Tier sind die besseren Menschen
Das Schicksal hat meiner Freundin Heike übel mitgespielt. Sie bekam zwei Kinder, süße blonde Zwillings-Mädchen, die obendrein die Frechheit besaßen, kerngesund zu sein. Als wäre das nicht schlimm genug, bürdete ihr der Herrgott auch noch eine vergleichsweise schmerzfreie und komplikationslose Geburt auf.
So fühlte sie seit der Geburt eine innere Leere, die sich durch kein Kinderlachen und keine beruflichen Ziele füllen ließ. Es bestand akuter Handlungsbedarf: Sie musste sofort jemanden Bedürftigen finden, um ihm zu helfen, sonst würde sie bald selbst Hilfe brauchen. Ihr war bewusst, dass die eigenen Kinder als Charity-Projekt ungeeignet waren. Dafür waren sie zu glücklich und fidel.
Heikes ganze Phantasie war gefordert, um eine Lösung zu finden, wie sie ihre leerlaufende Hilfsbereitschaft angemessen kanalisieren und vor allem präsentieren könnte. Die Lösung war bald gefunden: Tiere.„Denn Tiere brauchen immer Hilfe und können uns so viel zurückgeben.“ Heikes Lieblingsspruch, den sie meist geschickt am Ende einer Tischdiskussion platziert. Somit gehört ihr der Schlussapplaus. „Tiere sind die besseren Menschen, weil Menschen nicht Menschen, sondern Monster sind.“ Ein weiteres Zitat von ihr.
Behandle doch der Mensch die Tiere grundsätzlich schlecht, meint Heike und schämt sich regelmäßig für ihre eigene verkommene Art. Er verkennt ihr kognitives wie spirituelles Potential und will ihnen im Endeffekt sowieso nur an den Kragen gehen. Beziehungsweise an den Verdauungstrakt. Führt er doch nichts anderes im Schilde, als jene empfindsamen Lebewesen durch den Fleischwolf zu drehen und getrieben durch barbarische Lust am Leid, den blutigen Brei ihrer geschundenen Leiber zurück in einen Wurstdarm zu pressen. „Das Ganze nennt sich dann Bratwurst. Und wir nennen es Esskultur“, pflegt Heike nach jeder ihrer sehr plastischen Schilderungen dieses Vorgangs provokant in den Raum zu stellen, dessen gewahr, nach der obligatorischen Schrecksekunde ihrer Zuhörer überbrandende Anerkennung zu ernten.
Tiere eigenen sich als prestigeträchtiges Aufgabenfeld für Menschen in der Öffentlichkeit geradezu hervorragend, um im rechten Licht wahrgenommen zu werden. Außerdem können Tiere nicht fliehen, wenn man ihnen mit Nachdruck zur Hilfe kommt. Ein großer Vorteil gegenüber vermeintlich bedürftigen Menschen. Nicht zu vergessen: Tiere sind immer in Mode und nie out. Das macht sie gottseidank zu einem zeitlosen Aushängeschild.
Um Publikum, das ihrer aufopfernden Hilfsbereitschaft applaudierend beiwohnt, muss sich Heike keine Sorgen machen, denn sie ist Schauspielerin.
Schauspieler sind in Punkto Wohltätigkeit ein nicht zu unterschätzendes Humankapital, denn sie haben Zeit. Und Energie. Und sehen dabei erstaunlich gut aus. Weil es aber peinlich wäre, öffentlich zuzugeben, man helfe dem gestrandeten Seeelefanten unter anderem nur deshalb, weil man der einzige ist, der Zeit und Geld dafür hat, stellt man das anders dar. Eleganter. Beifall erzeugend.
Heike beherrscht dieses Spiel virtuos. Sie spende ihre gesamte Freizeit voll und ganz den Tieren. Denn sie sei sich bewusst darüber, in ihrem Leben großes Glück gehabt zu haben. Dafür empfinde sie tiefe Dankbarkeit und Demut. Sie möchte einfach einen Teil dieses Glücks zurückgeben, und zwar den Schwächsten: den Tieren.
Insofern bleiben locker acht Monate arbeitsfreie Zeit übrig, um indonesischen Affen und andalusischen Straßenhunden so gründlich auf die Nerven zugehen, dass alle beteiligten Lebensformen froh sind, wenn der ADHS-gepeinigte Mime endlich wieder für fünf Drehtage nach Cornwall zu melodramatischen Steilküstenspaziergängen ausgeflogen wird.
Heike ist zur allgemein anerkannten Rächerin der Entrechteten aufgestiegen. Sie ist quasi der Batman aller Tiere des blauen Planeten. Denn nicht nur national hat sie sich ihre Position erkämpft, sie operiert auch auf internationalem Terrain. Für ihre fast schon metaphysische Beziehung zu Tieren ist sie mittlerweile bekannter als für ihre eher hausbackene Schauspielkunst. Heike unterhält an der Costa del Sol ein Hospiz für in die Jahre gekommene drogensüchtige gehörgeschädigte streunende Hunde ohne festen Wohnsitz.An der nördlichen Mittelmeerküste Spaniens hat sie einen Gnadenhof ins Leben gerufen, der langzeitarbeitslosen Pferde mit auffällig kleinen Geschlechtsorganen - die darunter ihr Leben lang zu leiden hatten - eine Heimat bietet. Auffällig ist, dass Heike keinerlei Dependenz nördlich des 53. Breitengrades unterhält. Ihre Hilfsbereitschaft konzentriert sich neben ihrer Heimatstadt Berlin hauptsächlich auf die Tropen, Subtropen sowie den Mittelmeerraum. Unter Palmen scheinen Tiere besonders hilfsbedürftig zu sein.
Meine Freundschaft mit Heike begann übrigens als Unfall. Ich verpasste seither schlichtweg jede Gelegenheit, sie aufzukündigen. Denn Heike und ich haben nur eine sehr geringe Schnittmenge. Ich bin keine Vegetarierin, sie schon. Sie lebt für Tiere, ich dulde höchstens deren Koexistenz, sofern diese friedlich und unauffällig von statten geht. Sie braucht Applaus zum Leben, ich höchstens ein freundliches Guten Tag.
Der Unfall, der zu unserer einseitigen Freundschaft führte, wurde durch ihren 150 Bruttoregistertonnen schweren Leonberger provoziert. Ich lag auf einer Wiese im Stadtpark und arbeitete gerade ausgiebig an meiner Hautkrebs-Desensibilisierung unter der prallen Mittagssonne, als er sich wie ein herabstürzender Meteorit auf mich stürzte.
Heike konnte den „trottelig verspielten“ Riesenhund nur mit hohem technischem Aufwand von mir trennen, so sehr hatte er sich in mich verliebt. Nach zwanzig Minuten unerbittlichen Kampfgetümmels zwischen Heike, ihrem geliebten Leonberger und vier herbeigeeilten stattlichen Rentnern, kam ihr ein potenzielles neues Spielgerät für den „kleinen Racker“ in den Sinn. „Hundi, fang das Balli!“, schrie sie dem Tier begeistert zu, das dem gelben Ding erfreulicherweise mit einem mal mehr Aufmerksamkeit schenkte, als bleichen Großstädterinnen mit sichtbarem Hang zu Nahrungsmitteln von hoher Energiedichte, die sich in der Sonne grillten.
„Hundis“ schlagartige Absenz gab mir die Chance, meine Einzelteile zu sortieren, jedoch beanspruchte das Verschwinden mehrerer zuvor sorgfältig abgelegter Kleidungsstücke meine Improvisationsfähigkeit stark, sodass ich Heikes Einladung auf „eine Chai-Latte“ versehentlich annahm. „Das ist nur passiert, weil er gerochen hat, dass du Fleischkonsumentin bist“, erklärte Heike, als sie mir widerwillig half, zurück ins Leben zu finden. Spätestens bei der darauffolgenden Chai-Latte hätte ich mir damals schon denken können, dass das nichts wird mit uns beiden.
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