„Es ging spazieren vor dem Tor/ein kohlpechrabenschwarzer Mohr…“ Darf der das? Darf er noch „schwarz“ oder (zugegebenermaßen absurd) „farbig“ sein? Oder vielleicht doch ein afroamerikanischer Bruder mit Migrationshintergrund?
Noch ist nicht ganz klar, ob die rührende antirassistische Parabel aus dem „Struwwelpeter“ von 1845 („was kann denn dieser Mohr dafür,/dass er so weiß nicht ist, wie ihr?“) den deutschen Kinderbuchverlagen noch zeitgemäß erscheint. Gerade ist der Thienemann Verlag dabei, die „Negerlein“ aus Otfried Preußlers „Kleiner Hexe“ zu entfernen, nachdem Pippi Langstrumpfs Vater vom „Negerkönig“ zum „Südseekönig“ umgeschult wurde. Es ist vor allem nicht ganz klar, nach welchen Kriterien hier Worte geklaubt werden: Ist die Vokabel als solche tabu? Entscheidet das ungute Empfinden des solcherart Benannten darüber, was gesagt werden darf? Oder ist der Hinweis auf das Anderssein - in diesem Falle - stärker pigmentierter Mitmenschen allein schon anstößig?
In letzterem Falle müsste selbstverständlich auch der gute Mohr dran glauben. Wenn herabsetzende, übelwollende Verwendung von Vokabeln Grund genug für die Operation „TippEx“ ist, müsste nicht nur Eskimo, Zigeuner oder Indianer auf dem Index stehen, sondern beispielsweise auch Jude, Mongole oder Türke, die in ganz unterschiedlichen historischen Kontexten geschmäht wurden.
Zensur ist, wenn man’s trotzdem macht. Es ist mehr als absurd: Was bei politischen Texten in gestandenen Demokratien tabu ist, fordert nun ausgerechnet bei Klassikern der Kinderliteratur prominente Opfer. Säuberung im Kinderzimmer! Derweil in der Erziehung des jungen Menschen pädagogischeToleranz bis zur völligen Entgrenzung für zeitgemäß gehalten wird, hält im Reich kindlicher Feen, Zauberer und Superhelden ausgerechnet bei frühestenDenk- und Phantasievorlagen eine zeitgeistbereinigte Dogmatik Einzug, die sprachlos macht. Zumindest Zeitgenossen, die real existierende Ideologie-Systeme noch erlebt haben. „Das tut man nicht!“ – ist out. „Das sagt man nicht!“ – voll korrekt.
In der „Welt“ argumentiert Wieland Freund zugunsten unanstößiger Editionen, dass man beim Vorlesen andernfalls innehalten und erklären müsse, wenn da anrüchige Worte stünden. Das ist ein interessanter Ansatz: Korrekte Pletteisen-Texte zur Erklär-Vermeidung.Grimms bekömmliche Märchen statt Auseinandersetzung mit dem Originaltext! Die Welt fein angerichtet: Passt schon! Als wäre nicht gerade dieser gemeinsame Rundflug mit Mama/Papa, Buch und wüsten Helden das lebenslang prägende, unvergessliche Faszinosum! „Was heißt: Sieben auf einen Streich? Was ist eine Elle? Kann man sich an einer Spindel wirklich stechen?...“ Aber zu erklären dass „Neger“ von Schwarz kommt und ein altes Wort für Schwarze ist, ist offensichtlich eine unzumutbare pädagogische Herausforderung.
Vor allem aber: Wo soll dieser Wahnsinn enden? Darf/soll/kann/muss man erklären, welchen Hintergrund die häufige Erwähnung von „Jungfrauen“ in Märchen haben, obwohl heute niemand mehr „rein“ in die Ehe geht? Oder schreibt man künftig besser „Mädchen“? Wie rabiat dürfen Zauberwelten in Zeiten gewaltfreier Erziehung noch sein? Ist das Töten vonDrachen unter dem Gesichtspunkt des Artenschutzes überhaupt vertretbar? Sollte beim Festgelage vegetarische Kost gereicht werden?
Um es klar zu sagen: Genau so, wie man historische Bilder nicht übermalt, Rubens-Mädels nicht züchtig kleidet, Jesus am Kreuz nicht nett zurecht macht und alte Schriften nicht umschreibt, genau so muss das Prinzip der Authentizität grundsätzlich verteidigt werden. Sonst kommt der Fischer mit seiner nörgelnden Frau bald auf die schwarze „Emma“-Liste und die rauschenden Feste – drei Tage und drei Nächte lang – werden ein Fall für Food Watch und die Zentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Wir lassen uns keine Märchen erzählen! Zumindest keine korrekten!