risiken dieser Politik, dass militante Gruppen sich nach einem gewissen eigenen Machtzuwachs gegen ihre früheren Paten und Geldgeber wenden wie etwa der „Islamische Staat“ gegen die Golf-Emirate und Saudi-Arabien, doch solche „Unfälle“ werden weiteres Engagement im Sinne eines islamischen Imperialismus nicht hindern, im Gegenteil, die Kämpfe der reichen muslimischen Staaten um Dominanz in der „islamischen Welt“ haben wahrscheinlich erst begonnen.

Aus all diesen Gründen wird die Destrukturierung der bisherigen islamischen Staaten weiter zunehmen, auch dort, wo der Vorgang nicht bis zum völligen Zerfall des Staates führt wie derzeit in Syrien. Vor allem die jugendliche Bevölkerung dieser Länder (die in etlichen von ihnen auf Grund der demographischen Verhältnisse dominiert) reagiert auf den völligen Wegfall der ohnehin nie sehr ausgeprägten Rechtssicherheit und staatlichen Präsenz mit der Improvisation eigener Entwürfe. Diese Entwürfe werden der islamischen Phantasie- und Gedankenwelt entnommen, in gewagter, radikaler Auslegung des religiösen Fundus von Koran, Sunna, Hadith etc., unter drastischer Anwendung gerade solcher Glaubensgesetze, die mit der Moderne und dem heute weltweit verbreiteten Konsens unvereinbar sind. Gruppen dieser Art bieten sich selbst feil auf dem neu entstehenden Markt islamischer Söldner-Milizen. Sie achten dabei auf eine dramatische Selbstdarstellung. Längst haben sie verstanden, dass in der Welt der neuen Medien der Wert einer Sache ihr Show-Wert ist. Je schockierender, verabscheuungswürdiger nach Maßstäben westlichen Denkens und Fühlens ihr Vorgehen, umso größer der Erfolg – soweit meinen die jungen Glaubenskämpfer die Mysterien der Mediengesellschaft durchschaut zu haben.

Mit Leichtigkeit bedienen sie sich zur Durchsetzung und Verbreitung ihrer anti-westlichen Botschaften moderner westlicher Mittel. Die jugendlichen Kämpfer des „Islamischen Staates“ betrachten das Smartphone als ebenso wichtige Waffe wie das Sturmgewehr, konstatierte kürzlich die amerikanische Terror-Expertin Rita Katz. Sie nutzen seine im Westen entwickelten technischen Möglichkeiten für die Rekrutierung neuer Kämpfer gegen den Westen, indem sie über die „sozialen Netzwerke“ Facebook und Twitter, wie in diesen üblich, global gespannte, dabei pseudo-persönliche Verbindungen knüpfen. „Einige twittern bis in den Tod“, erklärte Beobachterin Katz einer deutschen Tageszeitung. Dieser Ansatz einer Grenzüberwindung und Einbeziehung des „Fremden“ in den eigenen vertraulichen Bereich ist für das traditionelle, in Strukturen der Segregation befangene islamische Denken neu. Er scheint symptomatisch für das in sich ambivalente Gemisch aus islamischem Radikalismus und westlicher Internet-Intimität, das die kämpfenden Jugendgruppen zusammenbrauen.

Zunächst hat es den Anschein, diese Kombination sei für die neuen Jihadisten nur von Vorteil. Der scheinbar persönliche Angang via Facebook und Twitter penetriert die Systeme der Verteidigung und Vorkehrung westlicher Staaten und gewinnt dem „Islamischen Staat“ zunehmend Anhänger unter ihren Bürgern – europäische Länder melden Hunderte bis Tausende Jugendliche, die sich auf die Reise machen, um am blutigen Abenteuer „Islamischer Staat“ teilzunehmen. Der Zustrom jugendlicher Rekruten erfolgt weltweit, aus Nordamerika und Europa wie aus Asien, zurecht spricht man von einem „globalen Jihad“. Oder von einer, wie ein israelischer Journalist, den Sprachgewohnheiten seines Mediums folgend, den Vorgang benannte, „globalen Intifada“. Das arabische Verb, das dem Begriff Intifada zugrunde liegt, meint „abschütteln“, „loswerden“. Was soll abgeschüttelt werden? Erklärtermaßen die westliche Vorherrschaft: Kapitalismus, Globalismus, gefühlte Bevormundung. Erklärtes Ziel ist ein geschlossenes, befriedetes Kalifat, das sich von allen fremden Einflüssen befreit und in der ungetrübten Seligkeit islamischen Gehorsams lebt. Die Milizen „Boko Haram“ in Nigeria und „Islamischer Staat“ in Syrien und Irak haben es für die von ihnen eroberten Territorien bereits ausgerufen. Andere radikale Gruppen schließen sich an, indem sie dem selbst ernannten Kalifen al-Baghdadi die Treue schwören, die ägyptischen Ansar Beit al-Makdis (zu deutsch etwa: „Unterstützer Jerusalems“) oder die Jund al-Khilafa („Soldaten des Kalifats“) in Algerien. Die jungen Kämpfer unterwerfen sich mit öffentlich bekundeter Begeisterung der Scharia. Kleiden sich betont islamisch, schwingen schwarze Fahnen, kehren zum Sklavenhandel, zu den Methoden der Assassinen, zu öffentlichen Hinrichtungen mit dem Schwert zurück, geben sich unerbittlich in Glaubensfragen, ihr Traditionalismus wirkt unerschütterlich. Und doch es ist eine neue, eine andere Art Scharia, als man bisher kannte: die Scharia mit Smartphone.

Die Internet-Abhängigkeit der neuen Jihad-Kämpfer ist eins von vielen Symptomen   wachsender Wechselwirkungen zwischen Prozessen in der islamischen Sphäre und in der westlichen. Die gegenseitige Wahrnehmung und Beeinflussung ist direkte Folge der Globalisierung: erstens der globalen Verbreitung westlicher Hightech-Produkte, zweitens der Übernahme westlicher Muster der Kommunikation. Neuartige islamische Medien westlichen Zuschnitts wie Al-Jaseera und Al-Arabiya hatten erheblichen Anteil am Ausbruch und Verlauf des „Arabischen Frühlings“. Hinzu kommen die westlichen sozialen Netzwerke, über die sich die Protestler und – rasch aus ihnen hervorgehend – die Aufständischen koordinierten. Die sporadischen Rebellen-Gruppen wurden bald durch stringent strukturierte, solide finanzierte, vorgeblich religiöse Milizen verdrängt (wodurch die spontanen Aufstände, etwa in Syrien oder Libyen, in langwierige Bürgerkriege übergingen) – auch sie bedienen sich zu ihrer Organisation und „Vermarktung“ westlicher Mittel. So zutreffend die Beobachtung ist, dass viele der Aufstände, raschen Regime-Entmachtungen, Rekrutierungen von Milizen ohne westliche Technologie-Produkte und Kommunikations-Netze undenkbar waren, ja dass die Kriege der Region in dieser Dimension nur Dank der Unmengen westlicher Waffen geführt werden können, die im internationalen Handel mit Rüstungsgütern global verfügbar sind, so folgerichtig ist auch der Gedanke, dass der Vorgang der Veränderung, den sie auslösen, in eine zunehmende Abhängigkeit von westlichen Mustern führt.

Die technischen Mittel und kommunikativen Netze haben eine immanente Eigengesetzlichkeit, die über ihre bloße „Ausnutzung“ hinaus rückwirkend Einfluss auf ihre Nutzer nimmt. Zum Beispiel, indem sie neben den verlockenden Möglichkeiten ihrer Nutzung, auch Ortung und Überwachung der Nutzer möglich machen. So können Propagandisten des „Islamischen Staats“ über ihre Twitter-Accounts aufgespürt und enttarnt werden (und anschließend deaktiviert), wie kürzlich, nach Berichten des britischen Senders Channel Four, der unter dem Namen @ShamiWitness agierende Anonymus, dessen Tweets bis zu zwei Millionen Mal im Monat angesehen wurden und der bei der Rekrutierung aus westlichen Ländern stammender Kämpfer des „Islamischen Staates“ eine bedeutende Rolle gespielt haben soll. Kann die Nutzung westlicher Technologie-Produkte folgenlos bleiben für die Bewegung des „globalen Jihad“? Ist das Smartphone wirklich nur ein Instrument, dessen Möglichkeiten man ausnutzt, um es gegen seine Erfinder in den Kampf zu führen? „Einige twittern bis in den Tod“ – die jungen Kämpfer wollen die weltweite Netzwerk-Gemeinde an der Glorie des Islam, an den Taten ihrer Kampfgruppe teilhaben lassen, aber auch an ihrem persönlichen Schicksal. Posten und Twittern ist – unabhängig von der Art der Botschaft – ein individueller Vorgang. Vielleicht die einzige Form individueller Äußerung in reglementierten Gruppen wie den islamischen Milizen, deren Angehörige sich, um ihre Individualität zu verleugnen, uniform kleiden, sogar vermummen. Das Fehlen individueller, ziviler Tugenden hält die libanesische Publizistin Hanin Ghaddar für die „Wurzel des Übels“ („our malaise“) der heutigen Krise des Islam. Ist es nicht denkbar, dass Facebook und Twitter-Account auf längere Sicht zu einer Individualisierung der zu Werkzeugen des „heiligen Kampfes“ degradierten Nutzer beitragen?

Umgekehrt verändert sich die politische Landschaft westlicher Gesellschaften durch „den Niedergang des politischen Islam“, wie Hanin Ghaddar den Vorgang nennt. Spürbarste Auswirkung für Europa ist die dramatische Zunahme der Flüchtlinge aus den in Auflösung befindlichen Staaten. Sie polarisiert westliche Gesellschaften in Fragen, ob und wie man die Immigranten „integrieren“ kann, wie unter diesen Umständen, ohne schmerzhafte Einschränkung westlicher Freiheiten, die öffentliche Sicherheit zu garantieren ist und wieweit westliche Lebensformen durch die unerwartete Konfrontation mit tradierten Gesetzen von Millionen eingewanderten Muslimen – etwa mit der Scharia – ernsthaft bedroht werden. Die Auseinandersetzung darüber bestimmt die politische Agenda fast aller europäischen Nationen, wird vorrangiges Wahlkampfthema, führt zur Entstehung neuer Parteien und politischer Bewegungen. Es sieht nicht danach aus, als zeichnete sich in diesen Fragen innerhalb der westlichen Gesellschaften Einigung ab, im Gegenteil: der Islam, seine Entwicklung, die durch seine Krisen und Kriege entwurzelten Menschen werden zunehmend zu einem der zentralen Themen inner-europäischer Auseinandersetzung. Zu einem Thema, das nicht selten symbolisch wirkt, stellvertretend für andere Unvereinbarkeiten zwischen den gesellschaftlichen Gruppen.

Im Mittleren Osten ist sobald keine Beruhigung zu erwarten. Als relativ stabile Staaten erweisen sich derzeit nur die Diktaturen, einzige Ausnahme ist das kleine Mittelmeerland Tunesien, wo offenbar so etwas wie eine demokratische Entwicklung begonnen hat. Durch Veränderungen auf den globalen Märkten für Energieträger sinkt die wirtschaftliche Macht der islamischen Staaten, die sich weitgehend auf ihren Gas- und Ölreichtum gründete. Dieser absehbare Verlust an Macht und Bedeutung wird die Region weiter destabilisieren. Noch längere Zeit werden die in Tagen des islamischen Ölpreisdiktats aufgehäuften Geldmittel sowohl dem sunnitischen Saudi-Arabien und den reichen Golf-Emiraten als auch dem shiitischen Iran eine imperialistische Politik erlauben, die gekennzeichnet ist durch massive Unterstützung weltweit operierender islamistischer Organisationen, kolonialistische Einflussnahme auf arme, oft am Rande des Bankrotts laborierende muslimische Staaten und den Einsatz von Stellvertreter-Kräften in den Bürgerkriegen der Region. Zudem wird das Bedürfnis steigen – bei den Staaten wie bei den Millionen Muslimen, die über die Welt verstreut in den großen Industrieländern leben – ihren tatsächlichen Bedeutungsverlust durch spürbare, spektakuläre, schockierende Aktivitäten zu kompensieren.

Liberale islamische Analysten sagen einen weiteren Niedergang der islamischen Bewegung voraus, verbunden mit einem Anstieg blutiger Stammes- und Bürgerkriege und weltweiter terroristischer Aktionen. „Die arabische Zivilisation, wie wir sie kannten, ist dahin“, schrieb Hisham Melhem, Washington-Korrespondent der in Dubai stationierten arabischen Medien-Gruppe Al-Arabiya in einem Leitartikel im September 2014. „Die arabische Welt von heute ist gewaltsamer, instabiler, fragmentierter und stärker vom Extremismus getrieben – dem Extremismus der Herrschenden und dem der oppositionellen Kräfte – als jemals seit dem Kollaps des Osmanischen Reiches vor hundert Jahren. Jede Hoffnung der modernen arabischen Geschichte hat sich als trügerisch erwiesen (…) Wir werden viel Zeit brauchen, uns davon zu erholen – in meiner Lebenszeit wird es sicherlich nicht mehr geschehen.“

Auch er sieht eine Referenz auf westliche Muster – trotz aller anti-westlichen Impulse des heutigen Islam – als einzige Hoffnung für die islamische Sphäre. Deren kulturelles Defizit gegenüber dem Westen sei inzwischen so eklatant und beständig anwachsend, dass nichts übrig bleibe als Kooperation und Annahme westlicher Hilfsangebote. „Ist es eine Überraschung“, fragt er in seinem kürzlich erschienenen Aufsatz The Barbarians within Our Gates, „dass niemand das Chaos, in das wir Araber unsere Welt verwandelt haben, in Ordnung bringen könnte, es sei denn, die westlichen Staaten?“


Dieser Text erschien zuerst in der Jüdischen Rundschau.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Ulrich Bohl / 25.03.2015

Ich habe bisher keine bessere Beschreibung der Gegensätze zwischen den Richtungen in der islamischen Welt gelesen. Eine kurze und prägnante Darstellung der Vergangenheit, Gegenwart und wahrscheinlichen Perspektiven. Empfehlenswert für alle politischen Akteure. Vielleicht würde es nach dem Studium der Analyse zu weniger Fehleinschätzungen kommen.

Norbert Seemann / 24.03.2015

Ich habe selten einen so guten Bericht gelesen, diesen sollte man unserem Bundespräsidenten, der Kanzlerin und den Islamverbänden nicht vorenthalten, geht doch hieraus eindeutig hervor, das der Islam von Anbeginn nicht friedlich war, nicht friedlich ist und nicht friedlich werden wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die kritische Masse in Europa erreicht ist und Sunniten und Shiiten sich hier gewaltsam gegeneinander bekämpfen werden, einen Vorgeschmack hatten wir in Hamburg zwischen Kurden und Sunniten ja bereits. Also gehört der Islam nicht zu Deutschland und auch nicht zu Europa, wohin damit ? Ich weiss es nicht.

Jürgen Fleischer / 24.03.2015

Vielen Dank für die umfassende tiefgründige und, wie ich meine, zutreffende Analyse des Islam. Seine Zerrissenheit ist für uns ein Segen. Fürchterlich wären die Folgen einer Einheit des Islam. Herzlich, Jürgen Fleischer

Jürg Rückert / 24.03.2015

Profunder Artikel! 2 Anmerkungen: An den Verwüstungen im Irak, in Libyen und Syrien haben westliche Staaten (allen voran die USA) erheblichen Anteil. Die Folgen treffen vor allem Europa. Tunesien entrann den Muslimbrüdern bislang nur, weil denen das Beispiel Ägyptens warnend vor Augen stand.

Jens Kröger / 24.03.2015

“Wie heute in Libyen, wo nach dem Sturz des Mubarak-Regimes die verfeindeten Clans ihre alten Stammeskriege wiederaufgenommen haben.” Sollte wohl Gaddafi-Regime sein.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Chaim Noll / 25.03.2024 / 06:30 / 43

Die Juden-Selektion der deutschen Linken

Einige aus der NS-Zeit bekannte Methoden im Umgang mit Juden erfreuen sich zunehmender Beliebtheit bei deutschen Linken, besonders bei grünen Funktionsträgern. Betroffen sind israelische Staatsbürger,…/ mehr

Chaim Noll / 02.03.2024 / 10:00 / 31

Ist Yuval Avraham ein „Antisemit“? Oder Claudia Roth? Oder ich?

Das Wort „Antisemitismus" taugt noch als Popanz im „Kampf gegen Rechts“, aber am eigentlichen Problem geht es glücklich vorbei. Fasziniert verfolge ich aus der Ferne…/ mehr

Chaim Noll / 20.01.2024 / 06:00 / 46

Südafrika-Klage gegen Israel: Wer im Glashaus sitzt…

Vor dem Hintergrund des massenhaften Mordens im eigenen Land ist die Klage Südafrikas vor dem Gerichtshof in Den Haag nichts als eine Farce. Für viele…/ mehr

Chaim Noll / 06.01.2024 / 06:00 / 72

Deutschlands Pakt mit dem Terror

Westliche Staaten, allen voran Deutschland, pumpen seit Jahrzehnten üppige Summen Geldes in die Palästinensergebiete, ohne dass sich dort etwas Nennenswertes entwickelt hätte. Die Milliarden landen…/ mehr

Chaim Noll / 31.12.2023 / 12:00 / 32

Warum ich mich trotzdem auf 2024 freue

Der Autor lebt im Süden Israels, und nur wenige Kilometer von ihm entfernt ist Krieg. Welche Hoffnungen verbindet er mit dem Jahr 2024 für Israel…/ mehr

Chaim Noll / 27.10.2023 / 12:00 / 65

Der Hass der Hamas gilt nicht nur Juden

Wie ist die Stimmung in Israel und insbesondere im Süden des Landes, in der Nähe zum Gazastreifen? Unser Autor Chaim Noll, der dort lebt, berichtet.…/ mehr

Chaim Noll / 16.10.2023 / 06:05 / 58

Nachtflug

Auf den Abfahrt-Tafeln erscheinen die Städte Ashdod, Ashkelon, dann Beer Sheva. Derzeit die gefährlichste Gegend des Landes. Manchem wäre beklommen zumute bei dieser Annäherung. Mit…/ mehr

Chaim Noll / 11.10.2023 / 06:15 / 164

Ohnmacht. Oder?

Seit drei Tagen sitze ich fest: Gestrandet in Berlin, ich bekomme keinen Flug nach Israel. Und immer diese Gedanken. Wie konnte es geschehen? Was hätte…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com