Von Titus Gebel.
Grundsätzlich ist der Rechtsstaat einer der wichtigsten Garanten für Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die Bindung von Machthabern an Recht und Gesetz und die für alle verbindliche Streitschlichtung durch unabhängige Gerichte zählen zu den größten Errungenschaften der Zivilisation.
Obwohl das Rechtsstaats– und das Demokratieprinzip häufig vermengt oder gar synonym verwendet werden, sind beides Prinzipien, die zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben. Es ist sowohl möglich, dass eine konstitutionelle Monarchie ein Rechtsstaat ist, als auch, dass ein Diktator demokratisch gewählt wird oder in Demokratien Mehrheitsentscheidungen aller Art ohne jegliche Bindung an Recht und Gesetz erfolgen können. Der Rechtsstaat schützt insofern auch die Minderheit vor der demokratischen Mehrheit. Die Wichtigkeit des Rechtsstaatsprinzips ist im Ausspruch des römischen Theologen Augustinus von Hippo verkörpert: „Nimm vom Staat das Recht weg, was bleibt dann übrig als eine große Räuberbande?“
Der Rechtsstaat hat allerdings ein Problem, auf das der Publizist Claude-Frédéric Bastiat aufgrund seiner Beobachtungen in der französischen Republik schon Mitte des 19. Jahrhunderts hingewiesen hat. Wer die gesetzgebende Gewalt beherrscht, kann sich ein nahezu beliebiges Recht zusammenbasteln. Bastiat drückte es wie folgt aus: „Wenn Plündern für eine Gruppe in der Gesellschaft zur Lebensart wird, schafft sie im Laufe der Zeit ein Rechtssystem, welches dies legalisiert und einen Moralkodex, der es glorifiziert.“ Jede Gruppierung, die gerade an der Macht ist, kann sich ihre Gesetze selber machen, solange sie die formal vorgesehenen Abläufe einhält. Aber auch eine konstitutionelle Räuberbande bleibt eine Räuberbande. Schützt uns davor nicht die Verfassung?
Die Debatte zwischen Sarrazin und Thym
Zur Beantwortung dieser Frage ist die Debatte zwischen Sarrazin und Thym über die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Grenzöffnung instruktiv.
Wer die Auffassung vertritt, dass wesentliche Fragen wie die der Grenzöffnung vor das Parlament gehören, weil hier elementare Souveränitätsangelegenheiten berührt werden, wer sich daran erinnert, dass die EU-Drittstaaten-Regelung gerade deshalb eingeführt wurde, um die erste deutsche Asylkrise Anfang der 1990er Jahre zu beenden, und wer darüber hinaus der Auffassung ist, dass die Regierung nicht einfach Straftatbestände außer Kraft setzen kann (etwa § 14 Aufenthaltsgesetz), der wird der Auffassung sein, dass die bedingungslose Grenzöffnung für jeden, der das Wort Asyl ausspricht, rechtswidrig ist.
Wer allerdings der Meinung ist, dass Nationalstaaten ohnehin überholt sind und dass die rechtliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte die Rechtsetzungskompetenz in Richtung EU verschoben hat, und nach diesen Regeln eine Grenzöffnung möglich war, ohne den Bundestag zu befragen, weil lediglich von diesem bereits ratifizierte Regeln angewendet worden seien (etwa Artikel 17 Dublin III), der wird zur Auffassung gelangen, dass auch die Grenzöffnung rechtmäßig war. Man kann diese Auffassung im Lichte der oben genannten Aspekte aus guten Gründen für falsch halten. Sie ist aber nicht abwegig.
Wenn man sich nun vor Augen hält, dass die Richter, die letztlich darüber zu entscheiden haben, Schulen, Universitäten und Ausbildungseinrichtungen besucht haben, die den sogenannten europäischen Gedanken vollkommen verinnerlicht haben und diese Richter zudem die Tendenz des Bundesverfassungsgerichts kennen, sich (trotz der sogenannten Solange-Rechtsprechung) faktisch nie gegen Entscheidungen zu stellen, die auf europäischer Ebene getroffen wurden, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Auffassung von Thym diejenige ist, die gerichtlich obsiegen wird.
Formal wäre dem Rechtsstaat damit genüge getan. Frau Merkel hätte alles richtig gemacht.
"Erst anschließend finden wir eine Begründung".
Das bestätigt Bastiats Beobachtung. In unserem Fall wurden über die formal korrekte Verlagerung der Kompetenzen auf EU-Ebene die Verfassungen der Mitgliedstaaten ausgehebelt. Da die Befürworter dieses Vorgehens darüber hinaus die öffentliche Meinung und die Erziehungsanstalten beherrschen, können sie leicht eine Auslegung des bestehenden Rechts in die gewünschte Richtung erhalten. Da sie zudem die Befugnis haben, Richter in die obersten Gerichte zu entsenden, haben sie über Jahre hinweg eher diejenigen dorthin geschickt, die der eigenen Auffassung zuneigen.
Ich kann mich erinnern, dass ich während meines Jurastudiums Ende der 1980er Jahre zum ersten Mal bewusst den Volksverhetzungsparagraphen las. Schon als junger Student kamen mir damals Bedenken, dass dieser angesichts seiner auslegungsbedürftigen Formulierung mit etwas bösem Willen auch gegen alle möglichen Oppositionellen verwendet werden könnte. Der Wortlaut des Paragraphen wurde seither noch weiter gefasst und die Zahl der Verurteilungen dürfte auch in den letzten Jahren stetig angestiegen sein. Insofern ist Vorsicht geboten, wenn etwa das Netzwerkdurchsetzungsgesetz scheitert. Die Regierung kann auch anders. Nämlich mit ihrer Parlamentsmehrheit den Volksverhetzungsparagraphen weiter verschärfen. Auch die Gerichte können diesen noch weiter als bisher auslegen, etwa was Kritik am Islam angeht.
Aus meiner Zeit als Rechtsreferendar am Verwaltungsgericht ist mir ein Ausspruch des Vorsitzenden unserer Kammer erinnerlich: „Erst einigen wir uns auf das gewünschte Ergebnis und anschließend finden wir eine Begründung.“ Damals fand ich das als idealistischer Verfechter des Rechtsstaatsprinzips unerhört, heute muss ich anerkennen, dass der Richter aufgrund seiner langjährigen Erfahrung einfach nur die Rechtswirklichkeit wiedergab.
Es gibt insofern streng genommen keine wirkliche Herrschaft des Rechts, sondern auch der Rechtsstaat ist immer die Herrschaft von Menschen. Diese gestalten das Recht nach ihren persönlichen Überzeugungen und legen es auch so aus. Denn auch die Rechtsprechung ist selbstverständlich von subjektiven Einstellungen geprägt, und jeder Verfassungsartikel wird von jedem Richter entsprechend der eigenen politischen Überzeugungen ausgelegt.
Das Grundgesetz wurde 62 mal geändert
Selbst Verfassungen sind daher faktisch nahezu beliebig änderbar oder interpretierbar. Das 1949 verabschiedete Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde seit Inkrafttreten sage und schreibe 62 mal geändert. Die schwerer zu ändernde US-Verfassung hat in über 200 Jahren zwar nur 18 Anpassungen erfahren. Doch dafür sprangen die Richter mit „zeitgemäßer“ Auslegung ein, gerne auch gegen den Wortlaut. Der Philosoph Anthony de Jasay bringt es auf den Punkt: „Die Verfassung gleicht einem Keuschheitsgürtel, zu dem die Dame selbst den Schlüssel hat: Wenn sie nicht passt, wird man Wege finden, sie zu umgehen oder zu ändern.“
Auch das Demokratieprinzip schützt vor solchem Gebrauch bzw. Missbrauch des Rechtsstaats nicht. Gegen bestehendes EU-Recht hat etwa die Merkel-Regierung die sogenannte Griechenland-Rettung vorangetrieben (Verstoß gegen No-Bailout-Klausel in Artikel 127 AEU-Vertrag) gegen bestehende öffentlich-rechtliche Verträge den Atomausstieg beschlossen, und sich dazu in Bananenrepublikmanier einer in der Verfassung nicht vorgesehenen, kurzfristig aus dem Hut gezauberten „Ethik-Kommission“ bedient und schließlich gegen Recht und Gesetz (nach hiesiger Auffassung) die Grenzen für illegale Einwanderer aus sicheren Drittstaaten geöffnet.
Dagegen sind weder Menschenmassen auf die Straße gegangen noch erfolgte eine Abwahl der Regierung; vielmehr haben bei den letzten Bundestagswahlen die Wähler mit überwältigender demokratischer Mehrheit zu erkennen gegeben, dass sie damit kein größeres Problem haben. Wenn es der „guten Sache“ dient und in den Medien entsprechend dargestellt wird, finden sich auch für Beugungen des Rechtsstaates allemal Mehrheiten. Das gilt sogar für offen gegen die Rechtsordnung gerichtete Handlungen wie etwa die Gewährung von „Kirchenasyl“ oder die jahrelange Besetzung von fremden Häusern durch Linksautonome.
Kein Schutz vor Weltverbesserungs-Ideen
Daher ist festzuhalten, dass auch der Rechtsstaat trotz der grundsätzlichen Richtigkeit seines Prinzips keinen Schutz bietet, den Weltverbesserungsideen und Menschenexperimenten der jeweiligen Machthaber ausgesetzt zu werden. Und auch das Demokratieprinzip schützt keineswegs vor der Aushöhlung oder Umdeutung rechtlicher Prinzipien.
Ein Patentrezept dagegen gibt es nicht. Die einzige Abhilfe ist der Wettbewerb.
Man stelle sich vor, sowohl Österreich als auch die Schweiz wären Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland. Es gäbe weder einen Sebastian Kurz noch das Recht zu Volksabstimmungen. Es sind aber gerade diese Beispiele, die einen gewissen Druck auf die deutsche Regierung ausüben, nicht alles zu tun, was ihr beliebt, trotz ihrer Mehrheit in den Gesetzgebungsorganen, ihrer überwältigenden Unterstützung durch die Medien und des Stillhaltens der höchsten Gerichte.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Zahl der unterschiedlichen Systeme erhöhen, nicht verringern. Und deshalb ist es so wichtig, dass kein europäischer Bundesstaat geschaffen wird und schon gar keine Weltregierung. Denn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden diese ihr Gesetzgebungsmonopol auch gegen den Willen der Betroffenen einsetzen und schließlich missbrauchen.
Titus Gebel ist Unternehmer und promovierter Jurist. Er gründete unter anderem die Deutsche Rohstoff AG. Zusammen mit Partnern arbeitet er derzeit daran, die erste Freie Privatstadt der Welt zu verwirklichen. Der Beitrag beruht auf seinem Buch Freie Privatstädte – Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt, in dem er auch gesellschaftliche Grundsatzfragen untersucht.