Jesko Matthes / 07.05.2017 / 12:00 / Foto: Stefan Roloff / 1 / Seite ausdrucken

Sentimental Journey zum preußischen Großvater

Von Jesko Matthes

Was jetzt folgt, darf man kritisieren, sogar anzweifeln, es ist kaum verbürgt. Überliefert ist es allerdings, von meiner Großmutter und meiner Mutter, zwei Frauen, die einander nicht gerade wohl gesonnen waren. Es handelt von meinem Großvater, den ich, Ungnade der späten Geburt, um fünf Jahre verpasst habe. Er war Arzt, wie ich.

1884 in der Provinz Posen geboren (der Ort heißt Wilkonice, Kreis Gostyn, und ich habe ihn im vergangenen Jahr besucht; das Gutshaus ist verschwunden, die riesigen, alten, halb verfallenen Stallungen aus dem Jahre 1908 werden weiter genutzt, darinnen grunzen die Schweine, am kleinen Teich zirpen im Sommer wie eh und je die Grillen), musste er 1919 „optieren“, nämlich, ob er Preuße bleiben und seine Heimat aufgeben oder zuhause bleiben und Pole werden wolle. Da er fließend polnisch sprach und gern die polnische Nationalhymne sang, soll er gezögert haben. Da hatte er schon das Eiserne Kreuz erster Klasse erhalten und zweifelte also am Wohlwollen Polens, nicht an seiner Loyalität und am Wohlwollen der Polen, und er verließ seine Heimat. Da hatte er bereits ein paar Semester evangelische Theologie und dann, zum Leidwesen seiner Mutter, Medizin studiert, in Königsberg.

Gelernter Demokrat – gebürtiger Preuße

Er gründete eine Arztpraxis in Preußen, in einem kleinen Ort namens Kalbe an der Milde, und er führte die Praxis zweiundvierzig Jahre lang, bis in sein 78. Lebensjahr, also die Weimarer Republik und das „Dritte Reich“ hindurch bis in die DDR. Er wählte deutschnational, später nationalliberal, weil ihm Gustav Stresemann als eine Art Reinkarnation Bismarcks vorkam, nur friedlicher. Danach wählte er gar nicht mehr. Als Stresemann starb, sah er Tragödie schon kommen, Großvater hatte Adolf Hitlers „Mein Kampf“ gelesen. Ich glaube nicht, dass mein Großvater sonderlich fest an die erste deutsche Demokratie glaubte, die er scheitern sah. An den Rechtsstaat, für den er Preußen hielt, glaubte er fest, und das auf eine Art, die zuweilen der des braven Soldaten Schwejk ähnlich sehen sollte.

In der Familie soll er von den Nationalsozialisten als der „Pest“ gesprochen haben, dem „Abschaum“, der finis germaniae. Als einer seiner Brüder, von meiner Mutter zärtlich „Onkel Ulli“ genannt, Adolf Hitler persönlich begrüßen durfte, riet Großvater ihm mit dem Ausdruck des Bedauerns, seine Händehygiene umzugestalten, da er sich die rechte Hand künftig nicht mehr würde waschen können. Eine gefährliche Loriot-Szene sei gefolgt, Nase an Nase: „Wenn du in meinem Beisein den Führer beleidigst...“ - „Wenn ich in meinem eigenen Haus nicht mehr sagen kann, was ich denke...“ - Man beruhigte sich und ging zum Abendessen über. Onkel Ulli ließ zwei Söhne für den Führer.

Im Sommer 1940 stürmte meine Mutter, gerade elf Jahre alt, an einem Sonntagmorgen ins streng verbotene Elternschlafzimmer und rief: „Paris ist gefallen“. Mein Großvater soll sich schlaftrunken aufgesetzt haben: „Ihr armen Verblendeten. Und der Krieg ist doch verloren.“

Preußischer Schwejk an der Heimatfront

Dann wurde er, Stabsarzt der Artillerie auf dem „Standortschießplatz“, in Wirklichkeit Heeresversuchsstelle Hillersleben bei Magdeburg, doch noch an die Westfront kommandiert. Und nun ging es erst richtig los. Schwejk, den er auch gelesen hatte, war gefragt.

Immer auf Heimaturlaub ereigneten sich seltsame Dinge. Sofort nach Eintreffen begann Großvater zu arbeiten, in seiner Praxis. In der Mittagspause befestigte er ein Schild an der Tür, in drei Sprachen, deutsch, französisch und polnisch, dass er auf Hausbesuchen sei und bald zurückkehre. Vom notorisch braun uniformierten Apotheker angeschwärzt, stellten ihn die Behörden zur Rede. Er habe geantwortet: „Das Schild ist kriegswichtig. Die polnischen und französischen Kriegsgefangenen sind hier als Fremdarbeiter. Einer ist Schuster, die anderen Landarbeiter. Sie machen die Arbeit, die deutsche Soldaten, die an allen Fronten stehen, nicht tun können. Also müssen auch sie die gleiche medizinische Versorgung erhalten wie ein deutscher Soldat. Ausfallzeiten, weil sie die Beschriftung meiner Praxis nicht lesen können, sind nicht in diesem Sinn.“ Zähneknirschend zog man davon. Das Schild blieb.

Im nächsten Heimaturlaub klingelte spät nachts das Telefon, Apparat Kalbe 208. Man rief Großvater ins Gefängnis der nahe gelegenen Kreisstadt Gardelegen zu einer Leichenschau. Großmutter, braun angehaucht, roch Schwierigkeiten. Dort sei doch der Kollege Isbruch zuständig. Kurt, so habe sie Großvater gebeten, zieh die Uniform an. Widerwillig und unter Protest habe Großvater die Uniform angelegt, was er als Offizier nicht habe tun müssen, nur hätte ihn Großmutter sonst nicht fahren lassen, und er stieg in seinen Mercedes 170 V, den später die Engländer konfiszierten, und fuhr. Im Gardelegener Gefängnis hatte ein Jude sich vor seiner Deportation erhängt, und eine Gefängnischarge forderte Großvater auf, Herzversagen zu attestieren. Großvater habe geantwortet: „Erstens: Können Sie nicht grüßen? Ich bin ihr Vorgesetzter!“ (strammer „deutscher Gruß“ folgend) „Zweitens: Zeigen Sie mir die Dienstanweisung, nach der ein deutscher Offizier lügt. Der Mann hat sich erhängt. Das attestiere ich Ihnen.“ Danach soll er meiner Großmutter gedankt haben für den Tipp mit der Uniform und gesagt haben: „Du hattest Recht. Sie haben doch glatt versucht...“

Unehrenhaft entlassen

Im August 1944 wurde Großvater unehrenhaft aus der Wehrmacht entlassen und nach Hause geschickt. Seine Kontakte zum konservativen Widerstand konnte man ihm nicht nachweisen; seine Gesinnung war bekannt. Für ein Strafbatallion erschien er, ein alter Mann, ungeeignet. - Mit ihm und Seinesgleichen würde man später fertig werden, das hatte auch der Führer geäußert.

Vor mir liegt ein Schreiben der NSDAP-Gauleitung Magdeburg an die AOK Magdeburg vom März 1945: „Uns ist zu Ohren gekommen, dass der Arzt Kurt Breutmann, Kalbe/Milde, polnischen Fremdarbeitern Traubenzucker aufschreibt. Dies ist eine Behandlung, die noch nicht einmal deutschen Volksgenossen zu Teil wird. Wir ersuchen Sie daher dringend, den Breutmann aufzufordern, diese Verordungspraxis sofort einzustellen.“

Eine undichte Stelle bei der AOK warnte Großvater telefonisch (so kam später auch das Schreiben in seinen Besitz) - und er reagierte ebenfalls telefonisch, indem er selbst die Gauleitung der NSDAP anrief: Ob es denn in deren Sinn und im Sinne des Endsiegs sei, Fremdarbeiter in kriegswichtiger Stellung verhungern zu lassen. Wenn er Unterernährung feststelle, sei diese selbstverständlich genauso zu behandeln wie bei deutschen Volksgenossen. - Ich denke heute, Großvater führte das System mit den eigenen Mitteln ad absurdum.

Dass er gemeinsam mit dem örtlichen Pastor im April 1945 in den Wald geradelt sein soll, um die letzten versteckten Juden mit altem Brot und Speck zu versorgen.... solches haben später viele von sich behauptet. Bei Großvater glaube ich es, weil der Pastor es in einem Brief bezeugt hat, und wegen der Vorgeschichte.

Swing und Richard von Weizsäcker

Mutter dagegen berichtete: „Richard von Weizsäcker hatte Recht mit seiner Rede vom 8. Mai 1985. Für mich war das ganz einfach. Am 11. April stand ein lässig Kaugummi kauender Schwarzer in der Uniform der Vereinigten Staaten vor der Tür, der erste Schwarze, den ich je sah, das erste Kaugummi, das ich geschenkt bekam. Ein weißer Offizier stand hinter ihm. Wir mussten das Haus in der Schützenstraße 12 (heute Schulstraße 14) räumen, es wurde US-Hauptquartier. Auf den Protest meiner Mutter sagte der Offizier in fließendem Deutsch, er wisse, dass ihr Mann kein Nazi gewesen sei, der CIC wisse das seit Paris, und gerade deshalb sei das hier jetzt das US-Hauptquartier. Ich dagegen durfte Glenn Miller oder Doris Day im Radio endlich so laut aufdrehen, wie ich wollte, bis es meinen Eltern auf die Nerven ging. Ich war fünfzehn, ein Teenager, da muss man Eltern mit lauter Musik auf die Nerven gehen.“

Die Amerikaner hätten die Türen mit nasser Kreide gekennzeichnet: „Section 1, Section 2...“ Zu DDR-Zeiten verbot Großvater seiner Familie das Reinigen der Türen. Doch das ist schon eine andere Geschichte. Gonna take a sentimental journey.

In den Schuhen von Riesen

Wer jetzt begreift, warum ich, wie ein Teenager, bei Glenn Miller sentimental werde, warum ich, wie ein Teenager, keinen Bock habe, Flüchtlinge mit geteilter Nationalität, wie meinen Großvater, unter Generalverdacht zu stellen, während ich mir in aller gebotenen Bescheidenheit allein gegenüber Großvater erlaube, ohne Ansehen der Person nach Ideologien, Gesinnungen und Überzeugungen zu fragen, weniger nach Meinungen, der hat mich verstanden. Die anderen mögen diese scheußlich konservative, altbackene, angestaubt preußische Familientradition anzweifeln. Beweisen kann ich sie nur ein bisschen. - Plausibel ist sie, selbst als Legende.

Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.

Foto: Stefan Roloff CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Robert Bauer / 07.05.2017

Nette Geschichte. Allerdings vermißt der geneigte und unbedarfte Leser nähere Informationen darüber, warum Großvater 1919 optieren mußte…

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