Beim Ringen um die vorderen Plätze im Dämlichkeitswettbewerb des Jahres 2016 liegen für mich zwei Begriffe vorne. Da wäre erstens das vom Wichtigtuerverein „Gesellschaft für deutsche Sprache“ zum Wort des Jahres gekürte „postfaktisch“. Die Behauptung, Teile der Gesellschaft orientierten sich nicht mehr an Tatsachen, sondern an Gefühlen, Vorurteilen und Ressentiments, verdankt sich den herben Niederlagen, die das Juste Milieu letzthin einstecken musste. Ob beim Brexit, der US-Wahl oder dem Abschneiden der AfD in Länderparlamenten, jedes Mal hatten „Spiegel“, „Zeit“, „SZ“ und die Öffis sich einen Wolf gewarnt & gemahnt. Und stets kam es anders, als sie es herbeigeschrieben haben wollten.
Nun erklären Verlierer gewöhnlich – zum Beispiel nach Wahlen – mit gusseiserner Routine, sie hätten die Erfolge ihres segensreichen Tuns „den Menschen“ wohl nicht richtig verklickert. Auf diese Weise bleiben Brücken offen. Neu ist, dass die narzisstisch schwer gekränkten Leberwürste der Wahrheitsmedien nicht mal mehr so tun, als seien gewisse Dinge von ihnen nicht gut genug „kommuniziert“ worden.
Nein, sie erklären jetzt die hartleibigen Empfänger ihrer Botschaften für schlicht zu blöde. Diese hätten sich von unleugbaren Fakten ab- und der eigenen Gefühlssoße zugewandt. Der amerikanische Autor, der den Begriff postfaktisch geprägt hat , spricht sogar von „post-truth“, nachwahrheitlich. Ulkig, beziehen sich doch die Anwürfe „Lügenpresse“ oder „Lückenpresse“ auf einen nicht selten recht freihändigen, faktenmäßig durchaus zweifelhaften Umgang der Mainstreammedien mit so genannten Wahrheiten. Das Ergebnis könnte man ebenfalls postfaktisch nennen. Oder präfaktisch?
Fakten sind sowieso lästig, Visionen viel schöner
Kurze Rückblende. Dass die DDR schon 1986 faktisch am Ende war, war unter Ökonomen nicht gerade ein Geheimnis. Just in diesem Jahr machte sich eine Delegation von Zeit-Häuptlingen, eingeladen von Erich Honecker, zur „Reise ins andere Deutschland“ auf und schrieb das Pleiteregime in einer mehrteiligen Zeit-Serie schön („Tief beeindruckt über den zweiten deutschen Staat“, „souveräner und gelassener, als wir ihn uns vorgestellt haben“ usw.).
Als Fidel Castro im November 2016 verschied, hinterließ auch dieser de facto-Diktator ein komplett ruiniertes Land. Viele Medien (Ausnahme: die „FAZ“) riefen dem größenwahnsinnigen Maximo Líder – neben einigen pflichtschuldigen Kritteleien über Menschenrechtsverletzungen und Gedöns – jede Menge warme Worte hinterher. Fabulierten von einem phantastischen Gesundheits- und Erziehungssystem, mit dem es faktisch nicht gar so weit her ist, nie besonders weit her war.
Fakten sind sowieso lästig, Visionen viel schöner. Die in deutschen Medien fast unisono hochgejazzte „Arabellion“, vor deren verheerend destabilisierenden Folgen zum Beispiel israelische Nahost-Experten früh gewarnt hatten, ist ein hübsches Beispiel für Wishful thinking, das sich als Tatsachenverbreitung tarnt. Paar Bilder von jungen Leuten, die auf einem Kairoer Platz mit Smartphones fuchteln, und fertig ist die Erzählung von der großen ägyptischen Nation, welche es inniglich nach Freiheit und Demokratie dürstet. Jetzt herrscht in puncto Ägypten betretenes Schweigen im Blätterwald. Und klammheimliche Erleichterung darüber, dass wieder die harten Hunde vom Militär am Ruder stehen. Ein weiteres Syrien will keiner.
Diese holzschnittartige, zeitweise fast propagandistische Darstellung der Vorgänge auf dem Majdan, für die besonders die Öffentlich-Rechtlichen reichlich Prügel der Zuschauer einstecken mussten, was war die denn anderes als, nun ja - postfaktisch? Das Ausblenden der Interessen des Westens im Ukraine-Konflikt, das weitgehende Beschweigen der Umtriebe rechtsnationaler und faschistischer Kräfte in der Ukraine - sehen so Fakten aus, als deren Treuhänder sich die Medien gerieren? Warum geht es Großbritanniens Wirtschaft trotz Brexit gar nicht schlecht, obwohl sie nach den Tatarenmeldungen der Faktenritter längst zusammengebrochen sein müsste?
Das Leserforum als Trost des Zweifelnden
Und warum, bitte, existiert unser Planet überhaupt noch? Wenn er doch nach Darstellung des legendär bekloppten Spiegel-Titels 46/2016 (bestverkaufte Auflage seit 67 Heften, als Sammlerstück in der Kategorie unerreichte Peinlichkeit heiß begehrt) längst beim Aufprall des zähnefletschenden Kometen Trump in Stücke gerissen sein müsste?
Kürzlich meldete die Zeit unter Berufung auf eine Umfrage des Forsa-Instituts für den „Stern“: „Mehrheit sieht keine Schuld bei Merkel für Terroranschlag“. Was daraufhin im Leserforum abging (492 Kommentare), berechtigte zu Hoffnungen auf eine wenigstens in Teilen hirngesunde Zeit-Leserschaft, die sich nicht länger jeden Umfragemüll klaglos servieren lässt. Einige Foristen besaßen sogar eine erstaunlich realistische Vorstellung davon, was von Umfragen – speziell solchen aus dem Hause Forsa – zu halten ist.
Das Geschnatter über „postfaktischen Wahrnehmung“ als dumpfbackige Verweigerungshaltung deutscher Reaktionäre, in Redaktionskonferenzen längst ein Mitquassel-Muss, heißt im Klartext: Es gibt da draußen ein paar Querulanten, die leider immer mehr werden. Sie weisen frech unsere Nachrichtenmenüs zurück, beäugen unsere Kommentare mit Argwohn, recherchieren schon mal selber in auswärtigen Medien und haben sich sogar eigene Gedanken zugelegt. Verdammter Mist!
Mein zweiter Kandidat für das semantische Doofheitssiegertreppchen heißt Filterblase. Der Begriff, schwer en vogue, stammt ebenfalls aus dem Repertoire des gebeutelten Juste Milieu. Weismachen möchte er, Internetnutzern würden über algorithmische Prozesse überwiegend nur jene Informationen zugespielt, die ihre eigenen Präferenzen abbilden, sie damit von anderen – natürlich besseren, klügeren - Sichtweisen abschneidend. So sei beispielsweise die „neue Wut- und Hasskultur“ entstanden. Selbstredend hocken in der Filter bubble vorzugsweise „Rechte“, glauben die Erfinder der Blasentheorie – Linke sind ja immer scheunentorweit offen für alles.
Der Medienkonsument an und für sich ist eine einzige Blase
Das Konstrukt wackelt allerdings schon auf den ersten Blick. Denn selbstverständlich, betrachtet man nur die (west)deutsche Nachkriegsmediengeschichte, versorgten sich weltanschauliche Kohorten schon immer vorzugsweise mit Informationen und Meinungen, die ihr eigenes Spektrum lieferte. Also, Apo-Studenten konnte man selten bei der Lektüre von „Welt“, „Bild“ oder „Bayernkurier“ ertappen; Strauß-Fans verschlangen weder „konkret“ noch den „Vorwärts“. Die „Frankfurter Rundschau“ besaß während der Ära Brandt praktisch die Informations- und Deutungshoheit über die linksliberale Szene, zusammen mit Spiegel, Zeit oder „Panorama“. Das funktionierte – Überraschung! – gänzlich ohne Internet.
Und heute? Der Abonnent der Pantl-Prawda, der auch regelmäßig die „Junge Freiheit“ liest, muss wohl noch geboren werden. Im Haushalt eines Pazifisten liegt eher nicht das „Deutsche Waffen Journal“ aus. Tierschützer halten Abstand zu „Wild und Hund“, Veganer goutieren selten die Covers von „Beef!“ Ach, der Medienkonsument an und für sich! Eine einzige Blase.
In Berlin erscheint seit 1978 ein Blatt, welches das Gefilterte und das Postfaktische kongenial vereint. Über 16.000 Genoss_innen alimentieren mit kleinen und größeren Obolussen die „taz“, welche ihnen die Weltläufte Tag für Tag in eine wahrnehmungsaffine Form töpfert. Fakten sind für die taz eine geschmeidige Masse, für jeden Anlass beliebig knetbar.
Zünden Flüchtlinge in Berlin einen Obdachlosen an, macht die taz ihren Kommentar dazu mit dem zehn Jahre zurückliegenden Fall eines Obdachlosen im bayrischen Plattling auf, der von einem Neonazi beraubt und getötet wurde. „Für die Bewertung ihrer Tat“ sei es „völlig irrelevant“, dass die Täter Flüchtlinge waren, glaubt die taz. Erwähnt aber wenig später, dass der Mörder von Plattling ein Neonazi gewesen sei. Dass dessen „ausländerfeindliche Gesinnung“ laut Gerichtsurteil „nicht das führende Motiv für die Tat war“, lässt sie diskret unter den Schreibtisch trudeln.
So geht postfaktische Wahrnehmung heute. Kaum anzunehmen, dass die Blase mal platzt.