Die Überraschung des Tages ist es nicht. Nur wer noch nie etwas von Russland gehört hat, wird sich am heutigen Morgen darüber wundern, dass das Land seinen nackten Oberkörper wieder hat. Nein, ich beliebe nicht zu scherzen. Es ist mittlerweile Putins Markenzeichen. In Magazinen und sonstigen Medien folgen seine beschwichtigenden Worte meist dem dort abgelichteten nackten Führungs-Oberkörper.
Geht man davon aus, dass Russland sich irgendwie immer an Europa gemessen hat, am Westen, und dass das alles zunächst einmal nicht weitergeführt hat als zu einer komplexen Nachbarschaft, so ließe sich getrost sagen, der nackte Oberkörper ist die russische Version des amerikanischen Playboy. Oder ist es doch nur der zu Unrecht vergessene Marlboro-Mann?
Russland ist im Lauf der Zeit viele von oben verordnete Schritte gegangen, die das Land allesamt nicht weiter brachten, und schon längst nicht näher an Europa heran führten, außer dass sie es zum großen europäischen Spieler werden ließen. Im 19. Jahrhundert war das Zarenreich an entscheidender Position im diplomatischen Gleichgewicht des Wiener Kongresses beteiligt und im 20. Jahrhundert konnte es im Gefolge des Zweiten Weltkriegs sogar einen Eisernen Vorhang in Mitteleuropa platzieren.
Man kann von Russland fasziniert sein, enttäuscht, man kann darüber aber auch wie über eine Gesellschaft vom Mars denken. Das eigentliche Problem sind die Sinnestäuschungen, derer sich die russische Gesellschaft bedient. So hat das Land alles, was ein moderner Staat braucht, aber die betreffenden Institutionen sind Hüllen. Ja, in Russland gibt es eine Opposition, und sie ist nicht erst vor Kurzem entstanden. Es gab sie immer schon, sogar in den Zeiten eines Breschnew, als man zwar nicht die Wahl zwischen Sacharow und Oblomow hatte, aber die Option.
Diese Opposition, die neuerdings auf die Straße geht, gilt offiziell als Ruhestörer. Putin sprach noch am Wahlabend davon, dass man alle geschlagen hätte, die Russland zerstört sehen wollen. Damit aber wären wir beim Hauptproblem Russlands, das auch der Stoff unseres Dilemmas angesichts des martialisch navigierenden russischen Staatsschiffs ist, für das sich offenbar keine ausreichende Abwrackprämie findet.
Russlands politische Klasse wirft ihre Kaderreserve auch jetzt wieder in ein abgekartetes Spiel. In diesem Spiel gelten einige Grundregeln. So hat die Macht in Russland, wer im Kreml sitzt. Das ist zur Zeit der nackte Oberkörper mit seinen Symbolen. Seine Herausforderer wirken lächerlich. Es handelt sich um Sjuganow, den ewigen Vorsitzenden der ewigen Kommunistischen Partei. Ihm auf dem Fuße folgt Schirinowski, ein Politclown, wie ihn unsere NPD gerne hätte, und danach, schon weit abgeschlagen, ein Milliardär.
Nein, in Russland muss man die Wahl nicht fälschen, die Öffentlichkeit ist ausreichend manipuliert und irreführend aufgestellt. Die Proteste allerdings werden weitergehen. Bleibt die Frage, wie die obskuren Teile der Macht, die bekanntlich auch vor Morden (an Journalisten) nicht zurückschrecken, in Zukunft sich zum Protest verhalten werden.
Die Politik des Kreml besteht traditionell weit gehend darin, Russland, den größten Flächenstaat der Erde, gesegnet mit äußerst günstigen Landwirtschaftsflächen und riesigen Rohstoffvorkommen, als gefährdet darzustellen. Man weiß zwar nicht so genau, wo und wann die Feinde um die Ecke kommen, dafür aber sucht man sich schon mal ausreichend falsche Freunde, wie jüngst den Syrer Assad.
Kurzum, Mütterchen Russland hat seinen Schwiegersohn wieder. Der kann jetzt für zwei weitere Amtsperioden die Hanteln bereitstellen, und eines ist sicher: Sie entsprechen der europäischen Norm.