Jesko Matthes / 13.08.2017 / 13:21 / Foto: istolethetv / 1 / Seite ausdrucken

Rutsch’ mal in die Mitte

Von Jesko Matthes.

Waren Sie schon einmal unglücklich verliebt? Erinnern Sie sich an diesen süßen Zustand schmachtender nervlicher Anspannung und wohliger Tristesse, in dem man am Gegenstand seiner Sehnsucht langsam lustvoll verzweifelt? - Von solchen Gegenständen soll heute die Rede sein, gewissermaßen also von einer emotionalen Auto-Biographie. Als Kleinkind trieb ich meine hochkultivierte Großmutter in den Wahnsinn, indem ich mit drei Jahren alle Automarken und Typen auf der Straße aufsagen konnte, aber keinen Baum und keinen Vogel kannte. Ich erinnere mich an nichts. Autos, so wurde mir erzählt, waren meine allererste Liebe.

Aber, lassen Sie mich den Schleichweg nehmen. Meiner ersten Liebe, ich verfolge sie erfolglos seit der Grundschule, bin und bleibe ich treu. Sie ist schöner als ich, was noch kein Kunststück ist, harmonischer, was schon schwieriger ist, eindeutiger und vor allem intelligenter, sie hat immer Recht. Es handelt sich um die Mathematik. Mein Vater, Bank- und Versicherungskaufmann, Rechen- und Skat-Genie, über 40 Jahre Schatzmeister des Berliner CDU-Ortsverbands „Taunus“, benannt nach einer Straße, nicht nach dem gleichnamigen Fahrzeug von Ford, das meine Eltern damals fuhren, rotiert heute noch auf der Wolke ob der grandiosen Teilleistungsstörung seines Sohnes, der ein glänzendes Zahlengedächtnis hat - man kann mich nachts um drei wecken und die Telefon- und Faxnummern nahezu aller auch nur peripher befreundeten Arztpraxen herbeten lassen - , aber bereits am Großen Einmaleins gescheitert ist. Für den Dreisatz benötige ich heute noch einen Zettel, einen Stift und einen Taschenrechner. Es kann also sein, dass der zehnjährige Bengel, der einem Akademiker mit zwei Facharzt-Titeln gegenüber sitzt, die Dosis seines Medikaments pro Kilogramm Körpergewicht und Tag schneller im Kopf berechnet als ich mit meiner idiotensicheren Methode. So ist das nun einmal mit der Mathematik, ich liebe sie und finde sie faszinierend, sie liebt mich nicht und findet mich bekloppt, ein Zustand, den ich immer besser kennen lernen sollte.

Beatrix hat mich nie geküsst. Margit schon, zaghaft, neben ihrem Meerschweinchenkäfig. Patricia beim Flaschendrehen zur Musik von ELO, Turn to stone . Mit Sigrid hielt ich Händchen im Kino und bewunderte Jean-Paul Belmondo in Der Profi, doch danach blieb Sigrid verschwunden. Sie war zuhause ausgerissen und in ein besetztes Haus in Kreuzberg gezogen, wo es statt Händchenhalten Haschisch gab und freie Liebe. Christine küsste mich, bis mein Kumpel Wuffi kam, der bereits eine eigene Bude hatte, und vor allem: ein Auto. Sei ein guter Verlierer, sagte Papi, das Mathe-Skat-Genie, wenn er bereits ohne Auszählen drei Stiche vor Ende des Spiels erkannt hatte, dass mein windiges Blatt nur für 60 Punkte reichen würde. Ich war ein guter Verlierer, konnte mein Elend daher Christine und Wuffi nicht nachtragen.  Anschließend war ich knapp zehn Jahre Cordula treu, ohne je zum Zuge zu kommen. Ich bin vom Sternzeichen her Steinbock, also ehrgeizig, durchsetzungsfähig und potentiell potent für eine ganze Herde Bergziegen, aber mein Aszendent muss Jungfrau sein.

Irgendwann war ich so frustriert, dass ich, wie peinlich, meine Eltern zu Rate zog. Sie reagierten gelassen. O-Ton Mutter: Ich weiß doch, dass mein Junge ein Spätzünder ist. Vergiss das Kondom nicht, wenn es passiert. O-Ton Vater: In das Geschäft steigst du noch früh genug ein. Nach diesen tröstlichen Worten griff ich zum neurotischen Mittel der Sublimation. Meine erotische Energie steckte ich in besessenes Lernen, das sich durchweg in glänzenden Noten niederschlug. Na ja, fast durchweg, bis auf Biomathematik und medizinische Statistik, Sie ahnten es schon.

Triumph kannte meine Mutter nur als BH-Marke

Zwischendurch las ich Dostojewskij und Lermontow: Aha, man kannte den Zustand. In Der Spieler offenbart der Protagonist, er würde seiner Angebeteten mit der selben Lust in die Arme sinken wie ihr einen Dolch in die Brust stoßen. Und Ein Held unserer Zeit gibt zu, er könnte sich eventuell verliebt haben, eine solche Dummheit sei ihm zuzutrauen.

Dann, ich war nach Lüneburg gezogen und gefühlt bereits ein Oldtimer, kam A., die heute Internistin in einer hübsch stufengiebligen Hansestadt ist, die Mann einfach kennen muss. Sie befreite mich nach Monaten des Kuschelns in einer lauen Spätsommernacht von meinem Aszendenten, beginnend mit den sachlich-norddeutsch geflüsterten Worten: Rutsch' mal in die Mitte.

Womit wir zwanglos bei meiner dritten unglücklichen Liebe gelandet wären: Oldtimer. Denn auch in dem Auto, um das es eigentlich geht, konnte man auf der durchgängigen, rot belederten Vorderbank in die Mitte rutschen. Eine Mittelkonsole gab es nämlich nicht, dafür eine gezähnte krachende Raste von Handbremse mit Pistolengriff links des Lenkrads und eine Lenkrad-Schaltung. Zugelassen war das Gefährt, das aussah wie die Auto gewordene Eleganz des Ludwig Erhard , für die Beförderung von sechs Insassen und wurde noch in meiner Jugend gern als Taxi genutzt: ein Mercedes 180 A Ponton, Baujahr 1958.

Ich nannte ihn „Ponti“, wie den Gemahl der Sophia Loren, und lernte ihn über meinen Oberarzt kennen. Der fuhr damals und fährt heute noch einen knallroten Triumph (als ich meiner Mutter davon erzählte, war sie irritiert, denn sie kannte die Marke, aber als BH). In der kleinen Werkstatt, die damals hier existierte, einen Steinwurf von meiner heutigen Praxis entfernt, da stand er: Groß, buckelig, in seinem taubenschissgrauen, stumpfen ersten Lack, völlig rostfrei, mit Meilen-Tacho, denn er stammte aus Kalifornien. Es war Anfang der 90er Jahre, die Oldtimer-Preise waren im Keller. Jo, der Chef der Schrauberbutze, grinste, öffnete die Motorhaube und drehte dann das Zündschlüsselchen. Mit einem satten „Klack“ sprang der Motor an, unverzüglich und schnurrend wie ein Raubkätzchen. Es war um mich geschehen.

Doch nun begannen die Probleme. Zuerst die menschlichen. Meine hochkultivierte Freundin A., die Medizinstudentin, Tochter ex-katholischer alt-achtundsechziger Besserverdiener, die einen Soziologen-Mercedes (sprich: alten Volvo) fuhren, hielt mich für total übergeschnappt. Sie hasste den Wagen auf den ersten Blick, wie alles Konservative, von mir einmal abgesehen – dachte ich. In Wirklichkeit war ihr aufgefallen, dass der Wagen, aus dem ein damals noch schlanker Endzwanziger sprang, anzügliche weibliche Blicke auf sich zog, die nicht ihren wasserblauen Augen entstammten. Sie war eifersüchtig auf einen Wagen, Baujahr 1958, und so erlebte ich mein blaues Wirtschaftswunder. Mutter, Traditionalistin, war – ebenfalls entsetzt: Was willst du mit der Bude? Zu dir passt ein schnittiger Sportwagen, nicht so eine Kiste für Fahrer mit Hut und Havanna.

Die Vorderachse des Guten

Gleich zwei Frauen, einander sonst herzlich abgeneigt, hielten gegen meinen Traum zusammen. Prompt begannen auch die technischen Probleme: Der Motor fing an zu husten. Ich fuhr zu Jo und lernte den Terminus Solex-Fallstromvergaser kennen. An diesem drehte Jo nonchalant eine Schraube um eine Viertel-Umdrehung, und wieder schnurrte das Raubkätzchen. Er klopfte mir auf die Schulter: Das kannst du auch, mein Junge. Im Werkstattradio dudelte Return of the Mack.

Aber auch der Schraubenzieher war gegen mich. Oder es war die falsche Richtung, als das Husten nach nur drei Tagen wieder auftrat. Nun soff Ponti im Leerlauf sofort ab. Also, dachte ich mathematisch, drehe ich eine halbe Umdrehung in die andere Richtung. Danach lief Ponti, aber es roch im Wagen nach Benzin, und der Husten war immer noch da. Ich fuhr zu Jo. Sein Schraubenzieher schien magische Kräfte zu besitzen, eine Viertel-Umdrehung, egal in welche Richtung, und der Motor schnurrte wieder.

Nach weiteren drei Tagen beschloss ich, erst einmal das Husten zu ertragen. Diese mangelnde Fürsorge nahm Ponti, der Gute, mir übel. Denn nun ergab sich das nächste Problem mit einer Viertel-Umdrehung. Die brauchte ich jetzt nämlich, bis die Lenkung dazu beitrug, Pontis Fahrtrichtung zu verändern. Kurven wurden zu einem schwer kalkulierbaren Abenteuer. Im OP redete mein Triumph-Oberarzt von Achsaufhängung und Spurstangen, das sei kein Problem, das könne ich selbst machen, er, der begnadete Unfallchirurg, würde es mir in seiner Garage, die in Wirklichkeit eine Werkstatt ähnlich unserem Knochensaal im OP war, zeigen. Ich gab es endlich zu: Von Autos hatte ich keine Ahnung. Also fuhr ich doch lieber zu Jo. Der zeigte mir erst einen auf Hochglanzpapier gedruckten Ersatzteilkatalog von Mercedes-Classics und einen auf holzigem Papier gedruckten Katalog von nachgemachten Ersatzteilen für Ponti. Mir kamen, trotz meines sehr weitgehenden mathematischen Unverständnisses, in beiden Fällen erste Zweifel.

Doch ich hielt zu Ponti. Über eine Kleinanzeige bekam ich eine Garage für 40 Mark im Monat, die ich per Einzugsermächtigung etwa drei Monate lang bezahlte, bis die Besitzerin den Einzug vergaß, was ich zunächst gar nicht bemerkte. Es war die billigste Garage der Welt, und dort stand er nun, der arme Ponti, von den Frauen meines Lebens gehasst und bespöttelt, von mir nicht zu beherrschen geschweige denn zu reparieren.

Ponti und das Schicksal

Inzwischen waren Jahre vergangen. Ponti war schön und rostfrei wie am ersten Tag. Er sprang hustend an. A. hatte inzwischen begonnen, mir vorzuwerfen, nun würde ich anderen Frauen hinterher blicken. Das tat sie so lange, bis ich sie vor die Tür setzte, um endlich anderen Frauen hinterher blicken zu können. Sie heiratete ein gutes Jahr später den Typen, mit dem sie bis Gold Star weiter getanzt hatte, als ich wegen der Nachtdienste aus dem Tanzkurs ausgestiegen war, und der heute Onkologe ist, zuständig also für Krebsgeschwüre.

Und auch Pontis Scheinwerfer sahen mich vorwurfsvoll an. Neben ihnen zeigten sich erste Pickel von Rost. Über A.s beste Feindin lernte ich R. kennen. Als wir R. und seine schwangere Frau zuhause besuchten, fiel ich kreidebleich aufs Sofa. Die ganze Wohnung war ein privates Ponti-Museum. Über mir hing der Schmalkühler, der auch meinen Ponti zierte, als Dekoration an der Wand. Matchbox-Pontis standen in der Vitrine neben Ponti-Postern. Als ich mich erholt hatte, erzählte ich von Liebeskummer. R. bekam feuchte Augen, aber nicht aus Mitleid.

Und so wechselte, nach A., auch Ponti den Besitzer, beide für einen Appel und ein Ei. R. reparierte Ponti eigenhändig und in Windeseile. Den Solex-Fallstromvergaser baute er aus, zerlegte ihn in Einzelteile, badete sie in Lösungsmittel, unterzog die Kleinteile einem Ultraschallbad, und der Husten verschwand. Im Beisein seiner schwangeren Frau sagte R.: Du hast mich zu einem glücklichen Mann gemacht. Danach schlief der Kontakt allmählich ein. Ein Vierteljahr später erfuhr ich, wie stolz R. Frau und Kind nach der Entbindung aus der Klinik abgeholt hatte, auf Pontis rotem Rücksitz.

Doch auch R. bekam Probleme, und schlimmere als ich. Als ich ihn ein Jahr später zufällig an der Kasse des örtlichen EDEKA traf, da blickte er aus traurigen Scheinwerfern, und er hustete wie Pontis Motor, als ich mich nach dem Befinden der motorisierten Familie erkundigte. R. hatte sich scheiden lassen, und mit Pontis Erlös hatte er die Scheidung bezahlt.

Ach, Ponti, das alles hattest Du nicht verdient. Du hattest keine Schuld. Wäre ich Dir bloß treu geblieben, nicht der Mathematik, nicht den Frauen. Dann wäre das alles nicht passiert.

P.S. Schleichwerbung war unvermeidlich, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind Absicht.

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Leserpost

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Klaus Untner / 14.08.2017

Diagnose : Falsche Automarke. Meine Geschichte ist im Prinzip genauso aber : 1. handelte es sich bei der Automarke nicht um den Stern, sondern um die Südfrucht mit dem Doppelwinkel 2. habe ich mittlerweile gelernt, die Macken von einer der beiden in diesem höchst vergnüglich zu lesendem Text genannten Spezies zu kurieren. Schöne Geschichte, Herr Nachbar mit dem gleiche Ortkennzeichen !

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