Zeitungen, die auf ihren Deutschlandkarten ganze Bundesländer braun einfärben (wegen der jüngsten Wahlerfolge der AfD). Radiomoderatorinnen, die ihre Interviewpartner mit gespieltem Entsetzen begrüßen: „Was ist schon wieder in Sachsen los? Wie können Sie da noch leben!“ (wegen der Politiker-Beschimpfungen am 3. Oktober). TV-Comedians, die billige, vom westdeutschen Studiopublikum bejubelte Witze über dumpf-fremdenfeindliche „Ossis“ reißen – die Aufhänger für das Bashing gegen „die Dunkeldeutschen“ wechseln im Wochenrhythmus. Jüngster Anlass für die Pauschalverurteilung eines ganzen Bundeslandes waren Versäumnisse von Polizei und Justiz im Fall des Islamisten Al-Bakr, der erst einem Sondereinsatzkommando entwischte und sich später in einer Leipziger Zelle umbrachte.
Es wäre nun nicht schwer, vom Osten aus mit gleicher Münze heimzuzahlen, denn auch in westlichen Bundesländern liegt ja manches im Argen. Man könnte bei Schmarotzerländern wie Bremen anfangen, das seit Jahrzehnten am Tropf des Länderfinanzausgleichs hängt (okay, Berlin ist nicht besser), den Strukturwandel nie bewältigt hat, vor kriminellen Araber-Clans kapituliert und trotzdem immer wieder genau diejenigen Parteien wählt, die ihm den Schlammassel eingebrockt haben.
Was ist mit den Losern im Westen?
Von dort wäre es ein Katzensprung nach Hamburg, wo die islamistischen Massenmörder um Muhammed Atta jahrelang unbehelligt die Anschläge vorbereiten konnten, die am 11. September 2001 Tausende Menschen in New York das Leben kosteten und Anlass für den unseligen, bis heute andauernden „Krieg gegen den Terror“ gaben. Hat der Rest des Landes die Hamburger deshalb in „Sippenhaft“ genommen? Haben eigentlich die Hamburger selbst oder wenigstens die Verantwortlichen, die blind waren für die Radikalisierung der späteren Attentäter, deswegen Scham empfunden? Wurden Gedenktafeln aufgehängt oder Straßen umbenannt, wie dies etwa wegen der Taten des NSU geschah?
Oder nehmen wir Nordrhein-Westfalen, den „failed state“ unter den deutschen Bundesländern, mit der größten Pro-Kopf-Verschuldung, der unfähigsten Landesregierung, den (nicht erst seit der Kölner Silvesternacht) höchsten Kriminalitätsraten, einer spezifischen Form der Vetternwirtschaft (liebevoll „Klüngel“ genannt) sowie einer sich über breite Bevölkerungskreise erstreckenden, furchtbar selbstbezogenen Kopf-in-den-Sand-Mentalität, die sich als „Karnevalsfröhlichkeit“ ausgibt. Viele in NRW denken bei „Osten“ übrigens nicht über Westfalen oder das Rothaargebirge hinaus, ganz nach dem Vorbild ihres rheinischen Stammvaters Konrad Adenauer, für den gleich hinter der Elbe „Sibirien“ begann.
Gingen nicht auch aus NRW die meisten IS-Anhänger nach Syrien und Irak, um dort jesidische Mädchen zu vergewaltigen oder „ungläubigen“ Familienvätern bei lebendigem Leib die Köpfe abzuschneiden? Selbst dies wurde weder an Rhein und Ruhr noch in der deutschen Öffentlichkeit als größeres Problem thematisiert. Aber wehe, hinten in der Sächsischen Schweiz schreien ein paar betrunkene Glatzköpfe Parolen vor einem Flüchtlingsheim – dann läuten bundesweit alle Alarmglocken.
So pauschal und undifferenziert über ganze Bundesländer und ihre Bevölkerungen herzuziehen, ist nicht schön, oder? Möglicherweise empfinden die Vorpommern oder die Sachsen das ähnlich, wenn man sie alle über einen Kamm schert. Bleibt die Frage, woher die Geringschätzigkeit und Ignoranz vieler westdeutscher Journalisten für „den Osten“ rührt und zwar merkwürdigerweise bei denselben, die schon bei der kleinsten Verallgemeinerung in Bezug auf „Muslime“ oder „Geflüchtete“ in lautes Klagegeschrei ausbrechen. Oh, krass, Ostdeutschland!
Exemplarisch für diese Ignoranz: Das Projekt „Neue Normalität"
Exemplarisch für diese Ignoranz ist das Projekt „Neue Normalität – Eine Reise durch Sachsen“, für das der Journalist Raphael Thelen im Frühjahr vier Wochen durch das gleichnamige Bundesland fuhr. Herausgekommen ist eine Sammlung von Reportagen über Menschen in Sachsen, angeblich mit „unverstelltem Blick“, in Wirklichkeit durchtränkt von den Vor-Urteilen ihres Autors. In der Pose des „einfühlsamen Fragestellers“ stellt er zumeist einfache Bürger vor (und mit vollem Namen ins Netz), um dann ihre angeblich rechten Einstellungen zu entlarven – eine besonders „aufgeklärte“ Form der Menschenverachtung.
In den dazugehörigen Reisenotizen wimmelt es nur so von Skinhead-Schlägern, rechten Jugendlichen, die Fremde (wie den hochsensiblen Autor) bedrohlich mustern und natürlich von Neonazis, die unter klammheimlicher Zustimmung der Bevölkerung durch die Straßen marschieren. Dabei wird neben einer peinlichen Oberflächlichkeit auch Thelens Unfähigkeit offenbar, die eingefahrenen Denk- und Wahrnehmungsschablonen zu verlassen, mit denen er angereist ist. Wie auch im Interview mit der ZEIT deutlich wird, in der er sein Projekt vorstellen durfte:
ZEIT: Wie viel wussten Sie vorher über die Gegend?
Thelen: Ich stamme aus Bonn und lebe erst seit drei Monaten in Leipzig – und ich bin explizit hierhergezogen, weil Sachsen so oft in den Schlagzeilen ist. In den vergangenen Jahren habe ich aus Krisengebieten berichtet, war im Libanon in Flüchtlingslagern, habe im Irak gearbeitet. Nun wollte ich eigentlich nach Athen. Aber dann sah ich mir Pegida an und dachte: Oh, krass. Ostdeutschland, Sachsen, das ist gerade auch wichtig. Warum in die Ferne fahren, wenn es im eigenen Land so brennt.
Katastrophentourismus nach Gutsherrenart. Ein postmoderner Schmetterlingsjäger, der 26 Jahre nach der Wiedervereinigung zur Abwechslung mal ins super-gefährliche Dresden oder Plauen statt in die vertrauten libanesischen Flüchtlingslager jettet – wirklich krass! Null Ahnung von dem Land, das er bereist. Null Bezug zu den Menschen, die er interviewt. Null Auseinandersetzung mit den realen Problemen, die der plötzliche Zuzug Zehntausender junger, kräftiger, zumeist männlicher Asylbewerber gerade in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands mit sich bringt. Für Thelen liegen die Probleme vor allem in der Mentalität der Sachsen und einem rassistischen „Grundrauschen“ im Lande begründet.
In Sachsen, so der Politikwissenschaftler Werner Patzelt, habe man bis heute nicht die Demütigungen durch „landfremde Vögte“ vergessen, als welche viele der seit 1990 ins Land strömenden West-Eliten wirkten:
"Und heute stört man sich sehr an jenen Denk-, Sprech- und Verhaltensgeboten, die - auf ihre politische Korrektheit so stolze - Wessis gerade in Einwanderungsfragen über „Dunkeldeutschland“ verhängen. Man freute sich über das Ende der schweren Umbruchjahre seit 1990. Also empfand man es als Zumutung, im „gerade wieder schön gewordenen Sachsen“ jetzt den Ausländeranteil „auf westdeutsches Niveau“ bringen zu sollen, also aufs Maß aller Dinge. Weil viele Sachsen - gut gebildet in einem Hochschulland, auch nicht ohne Erfolg mit ihren Handwerksbetrieben und mittelständischen Unternehmen - nun einmal kein gutes Ende der seit 2015 betriebenen Einwanderungspolitik erwarten und außerdem empfinden, ihre Kritik werde „arrogant abgebügelt“, empören sie sich. Sie tun das umso mehr, als sie nie gefragt wurden, ob sie eine solche Veränderung ihrer Kultur und Heimat wirklich wollten. Solche „Politik von oben herab“ fühlt sich dann an „wie zu DDR-Zeiten“.
Das Bild vom „Osten“ als unzivilisiertem, im Grunde menschenleerem Raum
Die Kolonialherrenattitüde auf die Spitze trieb allerdings vor ein paar Tagen der grüne „Ex-Realo“ Kurt Edler aus Hamburg in der WELT. Für den selbsternannten Islamismus-Experten ist alles „ganz einfach“: Der Protest gegen die Masseneinwanderung sei eigentlich nur ein Unbehagen am „Change“ des Kapitalismus, die meisten Deutschen hätten zudem noch nie einen echten Syrer gesehen. Salafismus sei eine jugendliche Protestkultur, die man dadurch in den Griff bekommen werde, dass die Schulen „sich mehr für Religion öffnen“ und Muslime den radikalisierten Jugendlichen dort den „echten Islam“ erklärten.
Sein konkreter Vorschlag: die Gründung eines „Neu-Aleppo“ in Vorpommern, um zu zeigen, „dass das, was die britischen und irischen Auswanderer im Nordosten der USA geschafft haben, auch bei uns möglich ist“. Edlers Vision trifft sich hier mit der des Tagesspiegel-Kolumnisten Peter von Becker, der bereits vor zwei Jahren davon träumte, in den „schönen, dünn besiedelten Weiten von Brandenburg oder MeckPomm“ ein paar hunderttausend „neue deutsche Weltbürger“, etwa „vertriebene afrikanische Bauern“, anzusiedeln, deren „Stärke und Präsenz“ die typisch ostdeutsche Fremdenfeindlichkeit für alle Zeiten im Keim ersticken würde.
Dieser diffamierende und stigmatisierende Generalverdacht geht – auch wenn dies seinen Urhebern nicht bewusst sein mag – auf eine unselige Tradition zurück: das Bild vom „Osten“ als unzivilisiertem, im Grunde menschenleerem Raum (bis auf ein paar mental zurückgebliebene Eingeborene), dem man nach eigenem Gutdünken seinen „fortschrittlichen“ Stempel aufdrücken kann. So dachte die preußische Verwaltung Ende des 19. Jahrhunderts in den mehrheitlich polnischsprachigen Provinzen Posen und Westpreußen, so dachten in brutalster Konsequenz auch die Nazis, deren Vernichtungsfeldzug gegen den angeblich minderwertigen „Osten“ eine andere – gute – deutsche Tradition unwiderruflich beendete: die des jahrhundertelangen (auch!) friedlichen Zusammenlebens mit Polen, Tschechen und Balten im Osten Europas.
Wahrscheinlich nehmen sie bald auch wieder die Polen, Tschechen, Ungarn und Russen ins Visier
Natürlich ist bei Neo-Kolonialisten wie Edler oder von Becker auch jede Menge unterdrückter Aggressionen im Spiel, die sich gegen die von ihnen protegierten, gleichwohl viele offensichtliche Probleme mit sich bringenden „edlen Wilden“ aus Syrien, Afghanistan, Marokko, Somalia oder Pakistan nicht richten darf und deshalb als Blitzableiter die „Dunkeldeutschen“ sucht. Bei denen, glauben sie, dürfen sie ihre Ressentiments und Vorurteile ungestraft abladen, unter dem Beifallsgejohle des „Klatsch-Mobs“ in Talkshows und Comedy-Trash-Sendungen. Wahrscheinlich nehmen sie bald auch wieder die Polen, Tschechen, Ungarn und Russen ins Visier, die ebenfalls zu dumpf und primitiv sind, um die Segnungen ihres multikulturellen Großversuchs zu begreifen.
Übrigens schreibt gerade Vorpommern im Stillen seit einigen Jahren seine eigene, sehr erfolgreiche Migrationsgeschichte. Rund um Löcknitz haben sich bereits einige Tausend Polen aus dem benachbarten Stettiner Raum angesiedelt, wo der Wohnraum knapp und teuer ist. Viele Pendler, aber auch junge Familien mit Kindern sorgen dafür, dass sich die überalterten Dörfer auf deutscher Seite mit neuem Leben füllen. Kindergärten und Schulen müssen nicht mehr schließen, neue Geschäfte eröffnen, eine ganze Region schöpft neue Hoffnung.
Da Vorpommern als Versuchskaninchen für die massenhafte Neuansiedlung von Muslimen, um der eingesessenen Bevölkerung „Toleranz“ einzubläuen, nun also nicht mehr in Frage kommt, ein Vorschlag zur Güte an den Herrn Edler von den Grünen: „Neu-Aleppo“ wird vor den Toren seiner Heimatstadt Hamburg errichtet, als Modellprojekt für Deutschland, den Planeten Erde und das ganze Universum. Er muss nur noch die Finanzierung regeln – für ihn sicher ein Kinderspiel – und danach eine Mehrheit für diese Idee in seiner Partei und der restlichen Bevölkerung gewinnen, dann kann es sofort losgehen.
Oliver Zimski ist Übersetzer, Sozialarbeiter und Autor. 2015 erschien sein Kriminalroman „Wiosna – tödlicher Frühling“