Tamara Wernli / 16.03.2017 / 16:00 / 3 / Seite ausdrucken

Redeverbot statt Argumente

"Wir machen es uns zunehmend bequem in unserer Blase, so dass wir nur noch Informationen akzeptieren, die zu unserer Meinung passt, anstatt dass wir unsere Meinung auf Tatsachen basieren." Barack Obama sprach in seiner Abschiedsrede ein gesellschaftliches Phänomen an: Die einzige Wahrheit ist die subjektive Wahrheit. Meinungen von Andersdenkenden sind unwahr und falsch. Auch in der Schweiz gewinnt man dieser Ego-Theorie immer mehr Vergnügen ab.

An diesem Freitag hätte im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee die Podiumsdiskussion "Die neue Avantgarde" stattfinden sollen. Themen: Populismus und Autoritarismus. Weil die Veranstalter auch Menschen rechts der Mitte eine Plattform geben wollten, luden sie unter anderen AfD-Vordenker Marc Jongen ein. Eine kaum erträgliche Zumutung für hunderte von Kulturschaffenden. Sie forderten in einem offenen Brief, "der AfD keine Bühne zu bieten" und riefen zum Boykott auf. Das Theater sagte den Event ab – aus Sicherheitsgründen und "aufgrund der Hitze der ausgelösten Debatte, in der persönliche Beleidigungen und Erpressung leider nicht gescheut wurden."

Jongen, 48, ist Philosoph, er hat Gedankengänge wie diesen: "Ich möchte nicht, dass das Deutsche verschwindet, weil viel kulturell Wertvolles in dieser Sprache geschrieben und gesagt wurde. Im Moment bewegen wir uns geradewegs auf die kulturelle Selbstabschaffung zu". Oder diesen: "Ich möchte die Demokratie stärken durch mehr Bürgerbeteiligung auf allen politischen Entscheidungsebenen" (NZZ am Sonntag).

Natürlich kann man von Bürgern eines wenig aufgeklärten Landes wie der Schweiz nicht erwarten, dass sie sich eine eigene Meinung machen (Bildungsarmut). Oder zu differenzieren vermögen (kollektive Dummheit). Oder dass sie Informationen überprüfen (Internetzensur). Man darf sich also nicht wundern, wenn die empörten Kulturschaffenden – allesamt im Besitz höherer Bildung, Intelligenz und Internetanschluss – sich gegen die Volksverführung- und Verhetzung durch Andersdenkende einsetzen. Wir sollten ihnen dankbar sein (Ironie: aus).

Mit einem Maulkorb ändert man grundsätzlich nichts

Die AfD ist eine demokratische Partei. Man kann von ihr halten, was man will. Kann ihre Thesen unsinnig und gefährlich finden. Indem man ihren Exponenten einen Maulkorb überstülpt, ändert man grundsätzlich nichts. Sie werden sich dadurch nicht in Luft auflösen – im Gegenteil, man modelliert sie so zu Helden der Redefreiheit. Sie werden ihre Auftritte eben anderswo durchführen und dort vermutlich – anders als im Zürcher Theaterhaus – auf keine Gegenargumente stossen. Verbannung schützt in dem Fall niemanden, sie fördert höchstens Gruppierungen im Untergrund.

Befürworter der Event-Annullierung argumentieren mit der deutschen Geschichte, die zeigen würde, was Extremisten zustande bringen. Dass Andersdenkende zwangsläufig Extremisten sind, war mir so gar nicht bewusst. Das hiesse ja, dass sämtliche deutsche Parteien mit teils extremen Ideologien – wie die Linke, die Grünen, die Piratenpartei oder die Bürger in Wut – von Veranstaltungen ausgeschlossen werden müssten.

Wäre es da nicht gescheiter, mit diesen angeblichen "Extremisten" eine konstruktive Debatte zu führen? Und wäre ein Podium nicht genau der richtige Ort, um ihre "fremdenfeindlichen" Denkweisen aufzuzeigen – und argumentativ zu widerlegen? Aber ja, sich ausschliesslich Schonkost zuzuführen ist einfacher als die Auseinandersetzung mit unliebsamem Gedankengut. So ähnlich hatte das wohl auch Obama gemeint.

Keine Lust zum Lesen? Tamara Wernlis Kolumne gibt es jetzt hier auch als Videobotschaft, man kann ihn auf ihrem youtube Kanal auch abonnieren.

Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst. In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen.

 

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Leserpost

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Bärbel Schneider / 17.03.2017

Der Grund für die Absage ist nicht der “Schutz” der “unbedarften” Bürger vor anderen Meinungen, sondern schlicht Angst. Es soll nicht herauskommen, dass man keine Gegenargumente hat und dass es vernünftige Alternativen zu dem alternativlosen Irrsinn der aktuellen Politik gibt. Natürlich ist das auf die Dauer aussichtlos. Die Wahl in den Niederlanden hat wieder gezeigt, dass der Trend zu Polarisierung und “rechter” Politik geht - langsam, aber stetig.

Gerd Koslowski / 17.03.2017

Guter Anlass, sich mal mit den Veröffentlichungen von Herrn Jongen zu beschäftigen, danke für die Inspiration.

John Farson / 17.03.2017

Der Text ist im kern richtig, verzichtet aber leider auch nicht auf eine Variation des “AfD mit Argumenten entkräften”. Wenn ich das lese, und damit meine ich explizit nicht den Autor, frage ich mich immer, ob den Menschen die Fähigkeit zum Nachdenken abhanden gekommen ist, speziell dem gemeinen Wähler an sich. Alles was der, wie er damals noch hieß, “Stammtisch” (heute Rechtspopulist) vorausgesagt hat, ist mehr oder weniger eingetreten. All die Debatten, die er schon damals anstoßen wollte, werden nun diskutiert bzw. die entstandenen Probleme versucht in den Griff zu bekommen. Trotzdem wird immer noch behauptet, all das wäre ja nur Angstmacherei und leeres Geschwätz. Irgendwie ist es auch urkomisch und ziemlich beängstigend, dass man jetzt schon weiß, dass auch die anderen “Vorhersagen” eintreffen werden. Mir graut schon davor. Aber der gemeine Wähler dackelt halt weiter Merkel und Schulz nach, oder den Grünen, so er gut betucht ist und ist völlig überrascht, von den Ereignissen, die andere schon Jahre im Voraus erkannt haben. Die Themen, die heute noch verlacht und abgekanzelt werden, werden uns in wenigen Monaten/Jahren beschäftigen. Aber dann wird sich wieder ein Erklärbär ala Merkel finden, der dem Michel erklärt, warum das alles mit nichts zu tun hat. Und die werden dann dieselben Maßnahmen light einleiten, die andere schon viel eher vorgeschlagen haben. Es ist so ermüdend.

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