Vera Lengsfeld / 07.03.2014 / 21:32 / 0 / Seite ausdrucken

Reise in das Land der Lager

Das gleichnamige Buch von Julius Margolin hat eine außergewöhnliche Geschichte.
Geschrieben wurde es 1946/1947 in Haifa, nach der Rückkehr Margolins aus fünfjähriger Haft im Gulag. Eine vollständige Ausgabe des Buches erschien erst 2010 in Paris. Vorher gab es stark gekürzte Publikationen, die den ganzen ersten Teil und etliche Kapitel aus dem Lager wegließen.

Der Suhrkamp-Verlag hat die zweite vollständige Ausgabe vorgelegt. Damit erreicht das epochale Werk endlich auch bei uns ungekürzt seine Leser.Leider hat es bisher nicht die Beachtung gefunden, die es verdient hätte und die notwendig gewesen wäre. Die Lektüre von Reise in das Land der Lager ist geeignet, Leerstellen in der Geschichte zu füllen.

Es ist die Geschichte von Julius Margolin, seit 1937 Bürger von Palästina, der sich aus beruflichen Gründen in seiner Heimatstadt Lódz aufhält, als die Nazis , abgesichert durch den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, Polen überfallen.

Margolin flüchtet vor den rasch vorrückenden deutschen Truppen bis an die rumänische Grenze, die er aber nicht überschreiten kann. Mitte September gerät er unter sowjetische Herrschaft, als die Rote Armee vereinbarungsgemäß die Hälfte von Polen besetzt. Margolin erlebt, dass die Sowjets anfangs von der Bevölkerung als Retter vor den Nazis begeistert begrüßt werden. Im Laufe des Winters, mit der einsetzenden brutalen Sowjetisierung Ostpolens, schlägt die Begeisterung in Entsetzen um.

Innerhalb eines Vierteljahres wird die polnische Gesellschaft zerstört - ihre Verwaltung, die Bildungseinrichtungen, die Kulturinstitutionen, das politische System. Begleitet wird das von einer systematischen Liquidierung ganzer Bevölkerungsschichten und der polnischen Elite. Im sowjetisch besetzten Ostpolen befinden sich 1939/40 etwa zwei Millionen Juden, davon eine Millionen Flüchtlinge aus dem von den Nazis eroberten Teil des Landes.
Die Repressalien gegen die Juden beginnen mit dem Verbot, Hebräisch an jüdischen Gymnasien zu errichten, dem Verbot jüdischer Organisationen und der Aussiedlung aller städtischen Juden in weit entfernte Dörfer, aus denen vorher die polnischen Bauern vertrieben worden waren.

Im Sommer 1940 wurden alle Juden vor die Wahl gestellt, entweder sowjetische Pässe anzunehmen, oder ins deutsche Besatzungsgebiet auszureisen. Im Anbetracht der erlebten Repressalien, entschieden sich etwa 500 000 Menschen für die Ausreise. Margolin, der einige Freunde zu den bereitstehenden Zügen begleitet, erlebt, dass ein deutscher Offizier, der zum Begleitkommando gehört, kopfschüttelnd fragt, wieso die Menschen unbedingt zurückkehren wollten. Sie müssten doch wissen, dass sie nicht gewollt sind.

Manche der Ausreisenden mögen gehofft haben, über Deutschland weiter nach Westeuropa zu kommen, andere wollten einfach bei ihren Familien sein. Die meisten versetzte die Aussicht, für immer in Stalins Reich bleiben zu müssen, einfach in Panik. Im Juni 1940, kurz vor seiner Verhaftung, nimmt sich Margolin ein Paddelboot und fährt auf eine Insel des Grenzflusses.

„Ich fuhr bis zu einer Sandbank, zog mich aus, legte mich auf den heißen Sand und schaute in den durchsichtigen, klaren Himmel….Das Kanu war die einzige Verbindung zu jener absurden, schrecklichen Welt….Dort die „Geheime Staatspolizei“...hier die „Weise Stalinsche Politik“- und dazwischen ein Mensch…nackt und wehrlos, ohne Rechte, ohne Ausweg, fern der Heimat und von der Außenwelt abgeschnitten, betrogen, in die Enge getrieben und verurteilt, zu sterben.“

Margolin bringt damit das Schicksal von zwei Millionen Menschen auf den Punkt, die in diesem Sommer kaum noch zwei Jahre zu leben hatten. Was hätte sie retten können? Margolin ist sich sicher, nur massenhafter ziviler Ungehorsam. Wenn alle Betroffenen die Annahme sowjetischer Pässe verweigert hätten, wären die Juden hinter den Ural deportiert worden. Dort wären auch viele an den harten Lebensumständen zu Grunde gegangen, aber die Mehrheit hätte überlebt.

Als Margolin von einem seiner Ausflüge zurückkommt, wird er vom NKWD verhaftet. Der Milizionär, der ihn abholte, sagte ihm, es sei nicht nötig, den für diesen Fall gepackten Koffer mitzunehmen, Margolin wäre bald zurück.
Das war eine Lüge.

„Sobald ich die Schwelle des Hauses in der Logizynska- Straße überschritten hatte, war ich kein Mensch mehr. Dieser Übergang kam ohne jede Vorbereitung, so plötzlich, als wäre ich am helllichten Tage in eine tiefe Grube gestürzt…

Unten die Keller, vollgestopft mit zerzausten, verschreckten Menschen- oben saubere, weiße Flure“. Der Gefangene sitzt verdreckt, verlaust, stinkend, einem geschniegelten und gebügelten Vernehmer gegenüber. Ermittelt wird wegen „Passvergehens“. Margolin besitzt immer noch seinen polnischen Pass. Weil er darauf besteht, nach Palästina ausreisen zu dürfen, wird seine Strafe von einem auf vier Jahre erhöht.

Ohne Gerichtsurteil kommt er in den Gulag, erst an den Weismeer- Ostseekanal, später hinter den Ural.
Er überlebt, weil es ihm gelingt, seine Menschlichkeit auch in widrigsten Umständen zu bewahren. Er lässt sich nicht gehen, sondern beobachtet genau, reflektiert, interessiert sich für das Schicksal seiner Mitgefangenen. Wo Margolin hinkommt, sorgt er für die Einhaltung zivilisatorischer Mindeststandards im Umgang der Häftlinge miteinander.

Er registriert noch genau, wann er selbst beginnt abzustürzen, d.h. zu sterben. Sein Leben wird von einem Arzt gerettet, für dessen Freilassung Margolin sich vehement, aber vergeblich, einsetzt, als er selbst entlassen ist.
Margolin besteht darauf, dass sein Werk ebenso wenig anitsowjetische Propaganda ist, wie Harriet Beecher Stowes „Onkel Toms Hütte“ Propaganda gegen die Sklaverei der Südstaaten war.

Es ist die lebendige Schilderung der Realität der Lager, die Zeit seines Lebens nicht aufgehört haben , zu existieren und für deren Verschwinden er bis zu seinem Tod leidenschaftlich gekämpft hat. „Jeder von uns ist verpflichtet, die Wahrheit zu kennen, und wer Anhänger oder Wegbegleiter des Kommunismus ist, sollte erst recht wissen, was hinter den Kulissen des Sowjetsystems vor sich geht.“

Auch wenn das Sowjetsystem inzwischen Vergangenheit ist, bleibt die Aufgabe , sein Bild in der Geschichte der historischen Wahrheit anzupassen. Dafür leistet Margolins Buch einen unverzichtbaren Beitrag.

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