Samira El Ouassil und Dominic Boeer / 07.09.2014 / 20:27 / 0 / Seite ausdrucken

Sagen Sie jetzt nix (Folge 5)

„Plastikschaufeln sehen wir gar nicht gerne.“

„Der heutige Tagesordnungspunkt steht ganz im Zeichen eines widerwärtigen Verbrechens“, verkündet Hannes um Punkt 17:00 Uhr im Sitzkreis. Er wirkt sehr ernst. „Meine Frau Karen hat heute Morgen um genau 10:47 Uhr einen grünen Plastikrechen mit dazugehörigem, ebenfalls grünem Plastikeimer im Einzugsgebiet der Rutsche aufgefunden. Beide Gegenstände waren mit dem albernen Konterfei einer völlig überzeichneten, vermenschlichten Biene bedruckt. Hat jemand dazu etwas zu sagen?“ Er sieht streng in die Runde.

Betretenes Schweigen. Einige scharren nervös mit den Zehen im Sand.„Sowohl der Plastikrechen als auch der Plastikeimer wiesen im Bereich der Griffe Wärmeunregelmäßigkeiten auf, die darauf schließen lassen, dass sie noch kurz vorher benutzt wurden. Der Verbrecher muss also gegen 10:45 Uhr überstürzt den Spielplatz verlassen haben. Gibt es dazu relevante Augenzeugenbeobachtungen?“ Allgemeines Räuspern. Die Blicke sind auf den Boden gerichtet.

„Damit nicht genug. Meine Frau folgte einer Schleifspur, die sie zur Schaukel führte. Was sie dort fand, übersteigt die menschliche Vorstellungskraft bei Weitem: ein rosarotes Kunststoff-Einhorn.“ Hannes Stimme bricht. Er sieht zur Seite.

Für einen Moment scheint sich der azurblaue Frühsommerhimmel dunkel zu bewölken. Das liebliche Zwitschern der Vögel klingt plötzlich disharmonisch verzerrt, regelrecht bedrohlich. Die bis dahin laue, fünfundzwanzig Grad warme Brise dreht scharf auf Nord-Ost und lässt uns fröstelnd die Nackenhaare zu Berge stehen. Die fröhlichen Kinderstimmen aus dem Sandkasten klingen mit einem Mal gedämpft, wie aus großer Ferne zu uns herüber. Nach einigen Momenten absoluter Stille, nur das Schmatzen von Lilli Bang Mbheka Rosamunde, die gerade gestillt wird, war zu hören, finden die ersten ihre Fassung wieder.

„Nicht auszudenken“ „Ekelhaft“ „Menschenverachtend“ „Wie kann so etwas passieren?“ „Mitten unter uns?!“ „Es ist, als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen!“ „Das kommt davon, wenn man Kinder ohne Werte aufwachsen lässt.“ „Schrecklich, einfach schrecklich.“ „Was sind das nur für Menschen?“ „Und wir, die Solidargemeinschaft, müssen wieder die Konsequenzen tragen, wenn so einer dann entwicklungsgestört und krank im Heim landet. Oder durchdreht.“ „Kinder sind immer die Opfer falscher Erziehung.“ „So etwas geht meist über mehrere Generationen, bis endlich einer aus dem Kreislauf ausbrechen kann.“ „Gut, das Karen der Sache nachgegangen ist.“ „Wenn wir Karen und Hannes nicht hätten…. Nicht auszudenken, in welchen Zuständen unsere Kinder dann leben müssten…“

Die empörten Eruptionen der im Schneidersitz um Karen und Hannes versammelten Menge nimmt minutenlang kein Ende. Durch die Bank handelt es sich um hochengagierte Eltern mit so individuell benanntem Nachwuchs, dass alle Namen fast gleich klingen. Das sorgt regelmäßig für Chaos, wenn ein bestimmtes Kind aus dem Sandkasten heraus weg kommandiert werden soll, um sich zur punktgenauen Homöopathie-Einnahme einzufinden.
Karen und Hannes verfolgen todernst mit radikalisiertem Weltverbesserer-Gesichtsausdruck (abgeschaut bei Renate Künast) die Reaktionen auf ihre Hiobsbotschaft. Karen säugt dabei mit ostentativ entblößter Brust ihre kleine Lilli Thai Bang Mbheka Rosamunde, während ihr Hannes den dritten Nackenwirbel massiert. (Eine Technik, um den Milchstrom zu stimulieren und alle psychischen Barrieren zu lösen, die einem ungehinderten Austritt der Muttermilch im Wege stehen könnten. Altes Maja-Wissen, leider in unserer Industriegesellschaft völlig in Vergessenheit geraten.)

Karen und Hannes sind die Alleinherrscher eines Imperiums. Sie stehen an der Spitze des von ihnen selbst gegründeten totalitären Spielplatz-Regimes, unter dem Deckmantel von Demokratie, Weltoffenheit, großstädtischem Multikulti-Denken, Liberalität und eines nachhaltigen Lebensstils.
Sie sind Großgrundbesitzer und Meinungsmacher. Sie kontrollieren Import und Export aller Spielwaren, lenken sämtliche Geldströme auf Spendenkonten, zensieren das Nahrungsmittelangebot und steuern den Tauschhandel von Kinderbekleidung. Des Weiteren bestimmen sie sowohl die jeweils aktuelle Glaubensrichtung, als auch welche politischen-, gesundheitlichen- und gesellschaftsrelevanten Themen gerade en vogue sind.
Bei Karen und Hannes laufen alle Fäden zusammen. Karen und Hannes Imperium beschränkt sich nicht nur auf den Kreuzberger Kinderspielplatz, auf dem alles angefangen hatte. Ihr Einfluss greift längst auch auf andere Spielplätze über. Sogar die Regionalpolitik hat eingesehen, dass Widerstand zwecklos ist, und folgt ihnen aufs Wort.

Karen macht beruflich etwas mit Medien und regenerativen Energien. Hannes irgendwas mit Solaranlagen und Internet. Oder war es umgekehrt?
Wenn man sich ihnen fügt, genießt man Schutz und ist Teil der Familie. Wenn man allerdings ihre Meinung in Frage stellt, speziell in punkto Plastikspielzeug, hat man ein Problem. Es kursieren Gerüchte über das unfassbare Ausmaß an Unglück, das über die Leute hereinbrach, die genau das wagten. Sie hätten angeblich keinen Boden mehr unter die Füße bekommen. Kreuzbergweiter Kinderspielplatzverweis für sie und ihren Nachwuchs.

Ihre Nahmen verschwanden wie von Geisterhand aus Kita-Platz-Wartelisten. Ihr Ökostromanbieter kündigte von einem Tag auf den anderen den Vertrag mit ihnen. Die selbst gezogenen Tomaten ihres city-gardening-Projektes verfärbten sich über Nacht violett und vielen vom Strauch. Der ergonomische 3000-Euro-Kinderwagen im Retro-Design brannte aus. Postwurfsendungen von biologisch-dynamisch-nachhaltigen Sushi-Lieferdiensten wurden nicht mehr ordnungsgemäß zugestellt. Freunde wendeten sich ab. Die charmant knarzenden Dielen ihrer schicken Altbauwohnungen fingen an zu schimmeln. Der persönliche Gemüsetürke erinnerte sich plötzlich nicht mehr an ihre Namen. Der tägliche Fair-Trade Latte-Macchiato to go im kompostierbaren Becher verlor seine charakteristische Bio-Torf-Note, schmeckte auf einmal schal, regelrecht ekelhaft. Fast wie Melita-Kaffee.

Berichten zu folge schimmerte er so karzinogen in allen Regenbogenfarben, das man glauben konnte, im Becher befände sich reines Rohöl. Kurz gesagt: sämtliche Betroffene verließen innerhalb weniger Wochen zermürbt und entkräftet, meist auch familiär zerrüttet und finanziell am Ende, den Stadtteil.Meine Schwester und ihr Sohn entgingen einst nur knapp einem ähnlichen Schicksal.

Die Plastikschaufel meines Neffen Stefan stellte einen Affront ungeahnten Ausmaßes dar. Sie war mit der Familie erst kürzlich in die Gegend gezogen und kannte die Gepflogenheiten des neu entdeckten Spielplatzes noch nicht. Außerdem war ihr nicht klar, dass dessen Existenz nur Karen und Hannes geschuldet war, hatten sie sich doch heroisch gegen den Bau einer an dieser Stelle geplanten Tiefgarage erhoben. „Kinder statt KFZ!“, „Ahorn statt Auspuff!“, „Blumen statt BMW!“. Mit diesen markigen Parolen, riesigen Spruchbändern und resistenten Sitzblockaden retteten sie militant pazifistisch die grüne Oase inmitten der grauen Großstadt. Somit verdankt sämtlicher Nachwuchs der Nachbarschaft seine artgerechte Entwicklung - ach was, seine gesamte Existenz - letztendlich nur Karen und Hannes und ihrem unermüdlichen Einsatz für das Leben. Nur wusste sie das damals nicht. Und ich leider auch nicht.

„Plastikschaufeln sehen wir gar nicht gerne.“, säuselte Hannes in mein Ohr, nachdem er lautlos hinter mich getreten war. Ich hatte heute meinen Neffen abgeholt und zum Spielplatz gebracht. Schwer und merkwürdig weich zugleich lag seine Hand auf meiner Schulter. Ich erschrak und entgegnete scherzhaft: „Aber mein Neffe Stefan möchte später einmal ein Abrissunternehmen leiten. Dort wird auch nicht ohne Schaufeln gearbeitet.“ Hannes blickte mich mit eingefrorenen Gesichtszügen an. Er sog scharf die Luft ein. „Nun, aber wir begrüßen es an diesem Ort der Harmonie, wenn die Kinder lernen, ohne giftiges Spielzeug zu spielen. Außerdem fördert die Abwesenheit von ansonsten ständig verfügbarem erdölbasiertem Spielgerät nachweißlich die Phantasie und die Gesundheit.“ Ich traute meinen Ohren nicht und wendete mich lachend meinem Neffen zu, um ihn beim Schaufeln zu unterstützen.

Mehrere Eltern pirschten sich danach an mich heran und versuchten, mich des allgemeinen Friedens wegen umzustimmen. Außerdem rieten sie mir, ihn individueller zu benennen. Das wäre hier üblich. Karen und Hannes erwarteten das nun mal so. Ich ließ mich nicht unterkriegen, blieb bei meiner Haltung. Am nächsten Tag betraten meine Schwester, ihr Sohn Stefan und ich das Gelände des Spielplatzes derart schwer mit Plastikspielzeug bepackt, dass wir alle zehn Meter kurz anhalten mussten. Man umringte uns. Stefan weinte und klammerte sich an mich.Von allen Seiten prasselte es auf uns ein. Trotzdem, wir blieben hart.

Erst als die anderen Eltern ihren Kindern den Umgang mit meinem Neffen verboten, wurde mir der Ernst der Lage bewusst. Am nächsten Tag fanden wir uns ohne Plastikspielzeug auf dem Spielplatz ein. Eine Entscheidung, die mir allgemeines Schulterklopfen einbrachte und mich unter den schützenden Schirm von „unsere Sache“, wie sich Karen und Hannes ausdrückten, holte. „Also hat niemand gesehen, wer für diesen Sondermüll in unserer Oase des Frieden verantwortlich ist? Wer hat den Plastikrechen, den Plastikeimer und das Plastik-Einhorn auf diesen Spielplatz gebracht? Wir wissen, dass es einer von euch ist. Sonst wäre derjenige nicht angehauen. Wer ist es?“, faucht sie.

Zitternd erhebt sich ein Mann aus der Menge. Sein Kinn bebt. „Ich“, haucht er. „Ich war’s. Ich habe mit meinem Sohn Darius Finn Lynn Excelsior Kishon Hydrant Moses heute Vormittag mit den…“ er schluckt, kann für einen Moment nicht weitersprechen, „… mit den Plastiksachen gespielt.“
Karen und Hannes sehen ihn lange regungslos an. „Weg“, zischt Karen. Sie wendet sich angewidert ab. Hannes schüttelt persönlich enttäuscht den Kopf. Der Mann rennt zur Rutsche, reißt fahrig Darius Finn Lynn Excelsior Hydrant Moses an sich und huscht mit ihm gebeugt vom Spielplatz.
Wir werden die beiden nicht mehr wieder sehen.

„Heute spielen wir dem Anlass entsprechend pädagogisch traurig mit unseren Kindern.“, befiehlt Karen knapp, als wir uns, noch ganz benommen, in Richtung Sandkasten aufmachen. Diese Demütigung war exemplarisch, dasselbe Schicksal konnte ich für Stefan nicht zu lassen. Gut, er zieht sich jetzt immer Holzsplitter beim Spielen in die weiche Kinderhand, da der Buchsbaumgriff seiner Holzschaufel natürlich ungehobelt ist und die kleinen Biokulturen, die sich auf dem feuchten Holz der neu erworbenen Spielzeuge bilden, sehen auch nicht wirklich gesund aus, aber meine Schwester wohnt halt so gerne hier.

Auszug aus dem neuen Buch von Samira El Ouassil und Dominic Boeer “Vegetarier essen meinem Essen das Essen weg”. Hier bestellen

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