Rainer Bonhorst / 30.04.2016 / 09:00 / Foto: jdxyw / 2 / Seite ausdrucken

Es gibt Russland-Versteher und Putin-Versteher. Ein Buch über den Unterschied.

Es gibt Russland-Versteher und Putin-Versteher. Manchmal sind diese Haltungen, wie im Fall Gabriele Krone-Schmalz, deckungsgleich. Es gibt aber auch viele Russlandfreunde, die ausgesprochene Putin-Verächter sind. Sie sagen, wer Russland mag, kann Putin nicht mögen. So einer ist Boris Reitschuster, langjähriger Moskau-Korrespondent des Focus. Er ist der Anti-Krone-Schmalz des deutschen Journalismus. Er hat mehrere Bücher geschrieben, die sich kritisch mit dem System Putin befassen. Sein jüngstes trägt den Titel „Putins verdeckter Krieg“ und meint es auch so.

Ich selbst verstehe trotz einer russischstämmigen Großmutter weder das riesige „Mütterchen“ noch Wladimir Putin. Ich war einmal als Journalist in Russland und fühlte mich dort wie ein Fisch in der Sahara. Ich bewundere vieles an der russischen Kultur, ganz vorn natürlich die Literatur und die Musik, und halte die russische Politik nach Gorbatschow für ein Trauerspiel. Aber eben nur als gelegentlicher Beobachter von außen. Und das alles sage ich nur, damit Sie wissen, dass ich Reitschusters Buch zwar hoch interessant finde, aber nicht wirklich sachkundig beurteilen werde oder möchte.

Auffallende Diskrepanz zwischen der journalistischen Außen- und Innenansicht

Immerhin: Was mir schon früh, als ich noch bei meiner Zeitung aktiv war, aufgefallen ist, war die Diskrepanz zwischen der journalistischen Außenansicht und Innenansicht. Als wir weit vor der Ära Gorbatschow die russische Politik noch sehr kritisch oder wenigstens skeptisch kommentierten, schrieb unser Korrespondent mit großer Wärme über die friedlichen Ambitionen der Kreml-Führung. Als wir daheim in der Redaktion dann von Michail Gorbatschow schwärmten, schrieb unsere Korrespondentin aus Moskau über die Abneigung und die Verachtung, die Gorbatschow als „Verräter“ und „Ausverkäufer“ damals schon in Russland auf sich zog.

Boris Reitschuster war viele Jahre Russland-Korrespondent, nicht, weil er dorthin geschickt wurde, sondern auf eigene Faust und geradezu aus einer Russland-Sehnsucht heraus. Das Putin-Regime, das er schon früh äußerst kritisch kommentierte, wurde dann für ihn immer mehr zum Alptraum und zur Gefahr für seine Familie. Seit mehreren Jahren beobachtet und beschreibt er Russland aus der deutschen Ferne, unterstützt durch gelegentliche Besuche bei seiner enttäuschenden Liebe. Dabei helfen ihm viele Kontakte zu Russen, die sich in Deutschland in Sicherheit gebracht haben, und zu Russen, die in ihrer Heimat als Dissidenten ausharren.

In seinem vorletzten Russland-Buch „Putins Demokratur“ fragte Reitschuster: „Wie gefährlich ist Wladimir Putin?“ Und er gibt eine nicht sehr froh stimmende Antwort. Jetzt wird er noch deutlicher. Er sieht Putin als Feldherr eines verdeckten Krieges, dessen Minimalziel er so beschreibt: „Wie Moskau den Westen destabilisiert“. Damit sei Europa, vor allem die Europäische Union gemeint. Amerika sei nur indirekter Kriegsgegner: Putin gehe es vor allem darum, einen Keil zwischen die beiden westlichen Großbetriebe diesseits und jenseits des Atlantik zu treiben. Er selbst sehe sich als Stratege einer eurasiatischen Großmacht.

Die putinsche Politik als Fortsetzung Stalins

Diese Politik, die Reitschuster als gar nicht neu, sondern als Fortsetzung der Politik Stalins beschreibt, sei seit der Krim-Annektion und der Ukraine-Krise deutlich sichtbar, aber schon viel länger latent gewesen. Was Putin von Stalin unterscheide sei seine kapitalistische, im Zweifel mafiose Ideologie, die nichts mehr mit dem alten Kommunismus zu tun habe. In seiner geopolitischen Expansionslust aber greife Putin die Linie Stalins wieder auf, der unter ihm in Russland wieder neues Ansehen erworben habe. (Dass Putin natürlich weit davon entfernt ist, im stalinschen Ausmaß über Leichen zu gehen, sei hier der Ordnung halber angemerkt.)

Reitschuster berichtet von medialen Verunsicherungs-Kampagnen und von einer Art fünfter Kolonne, die Putin auch in Deutschland etabliert habe; er tadelt die unentschlossene Haltung deutscher Medien und die Schwäche des Westens angesichts einer aggressiven Taktik Putins; und er endet seine sehr entschlossene Betrachtung mit dem Aufruf: „Wehrt euch!“

Eine gelassene und betont objektive Beschreibung des Kreml-Chefs und seiner Politik ist das alles nicht, will es auch nicht sein. Wohl aber ein spannender und herausfordernder Lagebericht eines auch persönlich enttäuschten, aber hervorragend informierten Journalisten. Sollte Gabriele Krone-Schmalz das Buch lesen, so wird ihr wohl das Kurzhaar zu Berge stehen. Wer aber beim Blick auf den persönlichen und politischen Macho Putin ein ungutes Gefühl in der Magengrube bekommt, der findet bei Boris Reitschuster jede Menge Material, sein ungutes Gefühl mit Daten und Fakten aus dem Bereich der Magengrube herauszuheben.

Zu Recht? Als Russland-Nichtversteher bin ich gelegentlich versucht zu sagen: Nun übertreib mal nicht. Aber selbst dann bleibt unterm Strich eine beunruhigende und aufrüttelnde Bilanz des Mannes und der Politik Wladimir Putins.

Boris Reitschuster, Putins verdeckter Krieg, Econ, 335 Seiten

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Arjuna Shiva / 01.05.2016

Um das “System Putin” noch besser zu verstehen, sollte man sich unbedingt auch psychlogisch weiterbilden. Da würde man bald erkennen, dass es nicht ohne den Kontext einer “Primacy” um jeden Preis beanspruchenden “Supermacht” gedacht werden kann. Hier zum Appetit anregen mal was von Wiki, welches zwar scheinbar über individuelle Phänomene spricht, welche aber offensichtlich auch für kollektive Subjekte gelten: “Projektion ... Kombination von innerpsychischen und interpersonellen Vorgängen, bei dem das Gegenüber (unbewusst) so beeinflusst wird, dass es bestimmte Erwartungen erfüllt. Im subjektiven Sinne „negative“ Selbstanteile (in der Regel Aggressionen) werden erst abgespalten, dann auf das Gegenüber projiziert – wenn das Gegenüber sich unbewusst mit den abgespaltenen, projizierten Anteilen identifiziert und so handelt, wie es der Erwartung entspricht (z. B. aggressiv) werden durch diese Externalisierung unangenehmer oder unerträglicher Selbstanteile so innere Konflikte in der Außenwelt inszeniert, um das innerpsychische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, was jedoch die Beziehungen zu anderen stark belasten kann.” (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Abwehrmechanismus) Hoffen wir, dass alle geopolitischen Akteure und Reakteure und ihre Multiplikateure zur Vernunft kommen oder bei selbiger bleiben, bevor es richtig “knallt”.

Wolfgang Richter / 01.05.2016

Putin verstehen und entsprechend mit ihm umgehen oder auch auf ihn eingehen, wäre vielleicht aber eine erfolgreichere Politik Europas, als seine Argumente ständig damit zu bestätigen, daß man Nato-Truppen immer näher ohne Puffer an die russischen Grenzen schiebt. Die letzte Idee, zur Abschreckung Rußlands Bundeswehrsoldaten in Litauen zu stationieren, dürfte der russischen Armee nun nicht vor Angst die Haare zu Berge aufstellen, wird aber auch sicher von Putin entsprechend als Maßnahme des Westens im Rahmen des von diesem gegen Rußland wieder aufgenommenen “Kalten Krieges” medial und argumentativ ausgeschlachtet werden, vor allem im eigenen Land. Und das Patroullieren von US-Kriegsschiffen vor der russischen Ostseeküste als normal, das dortige “Auftauchen” russischer Militätjets als unangemessene Provokation zu beschreien, ist aus meiner Sicht nichts anderes als NATO-Propaganda, sicher nicht zielführend im Sinne einer anzustrebenden besseren Nachbarschaft und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem östlichen Nachbarn der EU. Vielleicht sollte man bei der Bewertung Putins auch ins Kalkül ziehen, daß die allgemeine Bewertung, es könne nicht schlimmer kommen, sich in der Geschichte immer wieder als Trugschluß erwiesen hat. Wer will heute sagen, welche Person oder welche Gruppe nach einem Abgang Putins in Rußland an die Macht kommen könnte, um den von vielen Russen offenbar als nicht hinnehmbar und damit rückgängig zu machenden Verlust an Territorium, wirtschaftlicher und militärischer Macht zu gunsten Rußlands zu korrigieren. Dann wird sich eine amerikanische Panzerbrigade irgendwo in Polen u. ein Trupp Bundeswehr im Baltikum als kaum mehr als eine militärische Fußnote erweisen.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com