Roger Köppel
Vor ein paar Jahren sass ich mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, bei einem Abendessen. Zur Diskussion stand die Zukunft der «Europäischen Verfassung». Es war Frühling 2005, im Sommer sollte über das gewaltige Dokument von über 200 Seiten abgestimmt werden. Nur die indische Verfassung war noch länger. Bar roso gab sich zuversichtlich. Vermutlich sah er sich bereits unter wehenden Fahnen bei der feierlichen Unterzeichnung.
Allerdings zogen am Horizont die ersten Gewitterwolken herauf. In den Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten war die Zustimmung gross. Sogar eine erste Volksabstimmung in Spanien war erfolgreich, was allerdings nicht weiter verwunderte, da die Spanier zu diesem Zeitpunkt über sechs Milliarden Euro an jähr lichen Subventionen aus Brüssel kassierten. Skepsis aber zeichnete sich heftig in Deutschland ab, auch in Grossbritannien, sogar in Frankreich.
Barroso machte auf Sorglosigkeit und Zuversicht. Wir sassen in einem eleganten Berliner Restaurant im ersten Stock. Ich stellte die Frage, was er zu den negativen Umfragen meine, aber auch zu den Argumenten der Verfassungskritiker. Dann folgte der Satz, der alles sagte. Bar roso starrte mich an, arretierte seinen Kopf in leichter Schieflage und brachte dann seinen rechten Zeigefinger wie ein Stilett in Position:
«Nur Nationalisten, Kommunisten, Rechtsextreme, Populisten, Spinner und Verrückte sind gegen die Verfassung. Wir werden gewinnen. Haben Sie noch eine Frage?»
Es war der Moment, als mir die tragische Verirrung dieses Mannes fast körperlich greifbar schien. Instinktiv merkten alle am Tisch: Diese Verfassung wird an den Urnen untergehen. Sollte die EU wirklich die Dummheit besitzen, die Leute jemals über dieses Monument der Abgehobenheit, der Anmassung und der Verblendung abstimmen zu lassen – es würde zu einer herrlich knallenden Ohrfeige für den so eloquent an der Wirklichkeit vorbeiredenden Chefkommissar aus Portugal werden. Tatsächlich stimmten die Niederländer und die Franzosen bald darauf gegen die europäische Ver fassung. Alles Spinner?
Etwas Zweites wurde bei diesem merkwür digen Abendessen deutlich: Das Problem sind nicht die von Barroso verunglimpften «Nationalisten, Kommunisten und Populisten». Das Problem sind die Barrosos. Hier redete ein nicht gewählter Funktionär aus dem Hochsitz seiner Ideologie, seiner Vorurteile, seiner Realitäts verweigerung. Widerspruch, das noble Institut der Opposition: Das waren für Barroso nur psychiatrische Störungen oder Ausdruck eines bösen Willens.
Wie schlimm muss Europa dran sein, wenn solche Leute in Brüssel das Zepter führen?
An den letzten Europawahlen marschierten Barrosos Spinner, Nationalisten und Popu listen nochmals durch. Das Unbehagen an der vom Portugiesen vertretenen EU wächst. Ich kenne eigentlich niemanden mehr, der die EU und ihre Führungseliten aus voller Überzeugung gut findet. Die meisten, die heute noch für Brüssel sind, sind es nur deshalb, weil sie einen verständlichen Horror vor den Alternativen haben: unkontrollierter Zusammenbruch, Marine Le Pen, Geert Wilders oder Heinz-Christian Strache. Die schlimmsten EU-Gegner sind das letzte Argument der EU-Freunde.
Auch die Zeitungen stehen in dämonischer Gebanntheit vor den Populisten. Ihr Erfolg wird als Ausdruck von «Phobien» ins Reich der Gefühle und der Krankheiten abgeschoben. Die Leitartikler von Financial Times, Economist, Tages-Anzeiger oder NZZ repetieren das politische Verunglimpfungsvokabular, das Brüssel verbreitet, um seine politischen Gegner verächtlich zu machen. Man ist Partei im Kampf, den man eigentlich beschreiben sollte.
Nicht die Populisten sind das Problem. Was sich hier abspielt, ist ein Aufstand der Bürger gegen ihre Verächter. Der Urschrei gegen die Elite vollzieht sich je nach nationaler Tradi tion und Not schriller oder gemässigter. Die Schweiz hat diesen Prozess dank ihrer direkten Demokratie schon frühzeitig lanciert. Im Gefängnis der Volksabstimmungen fällt es der Politik naturgemäss schwerer, den Souverän zu knechten.
Ja, dem Aufstand der «Populisten» ging ein «Aufstand der Eliten» voraus. Sie missbrauchen die EU, um ihre eigenen Machtinteressen durchzusetzen. Die neue internationale Elite der Politiker, der Funktionäre, der Beamten und der Manager ist daran, an den gewöhnlichen Leuten vorbei eine Welt zu errichten, in der sich eine wachsende Zahl von Menschen nicht mehr zu Hause fühlt. So einfach ist das.
Barroso ist der typische Repräsentant dieser abgehobenen Elite mit ihrer eigenen, sich selber schmeichelnden Wertehierarchie: Die Barrosos belächeln den normalen Bürger, schauen auf ihn herab, halten ihn für politisch reaktionär, kulturell minderbemittelt, sexuell rückständig, hinterwäldlerisch, frauenfeindlich und rassistisch. Das Vokabular der Ver achtung trifft alle, die anderer Meinung sind. Die Opposition soll auf den Kohlen der poli tischen Korrektheit rösten.
Was wir jetzt zum Glück erleben, ist eine heilsame Retourkutsche der Demokratie. Immer weniger Menschen sind bereit, sich die Anmas sungen ihrer Führungsschichten gefallen zu lassen. Die neue Elite belächelt Patriotismus und Nationalstaat. Sie fühlt sich wohler im grenzenlosen Raum einer multikulturellen Verantwortungslosigkeit, die an allem nippt, aber für nichts geradesteht. Man trifft sich an internationalen Konferenzen, Filmfestivals und Vernissagen. Brüssel ist die Kathedrale ihrer Selbstgefälligkeit.
Im populären Protest vieler «Populisten» gegen die EU spiegelt sich vermutlich mehr klare Vernunft als in den rigiden Ideologien der europäischen Eliten. Tröstlich. Europa wird auch diese EU überleben.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche